

Aus dem Tagebuch Frank Weghardts:
(undatierter Eintrag zwischen November 1956 und Mai 1959)
Ich hackte also tagelang an den Wurzeln des abgesägten Baums herum und Friedrich hatte aus seiner Fabrik, die er mir gegenüber als Kombinat bezeichnete, eine Filmkamera besorgt. Sowas hatten die, obwohl ansonsten ganz andere, wichtigere Dinge fehlten. Aber die Filmkamera war ja auch ziemlich unpraktisch. Auf eine Filmrolle passten nur drei Minuten Film und ich hackte ja stundenlang. Darum sagte Friedrich, er drückt immer nur kurz auf den Auslöser, genau dann, wenn ich zuschlage, also nur im entscheidenden Sekundenbruchteil. Er könne das ja gut sehen, weil ich weit ausholte. Und er drückt genau dann auf den Knopf, wenn die Axt nach unten saust. Und lässt dann sofort wieder los.
Das wichtigste am Hacken, nämlich der Einschlag der Axt auf das Holz, sei dann im Bild zu sehen, alles andere nicht. Da ich mich bemühte, genau in einem gleichmäßigen Takt zuzuschlagen, glaubte er, dass ihm die Aufnahmen ganz gut gelingen könnten. Da hatte er sich allerdings geirrt, und zwar dramatisch.
Als die erste Rolle Filmmaterial aus dem Labor zurückkam, und wir in die Bezirksstadt fuhren, um das entwickelte Material im Filmzirkel seines Kombinats anzuschauen, stellten wir fest, dass die Axt so gut wie gar nicht zu sehen war. Kein Zuschlagen oder Späne fliegen. Nur manchmal sah man sie, aber nicht im Moment des Hiebes. Friedrich war sehr enttäuscht. Ich glaube, er hatte mir mit seiner volkseigenen Filmtechnik imponieren wollen, und das hatte nun überhaupt nicht geklappt. Dann kam sein Kollege, ein Technik-Fachmann, und der konnte uns nun erklären, was überhaupt schief gegangen war. Denn der Kollege wusste, dass die von uns verwendete Kamera wegen eines trägen Relais beim Einschalten eine Verzögerung von etwas mehr als einer halben Sekunde aufweisen würde. Beim Ausschalten ebenfalls. Da hatte also Friedrich hunderte von Axthieben jeweils ganz knapp verpasst und immer nur den Moment zwischen zwei Schlägen gefilmt. Mich erheiterte diese Ironie des Schicksals. Er wollte sich das Beste rauspicken und erwischte gar nichts. Diese Einsicht behielt ich jedoch für mich. Vielmehr tröstete ihn so gut es ging. Der Technik versierte Kollege führte uns dann in eine Abstellkammer, wo er sich geheimnisvoll und konspirativ gebärdete. Nach einer unverständlichen Vorrede zeigte er uns eine Filmkamera aus Westdeutschland, von der Friedrich gar nichts wußte, eine ARRI ST 16, hergestellt in München, wo ich ja selbst eine Weile lang gewohnt hatte. Mit der Westkamera würde so ein Schlamassel nicht passieren, da gäbe es keine Verzögerung beim Auslösen, erklärte uns der Kollege und drängte uns die Kamera förmlich auf. Mein Freund Friedrich war etwas beschämt und verunsichert, ob er die Kamera zu nehmen solle, vielleicht war es bei den Kommunisten ja schon eine Provokation, wenn man etwas besser funktionierendes, als die volkseigenen Geräte benutzte. Und die Tatsache, dass der Kollege das wertvolle Gerät in der hintersten Kammer versteckt hatte, machte alles sehr verdächtig. Aber letztendlich packten wir die Kamera ein und fuhren mit ihr und einer weiteren Rolle Film nach Lieberose zurück. Es gibt noch genügend Wurzelwerk, um die Filmaufnahmen fortzusetzen, ob der zweite Versuch klappen wird ist ungewiss. Ob ich die Aufnahmen überhaupt zu sehen bekommen ist ebenfalls fragwürdig, da meine Abreise inzwischen bevorsteht, und die Entwicklung der Filmaufnahmen einige Wochen dauert. Die Blase an der linken Hand ist inzwischen fast vollständig verheilt, ich werde also gleich loslegen, den Götter-Todes-Baum seiner schmerzhaften Wurzelbehandlung zu unterziehen.
Tagebuch, Frühjahr 1962, Donnerstag:
Hier lag monatelang dieser Film herum, den mir Friedrich aus der Zone geschickt hatte. Das war sehr nett von ihm, und, so wie ich die schikanösen Verhältnisse in diesem Teil Deutschlands kennen gelernt hatte, bestimmt mit einigen Umständen verbunden gewesen. Aber trotzdem habe ich ja gar kein Abspielgerät und kenne niemanden, der so etwas besitzt. Es war blinde Panik von mir gewesen, als ich den Brief schrieb. Irgendjemand hatte das Gerücht verbreitet, die Zonengrenze solle dicht gemacht werden. Da fielen mir meine schönen Kunstwerke ein, die ich doch holen wollte, aber die Reise erschien mir inzwischen zu weit und zu gefährlich. Außerdem hatten wir noch einen Holzofen zuhause. Die Gefahr, meine Frau würde im Winter mein bildhauerisches Werk zum Heizen nutzen, war eine ebenso reale Bedrohung, wie die vielen Schikanen, die die Sozialisten für Gäste aus der freien Welt bereithielten. Weil mich diese Bedrohungen in innere Aufwallung brachten, fixierten sich damals meine Gedanken auf den Film, der nun ganz nutzlos 6 Monate hier auf der Kommode lag. Dann brachte meine Frau plötzlich diesen jungen Mann mit, der angeblich Techniker beim Fernsehen sein sollte. Filme anschauen, das ginge bei ihm angeblich ganz gut, und auch der Ton, sofern es Ton gäbe…, aber da sei ja gar keine Tonspur drauf, sagte er während er prüfend ein paar Meter des Films abrollte. Kein Ton antwortete ich, das ist ja ganz blöde, dabei habe ich doch so richtig draufgeklopft. Wir können einen Ton hinzufügen, erklärte mir der junge Mann, das geht! Er betonte das so, als würde ich glauben, sowas ginge gar nicht, aber dass die beim Fernsehen das hinkriegen, daran zweifelt ich nicht.
Mittwoch:
Bereits in der Ostzone bei Friedrich und seinem Kollegen hatte ich mich nicht des Eindrucks erwehren können, dass die beiden die Kameras vor allem auspackten, um ihre Mitmenschen zu beeindrucken. Aber als Joachim (so hieß der junge Mann vom Fernsehen) loslegte, war das ja noch viel schlimmer. Nunächst kreuzte er mit einem batteriegetriebenen Tonband inklusive riesiger Tonangel auf, damit wir in meinem Garten Axtschläge auf Magnetband aufzeichneten. Mit spitzen Fingern und aufgerissenen Augen drehte er an den Knöpfen und Reglern. Ich musste die Axt bedienen, machte mir aber einen Spaß daraus, beim Ausholen mit der Axt in die Nähe seiner wichtigen Gerätschaften zu kommen, was er jedes Mal mit einer Angeber-Bemerkung kommentierte, wie zum Beispiel: Vorsicht, die Nagra ist teurer als dein Auto, die darf nicht kaputt gehen. Nagra war das Fabrikat des Tonbandgerätes, mit dem er dann, nachdem er eine halbe Stunde herumgeregelt hatte, läppische zehn oder zwanzig Schläge aufnahm. Denn als wir zwei Tage später in einem Schnittraum saßen, zeigte er mir, wie ich an dem sogenannten Schneidetisch das Bild und den Ton zusammenfügen konnte. Die paar Axtschläge, die er mir auf einem perforierten Magnetband gab, waren nach fünf Minuten alle und ich sagte: Ich brauche noch mehr. Daraufhin kopierte er erneut ein paar Axthiebe und das genügte wieder nur wenige Minuten, denn in seiner Fixierung auf die teuren Tontechnikgeräte hatte er noch gar nicht zur Kenntnis genommen, dass in meinem Film hunderte von Axtschlägen in kürzester Zeit aufeinanderfolgen. Er kam immer nur mit der Kopie der zehn oder zwanzig Originalschläge, bis ich ihm sagte, er solle doch lieber die zusammengeschnittenen Schläge kopieren, diese zusammenschneiden und die zusammengeschnittenen nochmals kopieren, also immer wieder verdoppeln. So viel, stöhnte er, und ich antwortete: Wenn es ein paar zu viel sind, macht das gar nichts. Wir sind doch hier im Westen, und wenn wir sogar in der Ostzone soviel Axtschläge gefilmt hätten, dann solle er sich doch bitte nicht lumpen lassen und zeigen, dass er den Axtschlagton im Überfluss kopieren könne. Das spornte ihn an, und ab dem Moment kopierte und kopierte er, während ich schnitt und schnitt, und schließlich lagen tatsächlich auch die Töne in ausreichender Menge vor. Damit man sie überhaupt noch unterbringen konnte, legte ich zusätzliche Tonspuren an. Wir kopierten und schnitten die ganze Nacht, so dass schliesslich der totale Überfluss an Hackgeräuschen herrschte. Zum Dank bestaunte ich die vielen riesigen Tonabspielgeräte, die Joachim voller Stolz benutzte, um die verschiedenen Kopien synchron übereinanderzulegen. Ich wollte es ja unsynchron, aber das traute er sich nicht, weil man ihm immer nur beigebracht hatte, wie Töne zu synchronisieren seien. Ich sabotierte seine Bemühungen, in dem ich das perforierte Magnettonband hinter seinem Rücken knickte, und den Knick mit Klebeband fixierte. Die vielen übereinandergelegten, synchronen Spuren liefen deshalb im Lauf des Films auseinander. Mir gefiel es gut, wie Hall und Echo entstanden und immer mehr zusammenwuchsen. Joachim hätte am liebsten von vorne begonnen, denn er hielt das alles für einen technische Fehler. Aber das ging nicht, denn es dämmerte bereits. Gleich würden die Cutter von der Tagschicht kommen und uns vertreiben.
Leider lag der Film, nachdem er nun endlich fertig gestellt war, wieder zuhause auf der Kommode und ich konnte ihn immer noch nicht abspielen. Aber jetzt habe ich gehört, dass man so einen kurzen Film auf ein Filmfestival schicken kann. Das werde ich wohl tun. Dann ist er endlich weg.
Mr. Boredom hat bereits in seinem Blog auf die Weber & Schuster-Vinyl-EP von 1990 hingewiesen. Deshalb hier nur der Link. Bitte Beachten, dass auf der folgenden Bog-Seite von Mr. Boredom unter dem Schlagwort „Frank Weghardt“ der Lebenslauf (Stand 1990) des Künstlers zu finden ist.
Frank Weghardt, der zeitlebens ein eher unauffälliges Leben in bürgerlicher Idylle verbrachte, gilt inzwischen als einer der ganz großen Visionäre und Konzeptkünstler des 20 Jahrhunderts. Zwar hatte die Weghardt-Forschung bereits zur Jahrtausendwende Hinweise darauf, dass es auch ein bildhauerisches Werk des Avantgardisten geben sollte, doch erst im Jahr 2014 wurde dieses Werk gefunden: Abseits aller kulturellen und pseudo-kulturellen Zentren des Kunstbetriebes lagerte es in 14 Holztruhen mit der Beschriftung „Götter-Tod-Baum“ in einer Abstellkammer. Der Computertechniker Mattes Wolf fand den Kunstschatz als er in diesem Raum einen Server installieren wollte.
Die Zuordnung des Werkes in das Schaffen von Frank Weghardt steht zweifelsfrei fest, da verschiedene Notizen und ein ausführlicher Brief Weghardts den Kisten beilagen. Gemeinsam mit bereits bekannten Tagebucheintragungen können die Hintergründe des Werkes, die künstlerische Intentionen und der Schaffensprozess erschlossen werden.
Weghardt war vor dem Mauerbau in die sowjetische Besatzungszone gereist, um dort nach Hinterlassenschaften seiner Mutter zu suchen. Die Mutter hatte das ausgebombte Berlin bereits 1944 verlassen und war bei dem ihr bekannten Schlossverwalter und Hausmeister Friedrich Böhm auf dem Land untergekommen. Inwieweit diese Beziehung auch sexueller Natur war, ist nicht geklärt, da Weghardts Mutter noch vor dem Ende des Kriegs verstarb. Frank Weghardt selbst kehrte erst 1947 aus der Kriegsgefangenschaft zurück und lebte danach in Ödheim am Rhein. Woher er von dem Aufenthalt seiner Mutter in Lieberose wusste, und was ihn schließlich dazu bewegte im Sommer 58 oder 59 in die Lausitz zu fahren, ist nicht bekannt. Aber dort schuf er vor Ort den Zyklus „Götter Tod Baum“, ein Titel der sowohl die Traumata des Krieges, als auch den verordneten Atheismus der frühen DDR verarbeitet. Es handelt sich um ca. 40 Holzskulpturen aus Wurzelholz des Götterbaums, in verschiedenen Größen, die ihre expressive Ausdrucksstärke aus der reduzierten Bearbeitungstiefe schöpfen. Der Götterbaum ist eine schnell wachsende invasive Pflanze, die aus dem Asiatischen raum stammt.
Da Weghardt mit dem Zug zurückreiste, blieb der gesamte Werkzyklus beschriftet und sortiert in Lieberose zurück. Wie aus dem jetzt gefundenen Brief an Friedrich Böhm zu entnehmen ist, verzichtete Weghardt entgegen seiner ursprünglichen Absicht darauf die Kunstwerke im folgenden Sommer mit dem Lieferwagen abzuholen. Er begründet es mit den Schwierigkeiten, die eine Reise in die DDR mit sich bringen würde. Unter anderen hatte Weghardt bereits bei der Rückreise aus Lieberose verschiedene Schikanen der Behörden erdulden müssen, und deshalb schreckte er vor einer langen Autoreise zurück. Er bat stattdessen den Hausmeister, die Kunstwerke aufzubewahren. Darüberhinaus erkundigte es sich nach einem Film, der die Herstellung der Werke dokumentiert und erbittet sich eine Kopie. Es anzunehmen, dass Weghardt daraufhin das unvertonte Original des Filmes geschickt bekam, und es mit einer Klangcollage vollendete. 1961 lief das Werk auf den Kurzfilmtagen Oberhausen unter dem Titel „Götter Baum Wurzelbehandlung (schmerzhaft)“.
Erst jetzt, da die Skulpturen gefunden wurden, schließt sich der Kreis zwischen filmischem und bildhauerischem Werk Frank Weghardts. Der Kontext lässt leicht erkennen, dass er bereits in den späten 50 Jahren eine quasi post-globalisierte Weltsicht gefunden hatte. Seine ökologisch nachvollziehbaren Bemerkungen, dass der Götterbaum in der Niederlausitz als „elender Eindringling“ von ihm höchstpersönlich „abserviert, filetiert und Kunst-Konserviert“ werden solle, hätte im dogmatischen Antifaschismus der DDR womöglich offizielle Empörung hervorgerufen. Provokativ schreibt Weghardt in seinem Brief an Friedrich Böhm: „Der Götterbaum und der Sozialismus wären nie Freunde geworden, da habe ich ihn sogleich herausgehackt, und schon hatten sie alle nichts mehr zu lachen, SIE, in ihrer provinziellen Gurken-Republik“.
Doch jetzt kann man wieder lachen. Und kaufen. Alle Werke des Zyklus „Götter-Tod-Baum“ werden durch MultiPOP-Produktion vertrieben, beziehungsweise für Ausstellungsbeteiligungen zur Verfügung gestellt.
Der dazugehörige Film von Friedrich Böhm konnte digital abgetastet und neu gemastert werden. Er ist unter http://vimeo.com/91393467 verfügbar.