Teil 1 ____ Teil 3____ Teil 4_____ Teil 5
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Obwohl sie ihre nihilistische Weltanschauung plakativ zur Schau trug, war Tina fast immer gut gelaunt. Oft genug nutzte ich das aus. Wenn ich selbst Aufmunterung brauchte, schilderte ich ihr ausgiebig mein Leid an der Welt und ließ mich bevorzugt dann blicken, wenn mir andere, vermeintlich begehrenswertere Frauen die kalte Schulter zeigten. Dass auch Tina mit einigen persönlichen Problemen kämpfte, die ihr das Leben schwer machten, ignorierte ich meist einfach. „Was ich nicht bemerke, gibt es nicht!“ war einer der coolen Sprüche, die Martin in der „Rückbesinnung“ so schön arrogant aussprach. Eine Textzeile, die ich mir zwar ausgedacht, aber nicht ausgesprochen hatte, schon gar nicht mit dieser Überheblichkeit. Nichtsdestotrotz hatte ich meinen Weg gefunden, diesem Satz Gehör zu verschaffen, hatte den Schauspieler zum Sprachrohr und den Film zum Medium gemacht, mich dadurch der Verbindlichkeit sozialer Umgangsformen und der Höflichkeit entbunden und dann die banale Aussage getroffen, dass ich mich für die Probleme anderer Leute wenig interessierte. Für die Probleme Einzelner. Aber als sozial verbindendes Element sind Probleme sehr interessant und schienen mir außerordentlich wichtig als künstlerisches Motiv. Damit bekannte ich mich quasi zu meiner eigenen Gefühlskälte und bedauerte gleichzeitig die Gefühlskälte als gesellschaftliches Phänomen. So stand ich viel besser da, als wenn ich einfach Mitgefühl praktiziert hätte. Dieser Strategie bedienten sich auch andere Menschen, die Methode fiel mir bei Künstlern, Politikern oder Talkshowgästen oft genug auf.
Aber Tina gegenüber konnte ich mich nicht rauswinden. Ich war blauäugig und spontan bei ihr eingezogen und entgegen meiner Erwartungen war sie ausgesprochen schwermütig. Kein Wunder, sie hatte gerade ihr Studium hingeschmissen, oder vielmehr war sie geschmissen worden, weil sie das Chemie-Vordiplom zum dritten Mal nicht bestanden hatte. Ihr Freund, von dem sie dachte, dass sie es mit ihm länger aushalten könnte als mit seinen Vorgängern, war mit einer dummen Tussi durchgebrannt. Die dumme Tussi sah allerdings ziemlich gut aus und war gar nicht dumm. Das wusste ich, weil ich auch schon mal versucht hatte, sie näher kennenzulernen, doch es war bei einigen anregenden Gesprächen geblieben. Aber das verschwieg ich gegenüber Tina. Wir waren ja inzwischen auf einem anderen Planeten. Wir saßen in diesem kleinen Bauernhof in einem kleinen Dorf, 100 Kilometer von unserer Universitätsstadt entfernt, aber nur 15 Minuten mit dem Fahrrad in die Kleinstadt, in der sowohl Tina als auch ich zur Schule gegangen waren und wo meine Eltern wohnten. Tinas Eltern waren ein paar Jahre zuvor in die Landeshauptstadt gezogen, wo Tina nie hinwollte. Der Bauernhof, den wir immer nur altmodisch als „das Gehöft“ bezeichneten, gehörte früher ihrem Opa, einem Kleinbauern, der längst aufgegeben hatte, aber das Haus war in Schuss, der Opa tot. Die Erbengemeinschaft aus Onkeln und Tanten fand keinen Käufer, deshalb waren sie froh, dass Tina für eine symbolische Miete die Bude bewachte. Man hätte problemlos zu fünft oder sechst dort wohnen können, aber wir waren die ersten und einzigen, die sich das zutrauten. Oder lag es daran, dass wir uns NICHTS zutrauten? Das Ingenieurstudium hatte mir keineswegs das Gefühl vermittelt, irgendeine Art von Kompetenz erworben zu haben, Tina war sowieso frustriert. Trotzdem redeten wir immer davon, dass wir auf unserem Gehöft das Abenteuer suchten, das Wagnis der Abgeschiedenheit eingehen wollten, die spannende Erfahrung der Selbstfindung beginnen würden. Manchmal formulierten wir es ironisch, manchmal ernst, aber wir gaben nie zu, dass man es auch als Rückzug oder Verzagtheit interpretieren konnte. Vielleicht waren wir uns dessen gar nicht bewusst. Vielleicht verdrängten wir es geschickt durch unsere Kulturambitionen.
Schon am ersten Abend, als ich Tina besuchte, um mir das Gehöft mal anzusehen, stolperte ich beim Eintreten über einen Gitarrenkoffer, der zu Hans gehörte, der trotz seiner langen Zottelhaare von sich behauptete, früher Punk gewesen zu sein und jetzt eine Band gegründet hatte, mit der er unbedingt in der Scheune auftreten wollte. Wenn ich dann auch noch ein Video von diesem Auftritt aufnehmen würde, dann sei das eine wundersame Fügung, wie wir alle so zwanglos zueinander gefunden hätten. Wir gingen in die Scheune, wo der Gitarrist ins Gebälk kletterte und uns von oben ein Lied vorspielte, während wir die alten Fahrräder, Zinkbadewannen, Ölkanister und den sonstigen angesammelten Sperrmüll des Großvaters untersuchten. Der Gitarrist sang davon, wie wir die Welt besser und friedlicher machen könnten, während wir rätselten, ob die Waschmaschine, die von dem sonstigen Kram fast vollständig bedeckt war, noch funktionieren würde. Die Zeit sei jetzt reif, wir bräuchten neue Ziele. Hatte das Bob Dylan nicht 25 Jahre vorher auch schon mal so ähnlich formuliert? Das dialektbehaftete deutsche Gesinge in der Scheune erschien mir zunächst unbeholfen, aber als ich den Kopf in den Nacken legte und den Gitarristen über mir auf dem Balken sitzen sah, da erregte es mich und ich fand es plötzlich beeindruckend. Dieser einfache Klang der akustischen Gitarre und vermeintlich tiefsinnige Wortkombinationen aus bedeutungsschwangeren Begriffen wie Zeit, Ende, Frieden und Veränderung jagten mir einen Schauer über den Rücken. Ich war nahe dran zu weinen, mir schien, als sei gerade wirklich ein bedeutender Moment. Vielleicht war es nur der emotional sehr wirksame Wechsel zwischen C-Dur und A-Moll, der mich so beeindruckte? Oder der Blick von unten auf das kräftige Profil der Wanderstiefel des Gitarristen? Die Wanderstiefel weckten in mir Assoziationen an den sprichwörtlichen langen Marsch bis zum Erreichen einer schönen neuen Welt und es versetzte mich in eine Mischung aus Melancholie und Optimismus. Wider besseren Wissens durchströmte mich die Idee, dass Künstler soziale Partisanen seien, die die Gesellschaft voranbringen und den Anstoß zu Erneuerung geben könnten, speziell, wenn sie Schuhwerk mit ordentlichen Sohlen trugen. Vermutlich war es meine spießbürgerliche Erziehung, die mir unterbewusst einflüsterte: Wer etwas erreichen will muss hart arbeiten, und zum harten arbeiten braucht man feste Schuhe. Dabei ließe sich der Kapitalismus vielleicht viel besser bekämpfen, wenn man nichts tat, Leistungsverweigerung, Konsumverzicht, Rückzug aufs Land, Beschränkung auf selbstbestimmte Arbeitsverhältnisse. Tina hatte die Waschmaschine inzwischen so weit untersucht, dass sie mir unbedingt zeigen wollte, warum sie nicht funktionieren könne und riss mich dadurch aus meiner ausschweifenden Betrachtung der Wanderstiefelschuhsohlen. Abgerissene Schläuche, ein fehlender Motor, da gab es keinen Grund zu zögern, ich musste Tina sofort helfen, die Maschine raus zu schleppen, damit sie der Entrümpelung zugeführt werden könnte. Gitarren-Hans verhedderte sich unterdessen in seinen Akkorden und brach das Lied mitten in einer der vielen Strophen ab.
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Als ich zwei Wochen später mit dem Auto meiner Eltern auf den Hof fahren wollte, stand die Waschmaschine noch an genau derselben Stelle. Dabei hatte Tina bei meiner Abfahrt euphorisch davon geredet, dass sie den ganzen Müll sofort wegbringen wolle, damit wir möglichst umgehend die Umgestaltung der Scheune zum Kulturzentrum beginnen könnten. Die Motivation war offensichtlich ganz schnell in Depression umgeschlagen. Inwieweit der Gitarrist mit den schweren Wanderstiefeln zu ihrer schlechten Laune beigetragen hatte, verriet sie mir erst im Lauf des Abends unter dem fortschreitenden Einfluss von Alkohol und THC.
Der gleiche Alkohol sorgte allerdings auch dafür, dass ich mir das meiste, was sie über Hans erzählte, nicht merken konnte. Dabei ging es gar nicht um die Verletzung ihrer weiblichen Gefühle, zumindest nicht primär, sondern um eine Schallplatte, die Tina sehr am Herzen lag, und Hans hätte sie zu entwenden beabsichtigt, was er als Ausleihen bezeichnete, und er konnte zudem nicht erklären, wieso ein entfernter Bekannter von Tina den Eindruck gehabt habe, Hans wolle ihm genau diese Schallplatte zum Sammlerpreis verkaufen, was der Bekannte Tina umgehend mitgeteilt und somit einen emotionalen Erdrutsch verursacht hatte, der letztendlich dazu führte, dass die Waschmaschine trotz bester Vorsätze immer noch die Hofeinfahrt blockierte.
Deshalb schob ich erst die Waschmaschine zur Seite und versuchte dann das gleiche mit Tinas Sorgen. Und wenn ich da nicht vorankam, weil mir nichts Lustiges einfiel oder es mir an Einfühlungsvermögen mangelte, schob ich wieder das Gerümpel hin und her. Zunächst dachte ich, das geht ganz schnell, man muss nur richtig zupacken, aber dann war es ein schier endloser Prozess des Hin- und Hersortierens, schließlich auch des Diskutierens, denn Tina wollte ein Wörtchen mitreden, was wegzuwerfen sei und was nicht. Als ich dann auf die Idee kam, wir könnten die absonderlichsten Dinge mit den letzten verbliebenen Rollen Schwarzweiß-Film verewigen, sorgte dies für eine weitere Verlangsamung. Aber damit war der leidige Prozess des Aufräumens zu einem kreativen Prozess geworden. Es ging nicht mehr darum, schnell fertig zu werden, sondern um die Dinge, die wir in der Scheune fanden. Nach den Monaten der Anspannung, die mir meine Diplomarbeit beschert hatte, gefiel mir das besser als zunächst erwartet. Natürlich sollte die Premiere des „Filmes über die vergessenen Dinge“ gleichzeitig die Eröffnung unseres Scheunen-Kinos, Kulturzentrums, alternativen Lebensraumes sein. Bis dahin, so beschlossen wir bei einer unserer unzähligen Kaffeepausen, wollten wir uns nicht hetzen lassen, deklarierten die Zeit als Sommerferien und nahmen uns vor, alles andere auf uns zukommen zu lassen.
Es ergab sich, dass immer etwas passierte: Diverse alte Freunde aus Schulzeiten besuchten uns auf dem Land und beteuerten stets, wie idyllisch es sei. Unterdessen durchforstete ich all meine unvollendeten Drehbücher, um Auszüge aus ihnen zu einer Lesung zusammenzustellen, die mit den allerbesten meiner Filme kombiniert werden sollten. Ein paar Abstecher an die Universität waren auch noch nötig, damit man mir irgendwann das Diplom-Zeugnis tatsächlich ausstellte und als ich es endlich hatte, kopierte ich es stapelweise, um einige lustlose Bewerbungen zu schreiben. Tina hatte sich unterdessen einen gebrauchten Synthesizer gekauft, oder geschenkt bekommen, denn es war einer von den monophonen Geräten, die zu dem Zeitpunkt total out waren. Zwar beschäftigte sie sich eifrig damit, wie sie knatternde und zischende Geräusche erzeugen konnte, aber solange sie nicht in einer Band mitspielen würde, war fraglich, was sie damit anfangen könnte, außer Special-Effects-Sounds für meine Filme. Viel Zeit investierte sie in die Wohnraumgestaltung und Renovierung unseres Häuschens. Als sie schließlich auch noch begann, in einer der beiden Szene-Kneipen, die es in der Umgebung gab, als Bedienung zu arbeiten, war ihre Zeit gut ausgefüllt. Für mich war das sehr praktisch, denn ich ging zuerst in die andere Kneipe. Wenn ich dort jemanden zum Unterhalten fand, blieb ich, wenn nicht, was meistens der Fall war, machte ich mich auf zu Tina, der ich erst einmal Bericht erstattete, dass bei der Konkurrenz nichts los sei und dann hatte ich wieder die Auswahl, entweder einen der Gäste vollzuquatschen, oder mich mit Tina zu unterhalten. Bei einem dieser vielen Kneipenbesuche traf ich Gitarren-Hans wieder, der immer noch von einem Video für seine Musik redete und mir einen Kontakt zu einem Jugendzentrum in der nächsten Provinzstadt vermittelte. Dort könnte ich ein kleines Videostudio betreuen. Wenn ich den Jugendlichen, für die das Jugendzentrum vorgesehen war, beibringen würde, wie sie mit der Technik umzugehen hatten, könnte ich dafür etwas Geld bekommen, und das kam mir gerade recht. Die Ersparnisse für die Zeit nach der Diplomarbeit gingen gerade zur Neige und wären schon erschöpft gewesen, wenn ich nicht so billig auf Tinas Gehöft wohnen und bei ihr an der Theke hätte trinken können. Die Chefs vom Jugendzentrum hatten alle keine Ahnung von Video, aber durch irgendwelche Fördergelder war ein kleines Studio eingerichtet worden, das inzwischen weitgehend unbenutzt verstaubte. Die Röhrenkameras, die damals in der Studiotechnik gebräuchlich waren und von denen auch dort ein veraltetes Modell herumstand, empfand ich zwar als eine besonders umständliche Technik-Missbildung, aber in Verbindung mit dem Schnittplatz hatte ich nun ein Experimentierfeld für die Technik, über die ich oft genug abfällig geredet hatte. Videomischer und Videoeffektgeräte kannte ich von einem ähnlichen Studio in der Universität, wusste so ungefähr, was die spärliche Beschriftung an den vielen Knöpfen bedeuten sollte und jetzt konnte ich es genauer ausprobieren.
Hans spielte Gitarre und sang eines seiner Weltverbesserungslieder, während ich zwei Kameras auf ihn richtete und die dritte auf den Programm-Monitor. Ich färbte die Kamerabilder farbig ein und mischte sie im Rhythmus der Musik mit dem Ausgabebild, was pulsierende Schauer von Video-Rückkopplungen ergab. Damit konnte ich Hans beeindrucken, weil, wie er meinte, seine Gitarrensaiten durch die Videorückkopplung sich der Unendlichkeit zu nähern schienen. Ich sagte, dass das nur banale elektronische Effekte waren, er bezichtigte mich des Understatements. Leider hatten wir keine guten Mikrofone da, deshalb verschoben wir die Aufnahme des Videos, außerdem wollte Hans am Text seines Liedes etwas ändern.
Zwischendurch, eine oder zwei Wochen später, schleppte er eine Sängerin an, die nach eigener Aussage gar nicht singen konnte oder wollte, aber Hans war der Meinung, sie sei genau die Richtige, um seine Lieder im Video zu unterstützen. Vermutlich sollte sie einfach gut aussehen und unser Videostudio bestaunen. Aber sie kannte so etwas schon, erzählte mir, dass ihr Freund Grafik-Design studiert hatte und an der Grafik-Design-Hochschule gab es ebenfalls ein Videostudio. Ihr Freund mit Namen Ulrich behauptete, wenn ich das Jugendzentrumsvideostudio richtig verstanden hätte, dann genüge das, um beim Lokalfernsehen Ober-Techniker, Studio-Leiter, Chef-Cutter oder EB-Kameramann zu werden. Natürlich zu einer Bezahlung, die den hochtrabend bezeichneten Aufgaben nicht gerecht werde. Was für ein Lokalsender, fragte ich unschuldig, denn ich kannte nur das Regionalbüro des öffentlich-rechtlichen Programms, von wo man gelegentlich einen bärtigen dicken Kameramann zu den herausragenden Ereignissen der Provinz schickte. Weil es hieß, die öffentlich-rechtlichen Sender akzeptierten nur Kameramänner, die fünf Jahre an der Filmhochschule studiert hätten, damit sie ausreichend qualifiziert seien, um einen Maßkrug und die dazugehörige Blaskapelle für die Abendschau zu filmen, wollte ich mit denen nichts zu tun haben. Mich hätten die nur als stellvertretenden Hilfskabelträger genommen, aber beim Lokalfernsehen, da könne man Quereinsteiger wie mich brauchen, sagte Ulrich zu seiner Freundin, und die Freundin zu mir.
Hans und Tina wiederum stellten mir unabhängig voneinander die Frage, was ich dort wolle, bei der Kommerzscheiße und ob ich schon mal den Käse auf RTL und SAT 1 angeschaut hätte. Nein, das hatte ich nicht, ich wollte es auch nicht und die beiden mussten zugeben, dass ihnen selbst bisher auch die persönliche Grenzwerterfahrung fehlte, einen analytischen Blick auf das damals noch junge, sogenannte Privatfernsehen geworfen zu haben. Trotzdem waren sie davon überzeugt: Das ist Mist! Ich widersprach nicht, weil ich überhaupt keine Ahnung hatte. Ungeachtet der ungeklärten moralisch-ideologischen Einordnung des Phänomens Lokalfernsehen besuchte ich Ulrich eines Abends im Kontrollraum des Aufnahmestudios und dann ging alles ziemlich schnell. Ein paar Tage später stellte ich mich beim Chef vor, einem selbstgefälligen Typen, der meinte, er würde schon merken, ob man mit mir was anfangen könne und am darauffolgenden Montag ging es los, und zwar als Assistent im Praktikantenstatus.
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Als Kameraassistent musste ich mir den Rekorder über die Schulter hängen. Die Technologie nannte sich U-Matic und war nur von bescheidener Qualität, durfte sich trotzdem als professionell bezeichnen. Um ein Video zu schneiden, wird es kopiert. Während der chemische Film mit der Schere auseinandergenommen und mit Klebefolie neu zusammengefügt wird, kopiert man beim Videoschnitt die gewünschten Aufnahmen auf ein weiteres Videoband. Allerdings wird die Qualität von U-Matic-Aufnahmen bei jedem Kopiervorgang schlechter. Im Jugendzentrum wurde mit VHS gearbeitet, das war noch schlimmer, denn VHS bedeutet Video Home System: Eine Amateurtechnologie.
An der Uni hatte ich das ominöse U-Matic-Videoformat mit den riesigen Kassetten schon kennengelernt, aber nur darüber gelästert, weil ich ja zum anderen Lager gehörte, zu den Super-8-Ästheten. Jetzt, da das Studium zu Ende war, verlor dieser willkürliche Kultur-Stellungskrieg für mich an Bedeutung, jetzt ging es darum, meine bescheidenen Erfahrungen irgendwie in klingende Münze zu verwandeln und dazu musste ich zunächst dem Kameramann an einer kurzen Leine hinterherlaufen. Die Leine war das Verbindungskabel zwischen der Kamera und dem Aufnahmegerät und beide, die Kamera und der Rekorder waren klobige, schwere Geräte mit riesigen Akkus, die sich im Nu entleerten.
Weil in der Kamera Röhren zur Bildwandlung verbaut waren und Röhren sowohl träge als auch empfindlich sind, musste man höllisch aufpassen. Filmte man eine Lichtquelle, dann verursachte dies in der Röhre ein Signal, das nur langsam wieder verschwand, was bei bewegten Lichtquellen zu einem Schweif führte. Den nannte man „Nachzieher“. Starke Lichtquellen, die zu lange auf die gleiche Stelle des Bildes leuchteten, erzeugten einen bleibenden Fleck, was wiederum als „Einbrenner“ bezeichnet wurde. Direkte Sonneneinstrahlung konnte sogar dazu führen, dass die Aufnahmeröhre ganz schnell total ruiniert wurde, deshalb durfte man die Sonne auf keinen Fall ins Bild nehmen.
Elektronenröhren können verschiedene Funktionen erfüllen. Die wichtigste Funktion der Elektronenröhren, einen starken Strom durch einen schwachen Strom zu regeln, hatten zu der Zeit längst Transistoren übernommen. Auch andere Funktionen, wie beispielsweise die Bildwandlung, also die Umsetzung eines optischen Bildes in ein elektronisches Signal, wurden im Zug der technischen Fortentwicklung von der Halbleitertechnologie übernommen. Leider zu spät für mich, so dass ich noch mit den letzten Röhrenkameras und den dazugehörigen Umhängerekordern von einem unbedeutenden Ereignis zum nächsten geschickt wurde, immer in zwei Meter Kabellänge hinter dem coolen Kameramann, der gemeinsam mit Ulrich direkt von seinem Grafik-Design-Studium zum Lokalfernsehen gewechselt war und stets eine ironische Bemerkung zu den Motiven unserer Bildaufnahme machen konnte.
Sobald wir den Ort des Geschehens verließen und im Auto saßen, rissen wir Witze über die Leute, die wir gefilmt hatten. Oder über unsere Kameras, über den klapprigen Kleinbus, über unser idyllisches Provinzstädtchen. Im Gegensatz zum coolen Kameramann gab es auch den uncoolen Kameramann, einen verklemmten Pedanten, der einerseits den sportlichen Dienstwagen mit den Ledersitzen fuhr und mir andererseits jeden seiner klugscheißerischen Ratschläge mindestens fünf Mal gab: Verbindungskabel nicht spannen lassen, Schatten spenden, Linsendeckel aufsetzen und all diese langweiligen Anweisungen, die ihm einfielen, um mir zu demonstrieren, wie wichtig er das alles nahm. Mit ihm hätte ich den Job nicht lange durchgehalten, aber kaum war ich einen Monat dabei, konnten wir die Früchte der unermüdlichen Forschungsbestrebungen der japanischen Elektronikindustrie ernten. Die nächste Generation von Aufnahmetechnologie wurde geliefert. Schluss mit den Bildröhren und Schluss mit den Umhängerekordern, plötzlich gab es in unserem kleinen Lokalfernsehen riesige Super-VHS-Camcorder mit CCD-Chips. Halbleitertechnologie erlöste uns von der Problematik der Einbrenner und Nachzieher. Da man nun keinen Rekorderträger mehr brauchte, konnte ich als Kameramann eingesetzt werden.
Natürlich ging es mit einem Dreh los, den niemand machen wollte. Es war nach der täglichen Sendung, alle waren in Nach-Hause-Geh-Laune, da kam der Redakteur mit einem Fax in der Hand durch den Flur gelaufen und fragte, wer die Ikonenausstellungseröffnung filmen würde. Welche Ikonenausstellung? fragten der coole und der uncoole Kameramann im gleichen geringschätzigen Tonfall und ich sagte gar nichts. Die wichtige Ikonenausstellungseröffnung, erklärte der Redakteur mit starker Betonung auf dem Wort „wichtig“, weil am nächsten Tag die Ikonenexpertin Studiogast sein solle und jetzt würde unser wichtiger Bürgermeister mit wichtigen Gästen aus der russischen Partnerstadt die wichtige Ausstellung eröffnen.
Die unglaubliche Wichtigkeit beeindruckte weder den coolen noch den uncoolen Kameramann und so kam ich zu meinem ersten Einsatz als sogenannter EB-Kameramann. EB bedeutet elektronische Bildberichterstattung. Aber richtig wichtig kommt man sich vor, wenn man die Bezeichnung ENG-Kameramann benutzt, das bedeutet „electronic news gathering“. Ich schnappte mir also die Kamera und bekam als Begleitung die neue Praktikantin mit, die war erst seit drei Tagen dabei und deshalb hatte sie noch weniger Erfahrung als ich. Für sie war es ebenfalls der erste selbstständige Einsatz als Reporterin vor Ort. Das hielt ich für eine gute Voraussetzung, da würde sie mir keine dummen Vorschläge machen, was ich zu filmen hatte und hübsch war sie auch. Ob sie sich mit Ikonen auskenne, fragte ich und sie gab zu, dass sie von nichts eine Ahnung hätte und am allerwenigsten von Ikonen.
Das sind die besten Voraussetzungen, meinte ich, somit sei sie genauso uninformiert, wie der durchschnittliche Zuschauer und würde die richtigen Fragen stellen. Ansonsten, schlug ich vor, filmen wir ein paar Ikonen, wie es sich für eine Ikonenaustellungseröffnung gehört und, sofern vorhanden, ein paar russische Charakterköpfe, außerdem Funktionäre, die es ja in allen Bereichen des öffentlichen Lebens gibt. Ich war erfolgreich großspurig, die Praktikantin bemerkte gar nicht, dass ich nur ein paar Wochen vor ihr als Rekorderträger angefangen hatte. Jetzt war ich im ENG-Einsatz und hatte ganz schön mit den Reflektionen zu kämpfen, die das viele Gold der Ikonen im Licht der Scheinwerfer verursachte. Aber mein häufiges Hin- und Herrücken der Kamera, das sorgfältige Justieren und meine kritische Miene sorgten vermutlich dafür, dass ich sehr professionell wirkte. Ich gab mir Mühe, hübsche Nahaufnahmen hinzukriegen, sowohl von den Ikonen, als auch von den zahlreich, gutaussehenden Kultur-Hausfrauen. Außerdem gelang mir trotz der ungünstigen Raumaufteilung eine gelungene Totale, bei der im Vordergrund die Kunstexperten der russischen Delegation mit dem Bürgermeister plauderten. Nach einer halben Stunde waren die notwendigen Aufnahmen erledigt und wir konnten uns ausgiebig dem Wein und den Brezeln zuwenden. Die Pressesprecherin der Genossenschaft, in deren Foyer die Ausstellung gezeigt wurde, kümmerte sich liebevoll um unsere Versorgung. Unaufdringlich brachte sie für Interviews einen Fachmann und einen Funktionär zu uns, wobei Letzterer vermutlich ihr Chef war. Es störte niemanden, dass wir keinerlei kunsthistorisches Hintergrundwissen vorweisen konnten und das fand ich damals sehr entgegenkommend. Später machte ich die Erfahrung, dass es durchaus normal war, wenn Fernsehreporter keine Ahnung von der Thematik haben. Die Praktikantin stellte bei den Interviews mit charmantem Lächeln naive Fragen. Sowohl der Fachmann, als auch der Funktionär gaben brauchbare Antworten. Als wir fertig waren, legte ich ihr zur Anerkennung die Hand auf die Schulter und sagte, dass sie es gut gemacht hätte. Das freute sie und während ich die Kamera wegpackte, besorgte sie schon wieder gefüllte Weingläser. Ich merkte, wie mir der Alkohol in den Kopf stieg und genoss es. Der Tag war lang gewesen, zu essen hatte ich nicht viel bekommen. Die Praktikantin fragte mich, wo ich es gelernt hätte, mit der Kamera umzugehen, und sie stellte die Frage mit dem Unterton der Bewunderung. Sie dachte bestimmt, ich mache das seit Jahren und nicht zum ersten Mal. Trotzdem wusste ich selbst nicht, wo ich mein Wissen her hatte, überall und nirgends, vielleicht lernt man auch beim Lästern.
Ich erzählte ihr, dass mein Spezialgebiet eigentlich die Super-8-Schwarzweißfilmerei sei, aber diesen umständlichen Videokameramonstern, die wir zum Fernsehmachen benutzen, könne man ja kaum aus dem Weg gehen, überall hätten sie sich verbreitet und da spreche es sich eben rum, welcher Knopf welchen Zweck erfülle. Der coole Kameramann hatte mir einiges gezeigt, was ich ansatzweise auch schon bei den Kameras im Universitätsstudio kennengelernt hatte, während mich der uncoole Kameramann in die speziellen Geheimnisse der Technologie einführte. Das machte er aber nur, weil er merkte, dass ich schon Erfahrung hatte und deshalb wollte er mir zeigen, wie weit er mir voraus war. Er, der pedantische Perfektionist, kannte auch die internen Menüs und die verborgenen Knöpfe. Das war hilfreich für mich. Ich hatte sowohl beim coolen, als auch beim uncoolen Kameramann die richtige Haltung gefunden, damit sie mich an ihrem Wissen teilhaben ließen. Man durfte sich nicht zu doof anstellen, aber auch nicht den Schlaumeier raushängen lassen. Gegenüber der Praktikantin tat ich so, als sei mir das Fachwissen einfach zugeflogen und bevor sie nachfragen konnte, wollte ich von ihr wissen, wie sie zum Lokalfernsehen gekommen sei. Sie hieß Maria, ihr Germanistikstudium erschien ihr ausgesprochen nutzlos und zum Praktikum sei sie nur gegangen, weil sie die jungen, unangepassten Moderatorinnen von MTV bewunderte. Sowas würde sie ja auch gerne machen. Ob ich schon Musikvideos gedreht hätte? Alles, bloß das nicht, dachte ich, doch da fiel mir Gitarren-Hans ein, der immer noch auf den geeigneten Termin für eine Aufnahmesession wartete. Das würde zwar kein typisches Musikvideo werden, schon gar keins für MTV, sondern eher ein Kunstprodukt, aber um Maria zu beeindrucken, tat ich so, als stünden die Dreharbeiten unmittelbar bevor und sie sagte, sie wolle unbedingt dabei sein. „Unbedingt dabei sein wollen“ war eine Formulierung, die mich misstrauisch machte und aufschreckte. In der Vergangenheit hatten das immer diejenigen gesagt, die dann doch keine Zeit hatten. Ich bemerkte, wie betrunken ich schon war und wenn ich an Maria vorbei in die Ikonen schaute, drehte sich deren goldener Schimmer. Wir mussten dringend weg, doch da gab es keine Alternative zu unserem klapprigen Kleinbus, mit dem wir gekommen waren. Ich sollte die Kamera noch im Studio abliefern und das Auto durfte ich danach benutzen, um nach Hause zu fahren, da abends die Verbindung in die Dörfer mit Bus und Bahn noch länger als tagsüber dauerte.
Maria war genauso wenig fahrtauglich wie ich, aber im Kleinbus wollte sie sowieso nicht ans Steuer. Ansonsten schien sie keine Bedenken zu haben, was die Vereinbarkeit von Alkoholgenuss und motorisierten Straßenverkehr anging. Zum Glück war es draußen ziemlich kühl, eine sternklare Nacht, das machte mich munter und ich konnte mich halbwegs konzentrieren, den Kleinbus durch die weitgehend leeren Straßen zu lenken. Maria stellte das Radio an und es dudelte einer der vielen Sommerhits, Mainstreamradio. Sie fand das gut, ich gar nicht, sie drehte die Lautstärke auf, ich kurbelte das Fenster zu. Bloß nicht auffallen! Den Führerschein bei der Fahrt mit dem Dienstwagen abzugeben, wäre ein sehr peinlicher Zwischenfall gewesen. Trotzdem wollte ich entspannt erscheinen und ersparte mir, gegen die laute Musik zu protestieren. Maria begann Tanzbewegungen auf dem Beifahrersitz zu vollführen, Gutelaunegestik, die mich nervte und sie schubste mich an die Schulter, meinte, ich solle nicht die trübe Tasse spielen, aber ich knurrte nur.
Dann fuhren wir unbehelligt an der Polizeihauptwache vorbei, wo trotz meiner Befürchtungen niemand auf uns wartete und bogen in die Straße längs des Flusses ein. Bis zum Studio ging es nur noch geradeaus, das beruhigte mich. Da traute ich mich, ein bisschen Konversation zu riskieren und fragte, wo Maria wohne, und wie sie nach Hause kommen wolle. Sie würde ja gerne noch etwas Trinken gehen, meinte sie, aber wo? Erstmal Kamera abladen, antwortete ich, während ich in die Tiefgarage einbog, in der sich der Stellplatz für den Kleinbus befand. Jetzt war ich erst einmal in Sicherheit.
Mit dem Auto aufs Dorf fahren ging in meinem Zustand auf keinen Fall, doch wo sollte ich dann die Nacht verbringen? Maria wohnte in der Stadt, da konnte sie zur Not laufen oder Taxi fahren. Sie am ersten Abend zu fragen, ob ich zu ihr mitkommen könne, wäre allzu verfrüht, zumal ihre ungehemmte Partylaune in mir den Verdacht weckte, sie könne ein sehr oberflächlicher Mensch ohne den intellektuellen Hang zur Selbstreflektion und Systemkritik sein, den ich stillschweigend für potentielle Sexualpartnerinnen voraussetzte. Dass mir tatsächlich solche Worte im Kopf herumschwirrten, während wir im Lastenaufzug mit der Kamera von der Tiefgarage nach oben fuhren, glaube ich kaum. Aber es war die entsprechende Mischung aus Misstrauen und Sympathie. Maria spulte unterdessen eine Liste aller Kneipen, Bars und Diskotheken ab, die für uns in Frage kämen, um den Abend fortzusetzen und ihre Bewertung der jeweiligen Lokalitäten entpuppte sich als sehr gegensätzlich zu meiner Einschätzung. Was sie als gemütlich bezeichnete, empfand ich als spießig, den Laden, in dem angeblich die angesagtesten Leute verkehrten, hielt ich für einen Treffpunkt von aufgeblasenen Angebern und als ich vorschlug, in das von mir bevorzugte Alternativcafé zu gehen, da spottete sie tatsächlich, dass dort doch nur Systemkritiker säßen, die in Selbstreflexion versänken.
Über diese vorlaute Antwort staunte ich erst einmal, musste dann lachen und fühlte mich gleichzeitig ertappt. Die Worte Systemkritik und Selbstreflexion brannten sich für immer in meine Erinnerung an diesen Abend ein. Gleichzeitig verloren beide Begriffe an Bedeutung und an Wert.
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Oben im Studio saß tatsächlich noch Ulrich, mit dem ich mich gleich angefreundet hatte und der ein Auge darauf warf, ob bei mir alles klappte. Schließlich hatte er es eingefädelt, dass ich mich beim Chef vorstellen konnte. Jetzt schnitt er an einem Werbefilm herum. Tagsüber hatte er für so etwas keine Zeit, da mussten die tagesaktuellen Berichte für die Sendung geschnitten werden. Es war gegen zehn Uhr abends, aber mir kam es vor wie nach Mitternacht. Wir schauten gemeinsam in mein Videomaterial und konnten feststellen, dass alles ordnungsgemäß aufgenommen worden war, was mich erleichterte und ermunterte, ein paar Witze über die Ikonenausstellung und die Ikonenausstellungsbesucher zu reißen. Dann wurde wieder die Frage aufgeworfen, ob und wo wir noch was trinken könnten, ob Ulrich mitkäme, oder ob ich lieber gleich in mein Dorf fahren solle. Schließlich schmiss mir Ulrich seinen Haustürschlüssel hin und meinte, er müsse den Werbefilm fertigschneiden, das brauche noch eine Stunde oder mehr und danach würde er sowieso zu seiner Freundin gehen, um bei ihr zu übernachten. Ich solle auf jeden Fall das Auto stehen lassen, vor allem wenn wir in die Bar gingen, die Maria vorschlug, da in der Gegend ständig Verkehrskontrollen stattfinden würden. Ulrich gebärdete sich ein wenig so, als sei er mein großer Bruder, das war gut, das war sogar sehr gut.
Nachdem ich meine Abfuhr wegen der existentialistischen Stimmung in meinem Lieblingscafé schon weg hatte, wehrte ich mich nicht, als Maria mich mit in die von ihr angepriesene Angeberbar mitnahm. Ich genoss den Ausblick auf die vielen gutaussehenden Frauen und unterhielt mich mit Maria auf angenehme Weise über ausnahmslos banale Themen. Nach zwei Bier wurde ich von einer großen Müdigkeit übermannt, die zweifellos damit zusammenhing, dass Maria sich plötzlich in ein Gespräch mit einem jungen, ziemlich geschniegelten Typen vertiefte, den sie mir schließlich als ihren Freund vorstellte. Ich hatte gar nicht bemerkt, wann der aufgekreuzt war. Da es damals keine Handys gab und Maria auch keine Telefonzelle benutzt hatte, schien es eine Verabredung zu sein, und damit entpuppte sich Marias lange Überlegung, wo wir hingehen könnten, als Augenwischerei. Das enttäuschte mich und weil es wegen der ansteigenden Lautstärke immer schwieriger wurde, sich zu unterhalten, verabschiedete ich mich, wankte mit wirren Gedanken, die um Systemkritik und Selbstreflexion kreisten, zu Ulrichs Wohnung. Ein paar Tage vorher hatte ich ihn mit unserem klapprigen Kleinbus vor seiner Haustür abgesetzt, deshalb kannte ich seine Adresse. In seiner Einzimmerwohnung herrschte ein normales Junge-Männer-Durcheinander, da konnte ich mich ganz ungezwungen verhalten. Ich warf einen schnellen Blick auf seine Schallplattensammlung, die, wie erwartet, ähnlich zusammengesetzt war, wie meine eigene. Dann legte ich mich auf sein großes Bett. Mitten in der Nacht erwachte ich, weil ich aufs Klo musste und ich hatte zunächst überhaupt keine Ahnung, wo ich mich befand, stand auf, suchte den Schalter der Stehlampe, schlug dabei mit dem Schienbein an den Tisch. Nach dem Pinkeln ging es mir besser, aber am nächsten Tag fühlte ich mich schlecht und kraftlos. Dabei gab es einiges zu tun. Immerhin waren sowohl der Chef als auch der Redakteur zufrieden mit meinen Ikonen-Videoaufnahmen, was zur Folge hatte, dass ich gleich wieder losgeschickt wurde. Dieses Mal ging es darum, den neuen, supermodernen Müllwagen der städtischen Müllabfuhr zu filmen. Verkatert wie ich war, schien mir Müll ein dankbares Thema, aber die Bilder gelangen mir nach eigener und Ulrichs Einschätzung nur mittelmäßig. Schließlich ging der Arbeitstag damit zu Ende, dass die Ikonenexpertin live im Studio interviewt wurde und mir danach, obwohl ich als Kameramann unauffällig im Halbschatten stand, plötzlich die Hand schüttelte. Das freute mich sehr, machte mich aber auch stutzig. Hatte sich die Ikonenexpertin bei mir bedankt, weil sie wusste, dass die Aufnahmen von der Ausstellung von mir stammten, oder glaubte sie, dass ich sie beim Studiogespräch im Bild hatte, was ja gar nicht stimmte, denn ich machte die Nahaufnahmen des Moderators, während für sie der coole Kameramann zuständig war, aber dem drückte sie nicht die Hand, den schien sie gar nicht zu bemerken. Oder fand sie mich einfach nett? Während ich mir diese Fragen stellte, glitt die Landschaft am Fenster vorbei, denn es war Freitagabend. Mit dem Zug fuhr ich in die Kleinstadt. Das Kreuz eines Kirchturms blitzte in der tiefstehenden Sonne. Waren Ikonenexperten eigentlich, so rein ideologisch und systemtheoretisch gesehen, gute oder schlechte Menschen? Waren sie schädlich und reaktionär wie ein Kirchenfunktionär oder hatte die Ikonenexpertin eine heimliche Leidenschaft für den Kommunismus und betrieb ihre Forschung, um möglichst unauffällig den Kontakt mit der Sowjetunion zu pflegen? Oder vielmehr mit Russland, denn die Sowjetunion gab es zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr. Vielleicht war sie bei der Stasi oder beim KGB und wenn ich damals in die Zusammenarbeit eingewilligt hätte, wäre sie mein Führungsoffizier geworden. Ich versuchte verzweifelt, diese albernen Gedanken zu verscheuchen, es gelang mir nicht. Meine Blasen schlagende Phantasie, die sich als potentiell mögliche Variante der Wirklichkeit tarnte, ging mir auf die Nerven. Erst als ich am Bahnhof der Kleinstadt ausstieg, wo ich mit dem Fahrrad noch fünfzehn Minuten bis ins Dorf fahren musste, gelang es mir, einen klaren Kopf zu bekommen.
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Aber kaum war ich zu Hause angelangt, bescherte mir Tina frische Anregungen für den ideologischen Diskurs. Martin hatte angerufen, aus Berlin, er wollte uns eine Woche später besuchen. Wie schön. Er fragte, ob wir eine Filmvorführung des falschen Filmes einplanen könnten, den Film wolle er unbedingt sehen und seine Begleitung auch. Welche Begleitung, fragte ich, Sabine? Tina wusste es nicht, sie wusste nur, dass Martin dann auf dem Rückweg von der „Ars Electronica“ in Östereich wäre, dem wichtigsten Event für elektronische, progressive Kunst weltweit, aber ich würde mich ja nur um dieses banale Lokalfernsehen kümmern. In der Tat, das tat ich, und schon fielen mir die Ikonen wieder ein. Die Ikonen waren Tina egal, sie dachte an die Scheune, wo immer noch ein heilloses Durcheinander herrschte. Meine Filmaufnahmen der vergessenen Gegenstände, die durch den Prozess des Filmens aus dem Vergessen erlöst werden sollten und dadurch in einen ästhetischen und medialen Meta-Sinn überführt werden könnten, waren bisher noch nicht weit fortgeschritten. Die Stirnseite der Scheune, die ich weiß bemalen wollte, damit sie als Projektionsfläche dienen könnte, wartete noch darauf, freigeräumt zu werden. Auch ich wünschte mir, dass unsere künstlerischen Aktivitäten vorangingen, leider kostete das banale Lokalfernsehen nicht nur viel Zeit, sondern auch viel Kraft, so dass ich am Wochenende erschöpft war. Tina konnte es sich nicht verkneifen, mir eine Diskussion aufzudrängen. Sie wollte mir unbedingt einreden, dass mein kleines Lokalfernsehen im Dienste des großen, weltumspannenden Kapitals die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zermürben sollte. Ja? Wirklich? Und wie? Weil wir darüber berichteten, dass ein neuer Spielplatz eingerichtet wurde und die Baustelle am Markplatz bis voraussichtlich Oktober zu Verkehrskomplikationen führen würde? Ich hatte die Beispiele gut genug gewählt, diesen Nachrichten konnte Tina keine globale Strategie nachweisen. Zum Glück schaute sie unseren Sender gar nicht an, deshalb gelang ihr keine gute Erwiderung. Ihr blieb nur der relativ harmlose Vorwurf, dass wir die Interessen unserer Sponsoren und Werbekunden sublim an die Zuschauer weiterleiten würden, was ich gut entkräften konnte, denn ich sagte, dass wir das nicht sublim, sondern ganz offensichtlich machen und es sei wirklich höchste Zeit, in der Scheune weiterzuarbeiten, bevor ich mir die billige Bildsprache der ENG-Kameraleute angewöhnen würde. ENG? Fragte Tina und ich antwortete „Electronic News Gathering“, das klingt eigentlich noch sensationeller als „Ars Electronica“. Ist es aber nicht, ist doch nur Angeberei! Anstatt zu antworten, ging ich in die Scheune. Ein blechernes Sieb, eine kurbelbetriebene Handbohrmaschine, zwei Lampenschirme aus einem undefinierbaren Material, Zahnräder, ein Spazierstock mit angeschraubter Fahrradklingel, Isolatoren. Das waren die ausgewählten vergessenen Dinge, die ich auf einen klapprigen Tisch gelegt hatte. Daneben stand ein wackliger alter Holzstuhl. Das war noch keine aufregende Sammlung, deshalb wandte ich mich dem großen Haufen zu, der noch nicht untersucht war. Als ich einen halb vermoderten Teppich rauszog, kam ein alter Fernseher zum Vorschein, ein Sessel und etliche Kartons voller Zeitungen. Die konnte man wenigstens gleich zum Altpapier bringen und musste nicht erst den Sperrmüll abwarten. Tina kam mit einer Flasche Wein, zwei Gläsern und setzte sich auf den Stuhl. Einen zweiten Stuhl fand ich zwischen alten Matratzen. Also stellte ich ihn zum Tisch, schenkte mir ein Glas Wein ein und wir rauchten erst einmal selbstgedrehte Zigaretten. Sie erzählte mir von einem Streit mit ihrer Mutter, und von einer Anfrage des Onkels, der wissen wollte, wie schnell wir ausziehen könnten, wenn jemand das Gehöft kaufen würde. Dabei waren wir mit dem Einziehen noch gar nicht fertig. Aber vermutlich sei das nur blinder Alarm, niemand kaufe diese alte Bude. Es will ja nicht mal jemand drin wohnen, obwohl Tina wieder ein paar Kleinanzeigen aufgehängt hatte: WG-Zimmer auf dem Land zu vergeben. Gestern sei einer dagewesen, ein komischer Vogel, der sich beschwert hätte, dass ich nicht da sei, denn wenn er schon aufs Land fahre, wolle er alle Mitbewohner sehen. Tina hätte ja gar nicht gewusst, warum ich nicht gekommen sei, und es sei unangenehm mit dem Typen gewesen, der dann aber nach einer Stunde aufgab und verschwand, hoffentlich auf Nimmerwiedersehen. WG zu dritt ist gefährlich, das klappt fast nie, sagte ich, können wir nicht gleich zwei Leute suchen? Die Meisten sind doch sowieso dumme Studenten, die gehen uns dann ganz schnell auf die Nerven, das garantiere ich dir. Seit Tina von der Uni geflogen war, mochte sie keine Studenten mehr, Fernsehleute und das Mediengesindel, wie sie es mir gegenüber provokativ bezeichnete, waren ihr suspekt und wenn Punks oder Arbeitslose kamen, dann beschwerte sie sich, dass die zu nichts zu gebrauchen seien. Die einzigen, die sie kritiklos akzeptierte, waren Künstler. Darum war ich erste Wahl gewesen und hatte ohne Vorbehalte einziehen können. Aber meine blitzschnelle Verwandlung zum Kommerzfernsehkameramann passte ihr gar nicht ins Konzept. Es tröstete sie wenig, als ich beteuerte, nichts vom Kommerz abzubekommen, sondern nur als Praktikant bezahlt werde, und deshalb sei ich darauf angewiesen, diesen alternativen Lebensstil mit ihr im entlegenen Bauernhof zu praktizieren. Ich hatte Tina grundsätzlich enttäuscht, das war klar. Mein Gejammer über die Probleme mit der Diplomarbeit und die Probleme mit dem bürgerlichen Leben und die Probleme mit dem Kapitalismus machte viel von dem aus, was uns verband. Dann war aber eines Tages mein Diplomzeugnis als Einschreiben mit der Post gekommen und ich sagte, ich hänge es aufs Klo. Das machte ich tatsächlich, in einem alten Bilderrahmen, der aus dem Nachlass des Opas stammte. Das sah gut und witzig aus, aber irgendwann bemerkte Tina, dass es nur eine Kopie war. Selbstverständlich! Eine von den Fotokopien, die ich für meine erfolglosen Bewerbungsmappen gezogen hatte und nicht das Original. Womöglich kam einer unserer Gäste auf die Idee, einen schlechten Klospruch draufzukritzeln, oder den Namen seiner Lieblingsband. Tina fand es heuchlerisch. Ich erwiderte, auch die Aufhängung der Kopie sei ein Bekenntnis und sie fügte hinzu: ein verlogenes Lippenbekenntnis. Damals verzichtete ich darauf, weiter zu diskutieren, denn es lag mir auf der Zunge, Tina darauf hinzuweisen, dass sie ihr Studium nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus der mangelnden Begabung für das Verständnis von chemischen Zusammenhängen beendet hatte. Kurz gesagt, sie war zu doof gewesen, ich nicht. Dieser unausgesprochene Vorwurf schien mir unfair, nichtsdestotrotz wahr.
Als wir dann rauchend in der Scheune saßen, hing wieder stillschweigend der Vorwurf in der Luft, ich sei einer, der Wasser predige, aber Wein trinke. Ich dachte mir, dass an dem Vorwurf durchaus was dran sei, doch ich sah keine Alternative zum Wein, hob das Glas und prostete Tina zu. Sie rollte gerade einen Joint zusammen, das war auch nicht die Alternative und ich sagte ihr, dass ich nicht mitrauchen wolle.
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Der weitere Abend verlief friedlich und produktiv. In den Hinterlassenschaften des Großvaters fanden wir nicht nur eine hübsche Luftpumpe, sondern auch einen 16-mm-Filmprojektor, der noch zu funktionieren schien. Zumindest drehte sich die leere Auffangspule und warf einen hübschen Schatten an die Wand. Das brachte mich auf die Idee, das Schattenspiel der vergessenen Dinge in meinen Film zu integrieren. Dazu brauchte ich Platz und deshalb schleppte ich endlich eine nennenswerte Menge Gerümpel in den Hof, so dass Tina Hoffnung schöpfte, die Umgestaltung der Scheune könne nun in die Gänge kommen. In der Tat schaffte ich es an dem Wochenende die Scheune fast leer zu bekommen und während der Arbeitswoche durfte ich an zwei Abenden mit dem klapprigen Kleinbus nach Hause fahren und konnte jeweils am nächsten Morgen eine Wagenladung mit sperrigen Altlasten zum Recyclinghof bringen. Im Videostudio des Jugendzentrums fand ich ein paar Rollen 16-mm-Film, bestimmt etwas pädagogisch Wertvolles. Die nahm ich mit, um den Projektor zu testen.
Am Freitagnachmittag ergab es sich, dass ich mal wieder mit Maria unterwegs war, die mich mit der Neuigkeit überraschte, der coole Kameramann würde aufhören, bei uns zu arbeiten. Obwohl es mich wunderte, von ihr davon zu erfahren, überwog die Freude. Wenn er ginge, wäre meine Position gesichert, dann wäre ich nicht mehr nur der Ersatzmann, sondern kontinuierlich an der Kamera im Einsatz. Maria erklärte auch noch, dass ich ihr Lieblingskameramann sei. Das war natürlich eine Schmeichelei, die vermutlich den Zweck verfolgte, dass ich mich dazu bereit erklärte, mit ihr am Wochenende das Reitturnier zu filmen, oder gar, was sich dann im Laufe des Gesprächs herauskristallisierte, dass ich das Reitturnier FÜR sie filmte, da sie selbst am Wettbewerb teilnehmen würde. Allerdings, so meinte sie, könne sie mich danach mitnehmen, zum Grillen bei ihr im Reitverein, wo es eine Menge gutaussehender junger Mädchen gäbe. Und deren Freunde, entgegnete ich. Nein, noch schlimmer: ihre Pferde. Auf dem Grill? Ich erlaubte mir schlechte Witze und machte mich über Pferde und Pferdemädchen lustig, denn ich wollte sowieso nicht auf die Pferdemädchenreitturniergrillparty, Martin würde zu Besuch kommen. Je mehr ich über Pferde schimpfte, desto mehr lachte Maria, sie war überhaupt nicht eingeschnappt, schließlich gab sie zu, dass sie mit dem Pferdetheater, das man von den jungen Reiterinnen gewohnt sei, nichts anfangen könne, aber als Sportart gefalle ihr das Reiten. Trotzdem lehnte ich dankend ab, was aber nichts nutzte, denn es stellte sich heraus, dass der coole Kameramann schon beim Umziehen war, der uncoole erst recht nicht wollte und der Chef meinte, ich solle dankbar sein, wie schnell ich in die wichtige Position als Kameramann hineinwachsen würde. Ich könne stolz sein, dass ich das Reitturnier aufnehmen dürfe. Dann klopfte er mir auf die Schulter und meinte, da gäbe es viele hübsche Frauen. Damit hatte er Recht, wie sich später herausstellte, aber es ärgerte mich die Bestimmtheit, mit der ich dazu abkommandiert wurde, mir den Samstag verderben zu lassen. Tina hätte mich trösten können. Das tat sie aber nicht, sie machte mir stattdessen Vorwürfe, dass sie sich dann um die Gäste kümmern müsse. Vermutlich empfand sie Genugtuung, dass mir mein Fernsehjob endlich mal zu viel wurde und ich ärgerte mich über ihre stille Schadenfreude. Was aber letztendlich alles nur Verschwendung von Emotionen war, denn am Freitag rief Martin bei Tina an und ließ ausrichten, sie kämen erst Samstagabend. Tina hatte wieder nicht nachgefragt, wer „wir“ sein würde. Ich meckerte Sie an, dass es von Wichtigkeit sei, wie viele Menschen bei uns übernachten wollten. Wieso, wir haben doch genug Platz, antwortete sie. Für mich ging es nur um die Frage, ob mit Sabine zu rechnen sei, was ich aber Tina nicht verriet.
Daran musste ich denken, als ich die Pferde filmte. So ein Turnier kann ganz schön lange dauern, vor allem wenn man sich nicht die Bohne für Pferde und ihr Gehopse über die Hindernisse interessiert. Am Anfang war es anspruchsvoll, die besten Positionen für die Kamera zu finden. Weil ich genügend Zeit hatte, übte ich bei einigen Durchläufen, ohne die Aufnahme zu starten. Ich wollte möglichst wenig Material aufnehmen, aber trotzdem das richtige, um mich bei den Cuttern beliebt zu machen, speziell bei Ulrich, der immer wieder mal sagte, zehn Minuten seien genug, wenn sie gut sind. Für alles, was über eine halbe Stunde hinausginge, hätte er gar keine Zeit, würde er sich gar nicht ansehen. Nachdem schließlich Maria vorbeigeritten war, die ich in voller Länge aufnahm, weil ich mich auch bei ihr beliebt machen wollte, langweilte ich mich bis zur Preisverleihung und erinnerte mich daran, wie Sabine damals gefragt hatte, was denn später aus uns und unseren Ambitionen werden würde. Dass ich Samstag am Reitplatz stehe und Pferde filme, wäre mir damals nicht als Antwort eingefallen. Aber abgesehen von meiner Ungeduld und dem ungünstigen Termin, war es eine angenehme Aufgabe, die mir sogar noch ein paar Grillwürste hätte einbringen können. Maria tat etwas enttäuscht, weil ich gleich fahren wollte, aber da kam auch schon ihr Freund und küsste sie. Ich hingegen packte meinen Kram, die Kamera und das Stativ und räumte es ins Auto, wo schon einige Bierkisten standen, die ich am Vormittag für die Filmvorführung am Abend eingekauft hatte. Als Entschädigung für die Samstagsarbeit hatte mir der Chef den klapprigen Kleinbus fürs ganze Wochenende überlassen und den Camcorder nahm ich auch mit nach Hause, um mir den Umweg ins Studio zu sparen. Gutgelaunt fuhr ich die kurvigen Landstraßen zwischen den hügeligen Äckern entlang. Ein einsamer Fahrradfahrer quälte sich die langgezogene Steigung hinauf, die zu unserem Dorf führte. Beim Überholen sah ich, dass es Gitarren-Hans war und bremste so kräftig, dass der Pseudo-Sportwagen hinter mir, dessen Fahrer schon die ganze Zeit vergeblich versucht hatte, mich zu überholen, ebenfalls quietschend bremsen musste. Dann, als der Gegenverkehr vorbeigezischt war, preschte er hysterisch hupend und die Arme wedelnd mit einem Affenzahn davon. Hans war verwirrt von dem plötzlichen Autotrubel um sich herum, aber als ich ausstieg, erkannte er mich. Das seien völlig unzurechnungsfähige Menschen, emotional getunt wie ihre übermotorisierten Karren, mit denen sie über die kleinen Straßen rasen, sagte er schnaufend, während wir sein Fahrrad auf die Bierkisten luden. Er war auf dem Weg zu Tina, oder vielmehr zu uns. Die beiden wollten für den Filmabend noch einen Drogenkuchen backen. Offensichtlich hatten sie ihre Zwistigkeiten wegen der Lieblingsschallplatte inzwischen vergessen oder geklärt.
Tina empfing ihn mit einer Umarmung und mich mit der Nachricht, dass wiederum Martin vor Kurzem angerufen hätte. Er, beziehungsweise sie, drei Männer, seien jetzt schon in Deutschland an der Grenze und die drei Männer fragten an, ob auch ein paar Frauen zum Filmabend eingeladen sein? Also keine Sabine! Und keine Grillpferdemädchen. Aber Tina hatte schon den Teig angerührt und Gitarren-Hans eine weitere wichtige Zutat dabei. Der Kuchen, der daraus entstehen sollte, war nicht nur für Martin und seine Kumpels, sondern auch für Tinas Bardamenkollektiv, wie sie sich und ihre Kolleginnen hinter dem Tresen bezeichnete. Sie und einige der Stammgäste wollten endlich mal sehen, wo wir uns auf dem Dorf versteckt hielten und hatten versprochen, auf jeden Fall zu kommen. Ulrich hatte ich als einzigen meiner Fernsehkollegen eingeladen, aber er musste zu irgendeinem Familienfest, das fand ich schade. Martin würde noch einige Stunden auf der Autobahn verbringen, Hans und Tina waren in der Küche zugange und ich konnte in aller Ruhe die drei Projektoren aufbauen, den guten Super-8-Projektor in der Scheune, den alten im Hof.
Dann kümmerte ich mich um den 16-mm-Projektor, für den ich im Jugendzentrum eine Filmrolle mitgenommen hatte. Ich putzte ihn ordentlich aus und als ich den Film einlegte, stellte sich heraus, dass der Projektor einwandfrei funktionierte. Also konnte ich eine Endlosschleife herstellen. Ich musste nur eine geeignete Passage im Filmmaterial finden. Der Film aus dem Jugendzentrum schien zunächst ziemlich öde, es ging wie erwartet um die Probleme von Jugendlichen. Er zeigte, wie diese Probleme durch die Besinnung auf den christlichen Glauben gelöst werden. Die meiste Zeit wurden Interviews geführt, oder langweilige Diskussionsrunden. Erst am Ende des Filmes gab es einige gelungene Aufnahmen der Probleme, da führte eine Kamerafahrt durch unglaublich viele leere Bier- und Weinflaschen und dann war da auch noch ein kotzendes magersüchtiges Mädchen, dessen Gekotze man nicht richtig sehen konnte, aber die Körperhaltung und Bewegung waren eindeutig.
Da hatte ich also ein schönes Stückchen Film, das ich in den Projektor einfädelte und dann den Anfang an das Ende klebte. Zwar fehlte mir eine entsprechende Klebelade, aber die war nicht unbedingt nötig. Bei 16-mm-Film konnte man jedes einzelne Bild gut mit bloßem Auge erkennen. Einfach die Perforation übereinanderlegen, zur Deckung bringen, dann ein schneller Schnitt mit der Haushaltsschere, die Enden stumpf aneinandergefügt und mit Tesafilm zusammengeklebt, schon fertig. Außerdem hatte ich inzwischen die erste Rolle Schwarzweiß-Film entwickeln lassen und es gab ein paar Sekunden, die die drehende Spule des Projektors und ihren riesigen Schattenwurf an der Scheunenwand zeigten. Diese Aufnahme, etwa 50 cm, kam als Endlosschleife in den alten Super-8-Projektor und gleichzeitig wurde der laufende 16-mm-Projektor mit einer Lampe angeleuchtet, so dass dessen Spule, die bei einer Endlosschleife eigentlich gar nicht nötig war, einen bewegten Schatten warf, der sich mit der Projektion überlagern würde.
Tina und Gitarren-Hans kamen in den Hof, eine Weinflasche und Gläser in den Händen. Während des Einschenkens startete ich die beiden Schleifen zum ersten Mal gleichzeitig. Es war noch etwas zu hell, aber vage zeichnete sich das Bild an den Wänden ab. Ich hatte einiges ausprobiert. Inzwischen kotzte das Mädchen rückwärts und das Bild stand auf dem Kopf, da konnte man durchaus auf die Idee kommen, es sei ein Ausschnitt aus einem Pornofilm. Auf der anderen Mauer überlagerten sich die echten und gefilmten Schatten der Projektorspule, das gefiel mir sehr gut. Es fehlte nur noch ein Soundtrack. Ich schlug vor, dass Tina ihren monophonen Synthie holen könnte, was ihr nicht in den Kram passte, aber schließlich erlaubte sie Gitarren-Hans, den Synthie zu bedienen, wenn er sich selbst um alle kümmern würde. Hans kannte sich überraschend gut mit dem Gerät aus oder verstand es intuitiv. Während er die ersten zaghaften Töne erzeugte, rückte ich nochmals meine Projektoren herum, suchte die jeweils optimale Position und da es inzwischen dunkel geworden war, sah es sehr beeindruckend aus. Gitarren-Hans drehte an Tinas altem Gitarrenverstärker die Höhen raus, die Bässe rein und holte knatternde, tiefe Töne aus dem Synthie, die er durch das Drehen an den Filtern ganz langsam veränderte. Wieder traf er bei mir eine Resonanz, die mich mitnahm, mich durchdrang, dieser spröde technische Ton, der kein Ende zu haben schien, sondern nur einen Puls, während die Schatten rotierten und das auf dem Kopf stehende Mädchen aussah, als kotze und vögle sie gleichzeitig. Der erste Schluck Rotwein dieses Abends, ein dazu gereichter Joint, ich spürte es in der Kehle, in der Lunge und schon kurz darauf im Kopf, wie es brummte, Gitarren-Hans drückte auf die Tastatur, es ging einen Halbton runter, noch tiefer, dazu ein Blubbern und Knarzen, das ich so empfand, als würde uns dieser Klang einschließen, einhüllen, beschützen, als sei der Klang unsere Welt, hier sind wir sicher und unter uns, keine Ikonen oder Turniere, keine fragwürdigen Gedanken, was wir tun und lassen mussten, um an Geld zu kommen, sondern einfach SEIN und machen, was ICH will, einfach loslegen, wir erzeugen mentale Energie auf unserem eigenen Planeten, und da kam das erste Auto mit Gästen, die Autoscheinwerfer überstrahlten für einen Moment gleißend die Projektion und erloschen schnell wieder, aber es war nicht Martin, sondern zwei von den Bedienungen aus der Szenekneipe, Tinas Bardamenkollektiv, die Blonde und die Rothaarige, und die Blonde schien mich zu mögen, küsste mich zur Begrüßung, fragte irgendetwas, was ich nicht verstand und ich war so verwirrt, dass ich sie einfach noch mal umarmte. Ich fand es toll, dass sie gekommen war, sagte es ihr und meinte, sie solle es sich gemütlich machen, auf unserem kleinen Planeten.
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Die blonde Bedienung machte es sich tatsächlich gemütlich, holte sich einen Klappstuhl, den sie neben meinen Clubsessel hinstellte und so saßen wir in der Mitte des Hofes mit dem besten Blick auf die Endlosschleifen. Sie verwickelte mich in ein Gespräch über die Stammkundschaft in ihrer Kneipe, zu der auch ich gehörte und das war ein schier unerschöpflicher Stoff. Am Anfang fand ich es sehr interessant, dann ergriff mich zunehmend die Ungeduld, denn ich fragte mich, wann Martin ankommen würde. Stattdessen trafen weitere Freunde und Bekannte ein, mit denen ich teilweise kurz plauderte, aber letztendlich saß ich immer wieder neben der blonden Bedienung in der Mitte des Hofes. Gitarren-Hans kündigte an, dass er nicht mehr lange an den Reglern des Synthies drehen würde, andere Gäste wollten Musik hören, wieder andere forderten die Filmvorführung. Auf den dreihundert Kilometern von der Grenze bis zu uns konnte Martin einiges dazwischengekommen sein. Womöglich traf er erst um Mitternacht ein, solange wollte ich nicht warten. Darum holte ich den Camcorder in den Hof, um die Projektion abzufilmen, solange Gitarren-Hans den Synthie am Laufen hielt. Er drehte feinfühlig an den Filtern, so dass das Blubbern an Intensität gewann und wunderbar zu meinen Endlosschleifen passte. Auch wenn die Aufnahmen etwas lichtschwach waren. Als schließlich die blonde Bedienung als dunkle Silhouette vor den kreisenden Schatten tanzte, sah das sehr gut aus. Die Videoaufnahme meine Installation wäre später oder am nächsten Tag gar nicht mehr möglich gewesen, denn im Lauf des Abends riss die Super-8-Schleife und im 16-mm-Projektor brannte die Birne durch. Aber erstmal kamen zwei Autos voll mit Stammgästen der Szenekneipe, von denen mir die blonde Bedienung erst kurz zuvor diverse Details erzählt hatte. Sie johlten laut, als sie mit zwei Bierkästen in den Hof traten. Ganz schön prollig, dachte ich mir, aber ich ließ zur Einstimmung meinen damals einzigen Zeichentrickfilm laufen, ganz einfache Strichmännchen, die zunächst Bierkrüge leerten, diese dann aufaßen und letztendlich kotzend umfielen. Das gefiel den prolligen Gästen und ihre Stimmung blieb gut, auch als Tina frühen Elektro-Punk auf den Plattenteller legte. Das war keine Konsensmusik. Der Großteil der Landbevölkerung schwelgte musikalisch immer noch in den 70er-Jahren. Zwischendurch zeigte ich ab und zu einen meiner frühen Filme. Schließlich fädelte ich auch „Die Rückbesinnung“ ein, die nach meiner ursprünglichen Planung erst nach Martins Ankunft laufen sollte. Es war schon halb zwölf, die Gäste betrunken, lange konnte ich nicht mehr warten. Aber, als hätte ich eine Vorahnung gehabt, tauchte kurz vor der Schlussszene ein ankommendes Auto den Hof in grelles Licht und während der Abspann lief, traten Martin, Achim und ein Unbekannter in die Scheune.
Sie erkannten, dass es ihr Film gewesen war und die Gäste erkannten die Hauptdarsteller, was auf beiden Seiten Begeisterung auslöste. Wir umarmten uns zur Begrüßung und ohne viel zu reden, waren wir uns sofort einig, dass ich gleich den falschen Film einlegen sollte, den Film, bei dem nichts zusammenpasst und eigentlich passte das ja wirklich nicht, es passte eben auch nicht zu den sogenannten normalen Zuschauern, aber diesmal, da war das eben anders, denn schon in der ersten Szene machte Martin flüsternd einen Witz, woraufhin Achim und der unbekannte Dritte laut lachten und ab diesem Moment fanden die drei alles, was in dem Film passierte, umwerfend witzig und grölten und klopften sich auf die Schenkel, was auch die anderen dazu animierte, alles irrsinnig lustig zu finden, und schließlich verstand man kaum noch die absurden Dialoge, weil das Publikum außer Rand und Band war, so dass ich den Film gleich nach dem Zurückspulen noch einmal einlegte und wir schauten ihn mit der gleichen Begeisterung zum zweiten Mal an. Martin und Achim begeisterten sich genauso, wie damals bei der Rückbesinnungs-Premiere in Martins Wohnung, damals, als wir uns so sehr über die Idee amüsierten, was wir falsch machen könnten und jetzt amüsierten wir uns, was ich tatsächlich falsch gemacht hatte.
Ab und zu fiel eine abfällige Bemerkung über die „Ars Electronica“ oder über die Gepflogenheiten der wichtigen Künstler in Berlin, Seitenhiebe gegen oder zynische Kommentare über das große, verkopfte Kulturestablishment, zu dem Martin, Achim und der unbekannte Dritte, von dem ich am nächsten Tag erfuhr, dass er Stefan hieß und ein Studienkollege Martins an dieser digitalen Kunstakademie war, leider noch nicht gehörten. Später vermutete ich, dass die digitalen Erstsemesterkünstler und Achim, der ewige Student für nutzlose geisteswissenschaftliche Fächer nach der schwierigen Eingewöhnung in die Verhältnisse der Metropole und einem Trip zur elektronischen Weltkultur endlich aufatmeten, denn hier, zwischen den Rüben- und Getreideäckern, in der aus Muschelkalk gemauerten Scheune unseres bescheidenen Bauernhofes war die Hierarchie der Verhältnisse plötzlich auf den Kopf gestellt oder vielmehr: wieder zurück auf die Füße.
In meinem Film war alles falsch, doch die Vorführung rückte es in die richtige Rangordnung, in unsere Rangordnung. Die Dreierbande aus Berlin hatte sich schon durch die Ankündigung ihres Kommens mit mir verbündet und gemeinsam konnten wir die Stimmung des Abends kontrollieren und das taten wir genussvoll. Hier waren wir die Kulturelite. Es gab schließlich noch die Vorführung einer meiner kurzen Super-8-Klassiker, „Sulos Tod“, der ausschließlich zeigte, wie ich eine Metall-Mülltonne zerstörte, nichts Besonderes, aber emotional effektiv. Bevor die Plastikmülltonnen eingeführt wurden, stand auf allen Mülltonnen „Sulo“, vermutlich der Hersteller. Tina kam auf die Idee, dass wir auch noch eine alte Mülltonne dahätten und deshalb drückte ich Martin den Camcorder in die Hand, damit er meine Performance filmte, positionierte den Scheinwerfer, der den ganzen Abend nur dazu gedient hatte, den Schatten der Filmspule zu erzeugen, und dann steigerte ich mich in die banale Zerstörung der Mülltonne hinein, als ginge es darum eine untergehende Welt zu retten.
Ich drosch mit dem Vorschlaghammer auf die Tonne ein, bis sie nur noch ein Klumpen verbeulten Blechs war. Die anderen feuerten mich an und grölten, wenn mir ein Schlag gelang, der die Tonne deutlich verformte. Es machte einen Heidenlärm. Zwischendurch bekam ich es mit der Angst zu tun, die Nachbarn könnten uns die Polizei auf den Hals hetzen, aber da unser Gehöft etwas abseits stand, schien im verschlafenen Dorf niemand das Bedürfnis zu verspüren, uns den Spaß zu verderben. Ich zog mir den Pullover aus und keuchend und schwitzend schlug ich auf die verbeulten Überreste der Mülltonne ein. „Sulos Tod“, Version Zwei, diesmal mit dem Originalton.
Die erste Version, die wir ein paar Jahre zuvor in einem Steinbruch gedreht hatten, war vollständig nachsynchronisiert worden. Im Bild schlug ich wie ein Wilder mit der Axt auf die Tonne ein, aber die Geräusche hatte ich im Keller meiner Eltern mit einigen Blecheimern und einem normalen Hammer erzeugt. Bei der Videoaufnahme in der Scheune knallte es hingegen richtig und das Raunen und Jubeln der Zuschauer war auch mit auf der Tonspur. Wir, also Martin und ich, schauten uns einen Teil der Zerstörungsorgie im Sucher der Kamera an, der sie nur schwarzweiß und stumm wiedergab, trotzdem waren wir hellauf begeistert. Von allem. Nicht nur die Aufnahme, sondern auch das Zusammentreffen, die Übereinstimmung, der Konsens und die Freundschaft. Und alles andere auch noch. Jetzt konnten wir uns endlich einfach unterhalten, über meine Aufgaben als Kameramann und Martin über seine Akademie und Achim über geheime Kellerbars in Ostberlin und Stefan über die „Ars Electronica“.
Jetzt war Schluss mit der Angeberei, wir wollten schließlich erfahren, was in der Zwischenzeit passiert war. Das Reizthema Sabine hatte ich dabei völlig vergessen, aber Martin erzählte ganz beiläufig, dass er mit ihr schon längst nicht mehr zusammen sei, das wäre ja nur so eine kurze Sache gewesen. Er überlegte, rückte aber nicht damit heraus, was er Schlechtes über sie sagen wollte. Mir war es egal, ich war sowieso gerade sehr euphorisch und hin und wieder wechselte ich einen Blick mit der blonden Bedienung. Als Martin sich dann in eine zu lange und zu komplizierte Abhandlung über Bildbearbeitung mit Computern verstrickte, konnte ich beim besten Willen nicht mehr folgen, seilte mich ab und fand wieder den Platz in der Mitte des Hofes, wo sich die blonde Bedienung auch gleich neben mich setzte. Jetzt erzählte ich ihr über meine Filme, was ein ebenso unerschöpfliches Thema war wie ihre Stammgäste. Aber es gelang uns, verbale Ausschweifungen zu vermeiden und relativ bald lagen wir bei mir im Bett, während die Party draußen bereits leiser wurde.
16
Der Sonntag war viel zu kurz. Ich hatte im Morgengrauen noch Spaß mit der blonden Bedienung, aber sie ging dann ohne Frühstück, musste irgendwohin und fuhr, bevor die anderen aus den Betten krochen. Bei Tina war offensichtlich auch jemand geblieben, sie holte sich zwei Tassen Kaffee aufs Zimmer. Obwohl sie es schaffte ihren Gast vollständig meinem Blick zu entziehen, war mir klar, dass es Gitarren-Hans sein musste. Martin, Achim und Stefan kamen gegen zehn in die Küche und wollten möglichst schnell aufbrechen, weil die Strecke nach Berlin jetzt, mit geöffneter Grenze, keineswegs schneller ging, sondern wegen einiger Baustellen manchmal in einem großen, endlosen Stau versank. Beim Kaffee ereiferte sich Martin nochmal über die grandios sinnlose Integration seiner Gummientensammlung in den falschen Film und versteifte sich in die Aussage, dass der Film unbedingt in Berlin laufen müsse.
Ich widersprach, meinte, ich hätte ja schon ab und zu Filme zu Festivals geschickt, aber die zeigten ja immer nur das, was ich als sogenannten konzeptuellen Edelmist bezeichnete. Genau, aber der falsche Film sei doch konzeptueller Edelmist, wie man ihn sich besser nicht vorstellen könne. Nein, überhaupt nicht, der ist Trash, Genialer Dilettantismus, aber ein bisschen zu wenig genial. So ein Schmarrn, warf Achim ein, und Martin sagte, ich sei vom Leben auf dem Land desensibilisiert für die ästhetischen Nuancen, woraufhin ich die kulturelle Überfütterung in den Metropolen anprangerte, die die Künstler scharenweise in stilistische Extremgebiete hineintreibe, wo es nur noch darum ginge, dass man was „total Abgefahrenes“ mache, auch wenn es keinen Sinn hätte, oder vielmehr sei die totale Sinnlosigkeit eines der typischen Merkmale dieser „total abgefahrenen“ Kunstverwirrungen und das fände eben auch in den Film- und Videofestivals seinen Niederschlag. Rein konzeptuelle Kopfgeburten, humorlos, aber unermüdlich von Sinn-Totalverweigerern zusammengefummelt, dominierten oder vielmehr blockierten die Leinwände, so dass für diejenigen, die etwas unverkrampfter an die Materie herangingen, kein Platz mehr sei. Jetzt fing Stefan an zu widersprechen, der sowohl bei der „Ars Electronica“, als auch in irgendwelchen Kulturkinos unzählige beeindruckende filmische Werke gesehen hätte, die er mir am liebsten alle erzählen wollte, inclusive der dahin steckenden Konzepte. Damit durfte ich mir nicht das Frühstück verderben lassen. Ich gab nach und holte die Spule mit dem falschen Film, drückte sie Martin in die Hand, er solle darauf aufpassen und dann könne er sich drum kümmern, eine Vorführung in Berlin zu organisieren, ich würde dann vielleicht auch mal wieder vorbeikommen, zumal, was Sabine anging, inzwischen die Luft rein war. Umarmungen am Auto, dann brausten sie davon.
Im Hof stand das Fahrrad von Gitarren-Hans und Tina war nur ein paar Mal als vorbeihuschender Schatten zu sehen. Stattdessen überraschte mich Maria, die mich anrief, ob ich mit ihr Kaffee trinken wolle und ob ich dann auch die Videokassette mit den Reitturnieraufnahmen mitbringen könnte. Charmant, aber vergebens, denn auf Pferde hatte ich gerade gar keine Lust, es graute mir auch schon vor dem Montag, an dem ich wieder zum Schrebergartenfernsehen zurückmusste. Viel lieber hätte ich mir die Aufnahmen meiner Mülltonnenperformance auf einem großen Monitor angeschaut, aber da wir weder einen S-VHS-Rekorder noch einen Fernseher zuhause hatten, packte ich die Kamera an dem Tag gar nicht aus. Ich musste dann aber am Montagmorgen dringend Ulrich sagen, dass meine wichtigen künstlerischen Aufnahmen auf dem gleichen Band aufgezeichnet waren wie das Turnier, damit er die Kassette nach dem Schnitt beiseitelegte und mir eine Kopie zog.
Aber als ich ins Büro kam, Kamera am Arm und das Stativ geschultert, wollte mich der hektische Redakteur am liebsten gar nicht rein lassen, weil er meinte, ich solle dringend in die Kirche, genaugenommen in den Dom, dort sei die Polizei am Spurensichern, weil ein Diebstahl geschehen sei, und wenn ich erst am Tatort einträfe, wenn die Polizei schon weg sei, dann hätte ich den wirklich schrecklichen Fall, dass ich das NICHTS filmen müsse und das sei das Schlimmste, was uns Fernsehbildberichterstattern passieren könne. Er erlaubte mir gerade mal, die bespielte Kassette mit den Pferdeaufnahmen auf den Stapel zu legen, wo sie Ulrich oder ein anderer Cutter, wer immer es auch sein möge, finden könnte, denn es hatte ja geheißen, dass die Pferdegeschichte gleich am Montag geschnitten werden müsse. Dann schnappte ich mir einen Stapel frischer Akkus und ging mit dem Redakteur in den Dom, der nur ein paar hundert Meter vom Büro entfernt war. Das ist ganz schön weit, wenn man es eilig hat und schwer tragen muss. Es stellte sich heraus, dass die Hetzerei unnötig gewesen war, da die Polizeibeamten, die in einem Seitenschiff rings um eine Absperrung herumstanden, sehr wortkarg waren. Wir konnten nicht erkennen, ob sie etwas taten und, wenn ja, was. Diese unidentifizierbare Tätigkeit schienen sie in Extremzeitlupe zu erledigen. Keiner verriet, ob er etwas wissen würde, oder ob er dieses Wissen preisgeben durfte. Trotzdem machte ich einige Aufnahmen, wobei mich die Polizisten mürrisch anschauten, aber offensichtlich hatten sie keine klare Anweisung erhalten, ob das Filmen und Fotografieren erlaubt sei.
Schließlich hastete ein Geistlicher in brauner Kutte vom Seiteneingang auf uns zu, zwei Fotografen klebten an seinen Fersen. Er gestikulierte und redete ununterbrochen, schaffte es dabei, uns zu begrüßen, ohne in seinem Redeschwall nachzulassen. Während die Fotografen wild losblitzten, bekamen wir erklärt, dass der heilige Liborius entwendet worden sei, oder vielmehr der letzte Knochen, der von ihm übriggeblieben war. Den heiligen Liborius kannten wir natürlich nicht, aber so langsam verstanden wir, dass eine Reliquie samt Reliquiar fehlte, also das Überbleibsel eines Heiligen mitsamt der Aufbewahrungsdose. Da gab es wirklich nicht viel zu filmen, zumal die Polizisten trotz des Redeschwalls des Geistlichen nicht aus ihrer Zeitlupe erwachten. In der Dombibliothek sollte es ein Foto vom geklauten Reliquiar geben, da gingen wir also auch noch hin und filmten das Foto ab. Das machte man damals so, weil es keine E-Mail und keine digitalen Fotos gab. Bestenfalls gab es Faxgeräte, die die Fotos zu schwarzweißen Bilderbrei verunstalteten. Im Nachrichtenbereich waren die Faxgeräte damals das bevorzugte Kommunikationsmittel. Alles, was es an Pressemitteilungen und Neuigkeiten gab, wurde über Faxgeräte gesendet. Als wir in die Redaktion zurückkamen, hatte sich dort schon ein beachtlicher Haufen an Faxpapier angesammelt. Alles unbearbeitete Themen, um deren Sortierung sich der Redakteur nicht kümmern konnte, weil er den gestohlenen Heiligen zu wichtig genommen hatte. Das ärgerte ihn jetzt.
Maria, die als Praktikantin an einem Schreibtisch in der Ecke saß, bekam einen Anschiss, weil sie die Faxe noch nicht vorsortiert hatte, woraufhin sie sich verteidigte, dass sie ihre Zeit mit der Suche nach dem Pferdeturniermaterial verplempert hätte und Ulrich würde mich dringend brauchen, um ein Problem zu lösen. Der Redakteur, der gerade das meterlange Faxpapier überflog, meinte, ich solle jetzt mal kurz dableiben, damit wir gleich besprechen könnten, was heute zu tun sei und ich erklärte Maria gereizt, dass ihr Reitturnier doch dort sei, wo es hingehöre und sie meinte wiederum, dass sie es aber nicht finden könne. Um elf sei die Pressekonferenz im Rathaus, da müsst ihr hin, ließ der Radakteur ungeachtet unseres Disputes verlautbaren, und um 14 Uhr kümmert ihr euch um das Technische Hilfswerk, die haben eine neue Koordinationszentrale für Katastropheneinsätze.
Jetzt durfte ich abtreten, zu Ulrich in den Schnittraum, bei dem auf allen Monitoren Bilder vom letzten Hochwasser zu sehen waren. Ich glaube, es ist was schiefgelaufen, meinte er, während er eine Kassette wechselte. Was denn, fragte ich. Du musst zurückspulen, weil wir hinter den Pferden noch was aufgenommen haben. Eben nicht! Über die Pferde, da schau … hier ist ein Pferd … er zeigte mir eine kurze Aufnahme, die ganz am Anfang des Turniers entstanden sein musste, dann flimmerte das Bild, Störstreifen und es baute sich langsam das neue Bild auf, ich und die Mülltonne. Mach lieber mal die Tür zu, sagte Ulrich und ich starrte gebannt auf meine Performance, von der weite Bereiche im tiefen Schwarz verschwanden, aber das Blech schepperte bei jedem Schlag unglaublich laut, so dass man gut hören konnte, was man wegen der schlechten Belichtung nicht sah. Das ist nicht lang, stotterte ich, und in der Tat, Ulrich spulte kurz weiter, da sahen wir, wie ich gerade mit der Mülltonne fertig war und den Vorschlaghammer hinschmiss. Es erschien wieder ein Pferd, hoppelte über den Parcours, dann nochmal Aufnahmen von unserer Party, auf denen Martin seine beiden Freunde filmte und ich gar nicht zu sehen war. So ein Mist, das konnte doch nicht wahr sein, was hatte Martin, dieser Idiot gemacht? Ulrich spulte wieder etwas vor, bis erneut Maria zu sehen war, wie sie ins Ziel einritt, eine mittelmäßige Aufnahme, weil ich es darauf angelegt hatte, ihren gesamten Parcours zu erwischen. Dann die Siegerehrung und schon brach das Bild wieder zusammen. Es folgte meine Aufnahme von der Filmschleifeninstallation. Das konnte doch nicht wahr sein! Wir Idioten hatten das Material vom Pferdeturnier teilweise überspielt, also unwiederbringlich gelöscht! Die Mühe, die ich mir gegeben hatte, alles möglichst kurz und knapp zu filmen, bewirkte nun, dass kaum etwas übrig blieb. Ich brauche immer erst mal zehn Sekunden für den Preroll, sagte Ulrich, dann ist der kleine Rest auch noch unbrauchbar. Es sei denn, ich ziehe erst mal ‘ne Crash-Kopie. Das sollen wir aber nicht machen, wegen dem Qualitätsverlust beim Kopieren. Wenn Cutter mit ihren vielen Fachausdrücken argumentierten, war ungewiss, ob sie nicht wollten, oder wirklich nicht konnten. Du musst da noch was rausholen, bat ich ihn, und er antwortete, das wird anstrengend. Maria steckte plötzlich ihren Kopf zur Tür herein. Ich schaute sie schuldbewusst an und sagte, Scheiße, es ist das Schlimmste passiert, was passieren kann. Ulrich drückte wirr auf ein paar Tasten seiner Schnittanlage und fügte ganz sachlich hinzu, es sei nur das Zweitschlimmste. Maria reagierte überhaupt nicht darauf. Wir müssen los, sagte sie, ins Rathaus, Pressekonferenz. Tatsächlich, schon 20 vor elf. Also wieder ran an die Kamera, Akkus holen, Kassette einlegen und möglichst geschäftig tun, um von der Katastrophe mit den Pferdebildern abzulenken. Solange Maria nicht fragte, brauchte ich nichts sagen, aber das waren nur 30 Sekunden. Als wir am Lift standen und warteten, schaute sie mich mit einem merkwürdig undefinierbaren Gesichtsausdruck an und fragte, ob ich denn nun das Material vom Reitturnier gefunden hätte. Ja! Ich konnte bestätigen, dass ich es gefunden hatte, aber ich musste, als wir im Lift nach unten fuhren, einschränkend hinzufügen, dass das Material nicht ganz in Ordnung sei. Wie? Nicht in Ordnung? Nicht vollständig, da fehle wirklich ein Teil, eigentlich der größte Teil und ich könne auch nicht erklären, wie das habe passieren können. Gleichzeitig dachte ich mir, dass ich natürlich wusste, dass es daran lag, dass wir das Material gelöscht hatten, dass es total fahrlässig gewesen war, die Kamera unbeaufsichtigt auf der Party herumstehen zu lassen, dass es das mindeste für einen Kameramann gewesen wäre, eine eigene Videokassette zu benutzen und die Pferdeturnierkassette an einen sicheren Ort zu verwahren, aber ich meinte genaugenommen, dass ich mir nicht erklären konnte, WIE wir es gelöscht hatten, zumal wir nur geringfügig betrunken gewesen waren. Wenn wirklich was schief geht, soll es so aussehen, als sei die Technik schuld, die Technik verstehen nur die Techniker und wenn ich genauer darüber nachdachte, schien es mir wirklich nicht nachvollziehbar, wie uns das passieren konnte, die einfachste Erklärung war wirklich, dass der Camcorder von alleine die Rückspulfunktion ausgelöst und uns damit ein bösen Streich gespielt hatte. Vielleicht waren es aber auch die Mainzelmännchen gewesen. Wie unvollständig, fragte Maria, weil ich gar nichts mehr sagte, sondern nur vor ihr her zum Auto trottete und die Technik verstaute. Sollte ich ihr gleich gestehen, wie unglücklich die Lage war, oder konnte ich sie ein bisschen vertrösten, damit sie noch Hoffnung hatte, während wir gemeinsam unterwegs waren? Ziemlich unvollständig, sagte ich schließlich beim Einsteigen, ich drehe dir dafür einen schönen Bürgermeister. Aber ich will keinen Bürgermeister, sondern die Pferde! Oh nein, du brauchst auch den Bürgermeister, vergiss die Pferde! Die vergesse ich nicht, und weißt du, dass in zwei Wochen das nächste Turnier stattfindet? Sie war hartnäckig, aber offensichtlich trug sie es mit Fassung. Die Pressekonferenz erheiterte uns, weil der Schlips des Bürgermeisters genau die gleiche Farbe hatte wie die Bluse seiner Referentin und der Pressesprecher die passenden Socken dazu trug. Sie berichteten über die üblichen Banalitäten: Straßenbau, Gebührenerhöhung und Hochwasserschutz. Zu guter Letzt fiel ihnen aber tatsächlich ein, dass im Dom die Reliquie des heiligen Liborius entwendet worden sei, was ja gar nicht ihre Zuständigkeit berühre, da es sich um eine reine Kirchenangelegenheit handle, aber der Bürgermeister mit seinem orangefarbenen Schlips wies darauf hin, dass die Stadt unter dem besonderen Schutz des Heiligen stehe und er inständig hoffe, dieser Schutz bliebe auch erhalten, wenn die Reliquie verschwunden sei. So ein Unfug, dachte ich mir und freute mich, dass die Referentin den Bürgermeister angesichts dieser Aussage stirnrunzelnd und strafend anschaute. Aber der Pressesprecher setzte noch einen drauf und empfahl den Bürgern der Stadt, zu beten. Da hätte ich mich fast verschluckt und musste meinen Heiterkeitsausbruch unterdrücken. Die hofften, sie könnten die Reliquie wieder herbeibeten. Und ich hoffte, Ulrich würde unterdessen irgendwie unser gelöschtes Pferdematerial herbeizaubern, tat er aber nicht. Als wir zurückkehrten, war er immer noch mit den Hochwasserbildern beschäftigt, die für den Studiogast vom Katastrophenschutz vorgesehen waren. Er schimpfte leise vor sich hin, dass ihm das alles nicht gefalle, das Rohmaterial nicht, der Schnitt nicht und die Probleme mit Kameramännern, die ihr eigenes Material löschten, gingen ihm auch ganz schön auf den Sack.
Und mir geht die Kamera auf den Sack, entgegnete ich, denn ich war gerade dabei, einen Test durchzuführen. Am Schnittplatz gab es eine große Digitaluhr mit Sekundenanzeige, die filmte ich, stoppte dann die Kassette und spulte zurück. Schaute mir dann die Uhr im Sucher an. An der Uhr konnte ich genau ablesen, wann ich die Kassette stoppte. Man hörte am Geklacker des Laufwerkes, dass der Rekorder das Band ausfädelte. Als ich in Aufnahmebereitschaft ging, klackerte es nochmal, der Rekorder fädelte das Band wieder ein. Bei Videorekordern wird das Band um eine große Kopftrommel herumgeschlungen, und die Kopftrommel dreht sich in einem Affenzahn, denn es müssen 25 Bilder in jeder Sekunde aufgenommen werden, und jedes Bild besteht aus 768 Zeilen und für jedes Bild schreibt der Magnetisierungskopf, der sich auf der rotierenden Kopftrommel befindet, eine schrägliegende Spur auf das Magnetband. Es war beachtlich, dass das alles überhaupt funktionierte. Aber wie ich bei der Aufnahme von der Digitaluhr sehen konnte, sorgte dieser Mechanismus dafür, dass das Band beim Einfädeln, oder beim Ausfädeln, zwanzig Sekunden nach hinten gezogen wurde, und deshalb wurden diese zwanzig Sekunden gelöscht, wenn man das Bandmaterial spulte, stoppte und erneut eine Aufnahme startete. Das erklärte, warum beim Reitturnier einige kleine Stellen fehlten, aber es war natürlich keine Entschuldigung für unser Versagen auf der Party. Trotzdem erleichterte es mich. Ich konnte dem Camcorder eine Mitschuld anhängen und von mir ablenken. Das versuchte ich sofort, als Maria nochmal zu uns kam. Sie fragte, ob wir gerade löschten oder was Konstruktives machten. Die Kamera ist schuld, rief ich und es schien sie zu freuen. Obwohl der launische Chef nichts von unseren Problemen wusste, hatte er gesagt, dass vom Turnier nur eine Kurznachricht gesendet werden solle, weil wir einen anderen Beitrag dringend auf Sendung bringen müssen, damit der Werbekunde nicht sauer werde. Ich atmete auf und Ulrich sagte, eine Kurznachricht könne er uns schnell zusammenhacken, inklusive Maria auf dem Pferd, auch wenn das mit dem zerstückelten Material und den daraus resultierenden Timecodesprüngen etwas komplizierter sei als sonst. Ich hätte gerne ein paar spöttische Bemerkungen gemacht, zu diesen vielen Widrigkeiten, die angeblich den Cuttern das Leben erschweren, dabei sitzen die doch immer im Warmen, amüsieren sich über die Fehler der anderen und das wichtigste Ziel ist es, die vielen Knöpfe ihrer Schnittsteuerung so schnell zu bedienen, dass keine Außenstehender es jemals begreifen wird, was sie da überhaupt machen. Als Kameramann war man angreifbarer, wenn da was schief geht, war es im schlimmsten Fall unwiederbringlich verloren, so wie Marias Pferdeaufnahmen. Die paranoide Angst, ich gehe irgendwo hin und filme, aber dann, wenn ich zurückkehre, ist nichts auf den Bändern, oder das falsche, oder ich schaffe es gar nicht, bis zu dem Ort zu kommen, wo ich die Aufnahmen machen soll, ließ im Lauf der Jahre nach, machte sich aber in schwachen Momenten immer wieder bemerkbar. Diesmal kam ich trotz allem glimpflich davon, stattdessen war es Maria, die eine kritische Bemerkung vom Chef über sich ergehen lassen musste. Das war nicht fair, quasi ein Kollateralschaden der Bemühungen von meinem Versagen abzulenken. Denn bei der Abendbesprechung hielt ich einen geschwätzigen Vortrag darüber, dass man mit den neuen Camcordern höllisch aufpassen musste, weil sie, wie ich herausgefunden hätte, bis zu 20 Sekunden löschen würde, wenn man im Material herumspult. Das hatte noch nicht mal der uncoole Kameramann gewusst und der Chef bedankte sich für meine gewissenhafte Technikkontrolle, ohne zu fragen, wieso ich diese Tests eigentlich gemacht hatte. Die Kurznachricht über das Pferdeturnier wurde dann erst im weiteren Verlauf der Besprechung vom Chef als ziemlich unzusammenhängender Mist beschimpft, wobei er Maria als Sündenbock ausmachte und ihr empfahl, sie solle nicht selber reiten, wenn sie fürs Fernsehen unterwegs sei. Mein peinliches Versagen blieb dabei unerwähnt, Maria und Ulrich, die als einzige davon wussten, hielten die Klappe und ich sagte auch nichts.
17
Der Chef konnte ein ziemliches Ekel sein, deshalb waren wir uns untereinander immer einig, dass er an allem schuld sei. Auch in Fällen von unbestreitbarem Fehlverhalten, wozu zweifellos mein gelöschtes Pferdematerial gehörte, galt die alles umfassende Standardausrede, dass wir ja viel zu wenig Geld bekämen und viel zu viel Überstunden leisten müssten und der ganze Laden ein Ausbeuterparadies erster Güte sei. Drastische Pannen könnten unter den bei uns herrschenden Bedingungen nicht grundsätzlich vermieden werden. In der Livesendung gab es manchmal falsche Einblendungen, falsche Beiträge oder falsche Blueboxbilder. Aber meistens klappte es am frühen Abend eine fertige und fehlerfreie Sendung live in das Kabelnetz einzuspeisen, obwohl wir ein zusammengewürfelter Haufen von Praktikanten und Quereinsteigern waren. Jeder hatte seinen Stolz und wollte seine Aufgaben, erfolgreich erledigen. Wir fanden unsere Sendung schwachsinnig, die Zuschauer doof und der Chef löste manche Hassattacke bei uns aus. Trotzdem kamen wir pünktlich und arbeiteten am Abend, bis alles Notwendige erledigt war.
Mir genehmigte der Chef nach drei Monaten die erste Gehaltserhöhung, die mich von einem niedrigen auf einen mittleren Praktikantenlohn anhob. Maria ging nach dem Ende der Semesterferien zurück in die Universität, aber weil es bei uns viel zu tun gab, machte sie im Nebenjob als Reporterin weiter. Wenn wir beide zum Dreh fuhren, waren wir ein eingespieltes Team, auch wenn wir keine Versuche mehr unternahmen, die Freizeit gemeinsam zu verbringen. Weder Pferdemädchengrillpartys noch Kaffeetrinken in meinem Lieblings-Alternativcafé für Systemkritiker. Nur einmal genehmigten wir uns eine gemeinsame Flasche Wein. Es war wieder ein Wochenende, diesmal ein Sonntag, an dem wir gemeinsam drehen mussten. Es ging um den stärksten Mann der Welt, der für einen wohltätigen Zweck auf einem Volksfest ein ganzes Kinderkarussell hochheben wollte. Der Erlös sollte dem Kindergarten in dem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt galt, zugute kommen. Es war zu erwarten, dass wir das schnell erledigten. Wenn die Einsätze nicht lange dauerten, kamen sie mir manchmal vor wie ein Familienausflug. Zuvor saß ich zu Hause, wir tranken im Hof Kaffee: Gitarren-Hans, Tina und die blonde Bedienung, die zu dem Zeitpunkt immer noch meine Geliebte war. Dann klingelte das Telefon. Diejenigen, die meistens anriefen, waren alle da. Als ich zum Telefon ging, dachte ich, es sei bestimmt Maria, die mir irgendeine Terminänderung mitteilen wollte, aber sie war es auch nicht, sondern Martin. Der hatte nichts mehr von sich hören lassen, seit er damals auf der Party an der Löschung des Videomaterials beteiligt gewesen war, es herrschte Funkstille zwischen uns beiden. Abends, nach der Arbeit, hatte ich ihm damals schwere Vorwürfe auf den Anrufbeantworter gesprochen. Letztendlich kam ich zu der Einsicht, dass ich selbst schuld gewesen sei. Als Kameramann hat man auf die Kamera aufzupassen, auf das gefilmte Material ebenfalls. Aber Martin hätte sich durchaus entschuldigen können. Wenn er sich entschuldigt hätte, hätte ich ihm gesagt, dass ich es nicht mehr schlimm fand und es sowieso keinen nennenswerten Schaden angerichtet hatte.
Als er dann an jenem Samstag anrief und mir sagte, dass der falsche Film weg sei, wusste ich erst gar nicht, was er mir sagen wollte, denn so, wie ich es verstand, ging es darum, dass mein Super-8-Film „Der falsche Mann zur falschen Zeit im richtigen Film“ verlorengegangen sei und das konnte nicht sein, der Film war ein Unikat, es gab ihn nur als einzelnes Exemplar, es existierte nicht einmal eine schlechte Videokopie und er war erst zwei Mal in der Öffentlichkeit gezeigt worden, bei der Premiere und in unserer Scheune. Wenn er verschwunden wäre, gäbe es ihn nicht mehr und das wäre eine absolute Katastrophe, doch je länger ich auf Martin einredete und ihn fragte, ob das ein Witz sei, ob er mich verarschen wolle oder das Verschwinden des Filmes als Kunsthappening oder Performance zu inszenieren beabsichtige, desto klarer wurde, dass ihm der Film schlicht und ergreifend in der U-Bahn gestohlen worden war.
Die ganze Tüte sei entwendet worden, in der sich leider auch noch unglaublich wichtige Disketten befunden hätten, wobei ich mir gar nicht vorstellen konnte, was auf diesen Disketten hätte gewesen sein können, damit sie auch nur halb so wichtig wie mein unwiederbringlicher, unersetzlicher falscher Film waren. Digitaler Kram kann doch einfach noch einmal kopiert werden, aber mein Film, der darf nicht weg sein, maulte ich Martin durchs Telefon an und er gab zu, dass die Disketten Daten enthielten, die er sträflicher weise nirgends gesichert hätte, da sei ihm jede Menge Arbeit verlorengegangen, die er dann ganz schnell, in durchgemachten Nächten, nochmal reinstecken musste, um seine Semesterarbeit zu retten, aber gleichzeitig sei er ja auch zur Polizei und zum Fundamt gerannt und habe alles probiert, alle verrückt gemacht, wegen seiner geklauten Aldiplastiktüte. Ja, es sei tatsächlich eine banale Aldiplastiktüte gewesen, die ihm gestohlen worden sei, aber ohne Whiskey, Wein oder Zigaretten, nur ein paar Bücher und eine Jacke für den Abend und, wie gesagt, der Film und die Disketten. Ich solle mir nicht vorstellen, dass er die Aldiplastiktüte flaschenklappernd durch die U-Bahn getragen hätte, da würde man die Diebe anlocken wie das Licht die Motten, es sei wirklich keine Fahrlässigkeit gewesen. Er wäre auf dem Weg zu einem total engagierten Hinterhofkino gewesen, wo er schon zwei Mal mit dem Programmdirektor gesprochen habe wegen dem falschen Film und jetzt hätten sie sich den Film anschauen wollen, aber da war plötzlich die Tüte weg. Einfach verschwunden! Da war auch ein Musiker in der U-Bahn, vielleicht hatte der ihn abgelenkt, vielleicht auch nicht, es sei ihm ein Rätsel, wie das habe passieren können und er entschuldige sich, obwohl er wüsste, dass es dafür keine Entschuldigung gab. Er halte es ja selbst für einen entsetzlichen Verlust und dann sei er verdattert vor dem Programmdirektor gestanden, der ja eigentlich auch nur ein erfolgloser Filmemacher sei und habe sagen müssen, dass er den Film soeben verloren habe, was den Programmdirektor fast zu Tränen gerührt habe. Er habe gefragt, ob es eine Kopie gäbe und Martin antwortete nein und er habe gefragt, ob es eine Videoabtastung gäbe und Martin sagte wieder nein, also sei es das alleinige Original und Martin sagte ja und da empfände er natürlich ein wahnsinniges Mitgefühl mit ihm, und sie bekamen einen riesen Hass auf diese Junkies, die überall alles wegklauten, nur um ihre dreckigen Drogen zu bezahlen und das Verheerende sei ja, dass so ein Junkie, aber auch jeder andere Dieb überhaupt keinen Nutzen von so einer Super-8-Spule mit dem tollen Film habe, der schmeißt das ja bestimmt in den nächsten Mülleimer oder in die Spree. Es sei denn, er versucht, ihn auf dem Flohmarkt zu verkaufen, dann könnte der Film vielleicht wieder auftauchen, oder gerät an einen Sammler, vielleicht sogar einen Produzenten.
Martin verstummte, ich fragte: Und jetzt? Er antwortete, er hätte schon alles versucht, aber er würde auch weiterhin alles versuchen, nochmal zum Fundbüro gehen oder nochmal zur Polizei und auch zum Flohmarkt und schauen, ob jemand meinen Film anbiete, er kenne da ein paar Händler, aber, das müsse er gestehen, die Chancen seien so gut wie Null Komma null null null. Da gab ich ihm Recht. Der Film war futsch und Martin ein Idiot. Das sagte ich ihm und haute den Hörer hin. Die anderen hatten aufgrund meiner erregten Antworten schon verstanden, dass irgendwas Schlimmes passiert sei, aber ich musste los, ich warf ihnen nur ein paar Halbsätze hin, der Film sei verlorengegangen, durch Martins Schuld. Im Gehen schnappte ich mir Jacke und die Mütze und fuhr mit dem klapprigen Kleinbus davon. Unterwegs regte ich mich über Martin auf, dann lud ich Maria ein. Sie musste sich alles anhören, meinen Ärger, meine Wut und alles Negative, was mir zu Martin einfiel. Jetzt band ich Maria auch auf die Nase, dass vermutlich Martin die Hauptschuld daran trug, dass das wahnsinnig gute Material vom Reitturnier, das ich ihr zuliebe mit besonders viel Mühe gedreht hatte, verlorengegangen sei. In meiner Erregung drehte ich mir alles so zurecht, wie ich es gerade brauchte. Es ging nur darum, meine Wut zu rechtfertigen. Martin war weit weg, Maria ganz nah und eine geduldige Zuhörerin. Ich nutzte die Gelegenheit und entschuldigte mich bei ihr dafür, dass ich die Vorwürfe des Chefs damals auf ihr sitzen ließ und schon schimpfte ich weiter über Martin, den Blödmann.
Wir erreichten das Stadtteilkinderfest genau zur richtigen Zeit, denn der stärkste Mann der Welt fing seinen Rekordversuch genau in dem Moment an, als ich die Kamera drehfertig in die Stativplatte einrastete. Er, ein mehrfacher Olympiamedaillengewinner, stieg auf das hohe Podest, warf sich riesige Gurte über die Schulter und zog dann das Karussell mit den 12 Kindern, was summa summarum 462 kg Gewicht ergab, für 30 Sekunden ein paar Zentimeter nach oben, so dass es sich einmal im Kreis drehte, die Kinder jubelten, dann stieß er ein gigantisches Stöhnen aus und setzte das Karussell wieder ab. Die Zuschauer klatschten, irgendein Sponsor übergab der Kindergartenchefin den Scheck über 4.620 Deutsche Mark, wir interviewten den Gewichtheber, fertig. Das alles bei fantastischem Herbstwetter mit einem dunkelblauen Himmel zwischen großen Bäumen, deren Blätter in einem kräftigen Grün leuchteten.
Beim Einladen der Technik wurden wir daran erinnert, dass wir eine Kiste mit Weinflaschen im Wagen hatten, die uns ein Werbekunde bereits einige Tage vorher mitgegeben hatte, aber weil wir beim Ausladen immer die Hände mit der Kameratechnik voll hatten, war sie im Auto geblieben. Wir nahmen uns eine Flasche, holten uns vom Kinderfest Pappbecher und spazierten dann am Parkplatz vorbei zu einer kleinen Wiese mit Grillplatz, von der man einen wunderbaren Blick auf die Stadt hatte, die vor uns im Tal lag. An den Hängen des Tals die Weinberge, aus denen der Wein stammte, den ich gerade entkorkte. Maria und ich ließen den Blick über die Stadt schweifen und redeten über die vielen Orte, an denen wir schon gedreht hatten. Mir fiel beim Blick auf die Stadt zum ersten Mal auf, wie unglaublich viele Kirchtürme zwischen den Häusern in die Höhe strebten. Aber wir befanden uns noch weiter oben, an der Kante, wo der Hang des Tales in die Ebene übergeht. Ich fand, dass Maria an dem Tag besonders gut aussah und besonders nett zu mir war. Wir saßen nebeneinander, wegen des Blicks in das Tal. Nachdem wir mehrmals nachgeschenkt und die Weinflasche geleert hatten, waren wir soweit zueinander gerückt, dass wir uns berührten. Damit war allerdings der Höhepunkt an Intimität zwischen uns erreicht, nicht nur in Bezug auf diesen Tag. Wir brachen auf, um die Technik ins Studio zu bringen, von dort wollte sie zu Fuß in ein Café gehen, wo ihr Freund auf sie warten würde. Ich fuhr aufs Dorf und zu Hause nahm ich noch eine Flasche aus dem Auto, trank sie mit Tina und am Abend blieb ich lang in der Kneipe, in der meine Geliebte hinter der Bar stand. Der Abend war ruhig, ein Sonntagabend eben, aber ein paar Gäste waren dann doch so hartnäckig, dass ich den Thekenschluss nicht schaffte und allein mit dem Fahrrad nach Hause fuhr.
Am nächsten Morgen wäre ich gern liegen geblieben. Mit der Hoffnung, es könnte ein ruhiger Tag werden, fuhr ich zur Arbeit. Dort empfing mich Maria hektisch mit der Neuigkeit, dass der heilige Liborius wieder aufgetaucht sei, aber niemand wusste, wo er war. Zwar gab es ein Fax der Polizei, in dem mitgeteilt wurde, die Reliquie sei in einer Kirche gefunden und zur Polizei gebracht worden, aber als wir sie filmen wollten, hieß es, die Reliquie sei nicht, oder nicht mehr im Polizeipräsidium. Auch im Dom und bei der Kirchenverwaltung wusste zunächst niemand Bescheid. Schließlich stellte sich heraus, dass sich die Reliquie bei einem Goldschmied befand, der sie im Auftrag der Kirche überprüfen und reinigen sollte. Da zog mich Maria hinter sich her, damit wir die ersten seien, die den verschwundenen Liborius vor die Linse bekämen mitsamt einem Statement des offiziellen Bistumsgoldschmiedes. Der war auch ganz aufgekratzt, aber empfing uns freundlich, denn es war ja ein Glückstag! Nicht nur für ihn, sondern für alle Bürger der ganzen Stadt, weil nun die Reliquie zurückgekehrt sei, weil der Dieb durch die Gebete der Gläubigen seiner Verfehlung bewusst und reumütig geworden sei und das Reliquiar in einer Plastiktüte in einer Stadtteilkirche abgelegt hätte, genaugenommen soll es eine Aldiplastiktüte gewesen sein, fügte der Goldschmied hinzu und erging sich, ohne eine Zwischenfrage zuzulassen, in einer langen Ausführung über das fromme Leben und das Leiden des seligen Liborius, der den Peinigungen seiner Widersacher mit Gottesfurcht und Standhaftigkeit entgegengetreten sei, dessen Rückenwirbel zum Zeichen der Standhaftigkeit in Perlen, Diamanten und Gold gefasst seien, vielleicht aber auch in etwas anderem, denn es folgten unglaublich viele Details, die ich mir nicht merken konnte und die, wie ich dem Zählwerk meiner Kamera entnehmen konnte, stolze 11 Minuten lang waren. Er beendete seine Rede mit der Aussage, er selbst sei der festen Überzeugung, dass für das Wiederauffinden der Reliquie der starke Glaube der Gemeindemitglieder und die Standhaftigkeit des Heiligen ausschlaggebend waren. Nun wusste ich also, woran es mir mangelte.
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