Medialismus Teil V (Internet)

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37.

Noch bevor Tina aus Australien zurückkehrte, begann in der Provinzstadt mein Angestelltenverhältnis. Wie sie mir aufgetragen hatte, besorgte ich mir eine eigene Wohnung, allerdings nicht in Berlin. Die Wohnung war ziemlich schäbig und schlecht zu beheizen, aber das störte mich erst einmal nicht. An der Universität gab es für mich mehrere kleine Räume und einen Keller, in denen all die Sachen untergebracht waren, die ich für meine Filme brauchte. Natürlich sollte ich diese Technik nur betreuen oder vielmehr die Studenten betreuen, wenn sie die Technik benutzen wollten, aber niemand hielt mich davon ab, wenn ich mich selbst betreute.

So hatte ich also in meinem sogenannten Medienlabor ein kleines Sortiment an 16mm-Geräten inklusive Filmvorräte, eine professionelle Videokamera mit Schnittpatz, wie es sie auch beim Lokalfernsehen gegeben hatte, eine tolle Fotoausrüstung und tatsächlich drei Diskettenkameras. Alle Architekturstudenten waren damals scharf darauf im richtigen Moment, also dann, wenn ihr Architekturmodell fertig gebastelt war, eine von diesen Kameras ausleihen zu dürfen. Kaum kam die Kamera zurück, stand schon der nächste Student bereit, um sie mir aus den Händen zu reißen. Es ging darum, ohne Zeitverzögerung Bilder zu machen und in den Computer hinbringen zu können. Was später über USB-Anschlüsse und SD-Karten und noch später mit Handy und Internet zur trivialen Selbstverständlichkeit wurde war damals nur mit der Diskettenkamera machbar: digitale Verfügbarkeit der Fotos ohne Verzögerung und ohne Kompatibilitätskomplikationen. Denn Diskettenschlitze hatten damals alle Computer. Andere Digitalkameras brauchten Spezialkabel oder Spezialsoftware und selbst das Brennen einer lausigen Daten-CD war eine Angelegenheit für Fortgeschrittene. Deshalb war die Diskettenkamera die einzige Kamera, die nicht nur problemlos funktionierte, sondern es funktionierte genauso problemlos, ihre Bilder zu übertragen: von der Kamera auf den Rechner oder von einem Rechner zum anderen. Der Diskettenkamerahype war ein Triumph der Problemlosigkeit über die Qualität. In der begrenzten Welt rings um mein Medienlabor wurde das vorweggenommen, was später mit den Smartphones weltweit den Umgang mit Fotografie umkrempelte. Auch wenn alle ambitionierten Fotokünstler, die bei mir vorbeikamen, über die lächerlich geringe Auflösung der Diskettenkamera schimpften, wollten niemand, der es eilig hatte, erst einen Film entwickeln und dann die Abzüge scannen. Trotzdem mussten sich die neuen Technologien daran messen, was die vorhandene und bewährte Analogtechnik leisten konnte. Das war in vielen Fällen ein unfairer Vergleich, denn meist wurde hochwertige Spezialtechnologie mit schnelllebiger Unterhaltungselektronik verglichen. Kein Wunder, dass es die digitale Unterhaltungselektronik bei den Filmfachleuten schwer hatte. Wenn es ums Fotografieren ging konnten die digitalen Fotoapparate schnell aufholen, beim bewegten Bild sollten noch etliche Jahre vergehen. Auch die Diskettenkamera hatte einen Videomodus und der war von der Qualität her wirklich eine Zumutung. Wenig Auflösung, schlechte Kontraste, farbstichige, matschige Bilder und Blockartefakte. So nannte man es, wenn durch die viel zu starke Komprimierung Vierecke im Bild herumtanzten. Als wäre das nicht schlimm genug, durfte keine Aufnahme länger als 15 Sekunden dauern, denn mehr passte nicht auf die Diskette. Zu guter Letzt war auch der Ton blechern und wurde über ein eingebautes Mikrofon mit Kugelcharakteristik aufgenommen. Ein externes Mikro konnte nicht angeschlossen werden. Es war, als hätten wir das Filmemachen plötzlich neu erfunden, stünden wieder ganz am Anfang und wüssten nicht, ob unser Film ein Gruß aus der Zukunft oder aus der Vergangenheit sein soll. Zur Gegenwart schien er nicht zu gehören.

Obwohl die Idee, einen Film mit der Diskettenkamera zu drehen, von Martin stammte, teilte er mir mit, er hätte überhaupt keine Zeit für dieses Projekt. Jede Menge Aufträge für seine Firma würden verhindern, dass er, wie versprochen, zu mir in die Provinz käme. Also musste ich mir neue Mitstreiter suchen, was kein Problem zu sein schien, da ich auf ein großes Reservoir von Architekturstudenten zugreifen konnte. Da waren einige dabei, die sich um ein nonkonformes Auftreten bemühen und eine auffällige Affinität zur Subkultur zeigten. Damit wollten sie vermutlich von ihrer Zielstrebigkeit und ihrem Ehrgeiz ablenken. Vor allem Karsten, ein blondierter Punk, war regelmäßiger Gast in meinem Medienlabor und eifriger Benutzer der Diskettenkamera. Als ich ihm von dem Filmprojekt erzählte war er begeistert und bot mir an, dass wir in seinem Wohngemeinschaftshaus drehen könnten. Es war gerade Dienstag, am Mittwoch würde dort eine Party stattfinden. Das sei die richtige Gelegenheit, alle diejenigen kennenzulernen, die als Helfer und Helfershelfer für den Film in Frage kämen, sagte der Karsten und ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun.

Mühsam vertrödelte ich am Mittwoch nach Feierabend die Zeit. Obwohl ich erst nach zehn Uhr abends an der angegebenen Adresse auftauchte, herrschte dort noch entspannte Ruhe. Es standen schon einige Leute herum, die den Eindruck erwecken wollten, als seien sie noch gar nicht richtig da. Sie hatten viel Aufwand betrieben, dem verwitterten Altbau eine extravagante Note zu geben. Später merkte ich, dass zwischen den verschiedenen Häusern, die ausschließlich aus Studenten-WGs bestanden, eine heimliche Konkurrenz herrschte, wer die coolsten Partys macht. Bevorzugte Ausstattungsobjekte waren Relikte aus der DDR, blinkende Ampelmännchen, Lampen aus verfallenen Industrieanlagen oder große und kleine Schilder, die von ideologisch veralteten Institutionen kündeten. Ein Mosaik mit dem Händedruckemblem des FDGB diente als Tischplatte, war jedoch kaum zu erkennen, weil Flaschen und Gläser einen Großteil der Fläche bedeckten. Karsten tauchte neben mir auf und drückte mir eine Bierflasche in die Hand. Die Räume im Erdgeschoss gehörten zum gemeinschaftlich genutzten Teil des Hauses, es gab dort ein Badezimmer mit einer Wanne für alle und zwei weitere Räume, die als Wohnzimmer galten. Da könnten wir dann auch mal eine Filmvorführung veranstalten, meinte Karsten, am besten die Premiere. Das Haus als Filmschauplatz war ein verlockendes Angebot, weil ich die Bewohner auch gleich mit nutzen konnte. Je länger ich dort blieb, desto besser gefiel mir alles, bis ich keine Zweifel mehr hatte. Auch Karsten steigerte sich während unseres Gesprächs in Euphorie hinein und machte mir eine Menge Vorschläge für den Film. Die Frauen müssten sich auf der Liegewiese räkeln, sagte er, die Liegewiese sei eine Installation von Karstens Mitbewohner und wir standen direkt davor. Es war ein aus alten Schaumgummimatratzen gestapelter Kubus in dem ein Lautsprecher verborgen war, der eine Toncollage abspielte. Man konnte es nur hören, wenn man das Ohr an die Matratzen drückte. Ich legte mich auf die Liegewiese und lauschte, tatsächlich konnte ich leise die verführerischen Stimmen von Frauen hören, die ihre sexuelle Verfügbarkeit anboten. Alles aus Telefonhotlines, sagte Karsten, der es aber nicht selbst aufgenommen habe, es sei sein schwarzhaariger Freund und WG-Kumpan gewesen, der dazu unter einem Vorwand das gute Richtmikrofon aus meinem Medienlabor ausgeliehen hatte. Die Telefonsexrecherche und die darauffolgende Telefonsexaufnahme hatten für eine deftige Rechnung gesorgt. Eine Zahlungsaufforderung über dreihundert Mark sei Karsten, auf dessen Namen der Telefonanschluss angemeldet war, völlig unerwartet ins Haus geflattert. Sein Mitbewohner musste zugeben, dass er an einigen einsamen Abenden diese neuartige Kommunikationstechnologie ausprobiert, aber sich nicht einfach nur der Selbstbefriedigung hingegeben, sondern, darauf aufbauend, künstlerisch die Initiative ergriffen hätte.

Die Aufnahmen schnitt er mit dem MiniDisk-Rekorder zusammen und dann habe er sich aus dem Studentenwohnheim einen Stapel ausgemusterter Matratzen geholt, an denen bestimmt bereits der eine oder andere Tropfen Selbstbefriedigungssperma klebte.

So sei die Liegewiese als temporäres Kunstwerk für den Partyabend entstanden und nun drangen aus ihrem Inneren vulgärerotische Avancen nach draußen. Mit gefiel das sehr gut. Im Laufe des Abends legte ich mich immer wieder hin, um zu lauschen. Aber zunächst unterhielt ich mich ausgiebig mit Karsten, der alle männlichen Studenten zu kennen schien und so tat, als wisse er, auf welche Frau jeder von ihnen gerade scharf war. Für meinen Film sollten sich dann möglichst viele von diesen Frauen, zumindest aber die, auf die er und sein Kumpel es abgesehen hatten, auf der Liegewiese räkeln. Als Parallelmontage würden dazu junge Männer bei ihren Junge-Männer-Ritualen zu sehen sein: auf der Hantelbank, bei einer exotischen oder auch banalen Sportart, beim Autofahren. Als intellektueller Höhepunkt sollte ein Student dabei gezeigt werden wie er das größte und schönste Architekturmodell aller Zeiten baue.

Die Auswahl der Sportarten und des Autos bot viel Diskussionsstoff. Jeder vertrat eine andere Meinung. Immer wieder quatschten wir vorbeikommende Frauen an, damit sie eine Stellungnahme darüber abgaben, was sie am meisten beeindrucken würde, welche Sportart, welche Autos. Einen amerikanischen Straßenkreuzer wollte ich auf keinen Fall, aber den hatten wir ja auch gar nicht. Karsten wollte ein Cabrio, wobei im Bekanntenkreis nur ein banales Golf Cabrio vorhanden war, also engte sich im Lauf des Abends die Auswahl auf einen roten Käfer und einen rostigen 80er-Jahre Mercedes ein, bei den Sportarten lief es auf Capoeira, Baseball und Windsurfen hinaus. Die Diskussion verflachte nach einigen Bieren, aber das Thema funktionierte die ganze Nacht hindurch, jeden und jede anzusprechen.

So geriet ich an den Kommunikationstechnologieexperten. Er kam mit suchendem Blick in die Gemeinschaftswohnung und setzte sich auf die Liegewiese. Dann schaute er sich um, verschwand wieder und kehrte mit einem Bier zurück. Wir gerieten ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass er neben mir einer der wenigen Nicht-Studenten war. Er sei, so wie ich, erst einige Wochen zuvor an die Provinzuni gekommen und arbeite nun am Lehrstuhl Kommunikationstechnik, also dort, wo man sich Gedanken über das Innenleben von Videokameras macht. Sein Diplom als Elektrotechniker stammte aus Süddeutschland und nun lebte er tatsächlich in der Provinzstadt. Zwangsläufig verwickelte ich auch ihn in ein Gespräch über meine Filmaktivitäten und er entpuppte sich als entschiedener Befürworter des amerikanischen Straßenkreuzers. Er behauptete, dass dies doch die einzige Motivation sein könne, überhaupt ein Auto ins Spiel zu bringen. Meine Abneigung gegen alle Ikonen und Symbole des Hollywoodkinos wollte er nicht gelten lassen, weil ich doch meine Filme sowieso nicht dort drehen würde. Sein eigener Opel Kadett kam in seiner braven Banalität als Filmauto auch nicht in Frage. Trotz meines Ansatzes, die Szenerie durch minderwertige Bildqualität zu unterhöhlen, hatte diese Karre auch als ironisches Anti-Prestigeobjekt zu wenig Potential.

Dass wir mit der Diskettenkamera drehen wollten, nahm der Kommunikationstechnologieexperte emotionslos zur Kenntnis, obwohl, oder gerade weil er mir einiges an Wissen über digitale Technologie voraushatte. Die Datenrate sei eben etwas niedrig, das habe Konsequenzen, aber egal, die Entwicklung sei im Gange, was heute noch nicht gehe, gehe morgen, oder übermorgen, aufhaltbar sei das nicht. Die Videotechnik mit ihren Unzulänglichkeiten habe ja nur eine Steigbügelhalterfunktion eingenommen und werde im Lauf der Zeit in der digitalen Informationstechnik aufgehen. Noch sei die Informationstechnik eine lahme Krücke, wer wolle schon mit einem Auto fahren, das sich langsamer als Schrittgeschwindigkeit fortbewege, da könne man ja gleich laufen. Der notwendige Geschwindigkeitszuwachs sei ein anspruchsvolles technisches Problem, aber die Lösungen schon unterwegs. Der alte, chemische Film, der habe es ja ganz einfach gehabt, das sei wie Stempeln gewesen, einmal den Stempel aufs Papier geknallt, schon sei das ganze Bild gespeichert gewesen, also technisch habe das ja bedeutet, dass das Licht aus der Optik für eine lächerliche Fünfzigstelsekunde aufs Negativ gefallen sei und alle chemischen Moleküle hätten sofort und gleichzeitig reagiert.

Die arme Digitaltechnik hingegen, die müsse seriell arbeiten, das sei, wie wenn man das vollgeschriebene Blatt Papier nicht kopiere, sondern abschreibe, ich solle mir doch mal vorstellen, 25 Seiten pro Sekunde mit der Schreibmaschine abzutippen, da würden die Finger ganz schön flott fliegen, aber erschwerend käme hinzu, dass die Seiten ziemlich groß seien, nämlich jede 20 Quadratmeter, wenn man die Auflösung eines High-DefinitionBildes zugrunde lege. Geschwindigkeit sei zwar keine Hexerei, aber da werde die technologische Umsetzung durchaus anspruchsvoll, denn die Diskettenkamera schaffe ja gerademal ein Zehntelpromille des erforderlichen Datendurchsatzes, weil die Laufwerke grundsätzlich viel zu langsam seien. Da helfe dann eben nur noch gnadenlose Komprimierung. Weil die Reaktionäre unter den Technologen aber alle argumentativen Geschütze aufführten, um an ihrer dem Untergang geweihten, total redundanten Analogtechnik festzuhalten, sei Komprimierung umstritten.

Der Kommunikationstechnologieexperte verfiel jetzt in einen Erkläreifer, der mir in meiner Partystimmung etwas zu weit ging. Konzentrieren konnte ich mich auch nicht, denn es legte sich gerade eine eindrucksvolle dunkelhaarige Studentin mit orientalischen Gesichtszügen auf die Liegewiese. Bestimmt war sie durch eines der vielen internationalen Austauschprogramme in die ruinöse Hälfte der deutschen Provinz geraten. Sie verstand kaum Deutsch und als ich ihr übersetzen wollte, was die leisen Stimmen sagten, die zwischen den Matratzen flüsterten, schaute sie mich zunehmend entsetzt an. Schließlich verschwand sie, was für mich der Anlass war, einen weiteren Streifzug durch das Haus zu unternehmen.

Ein Stockwerk weiter oben hatte man eine Wohnung leergeräumt, die nun als Tanzfläche diente. Elektronische Mainstream-Musik bumberte vor sich hin. Die Gäste drängten sich dicht aneinander, so dass ich für mich keinen Platz fand und noch weiter nach oben stieg. Im Treppenhaus schlängelte ich mich zwischen verschiedenen Grüppchen hindurch, die auf den Stufen tiefsinnige Gespräche führten. In jedem Stockwerk gab es je eine Zwei- und eine Dreizimmerwohnung, die Eingangstüren sperrangelweit geöffnet  und dort befanden sich weitere trinkende Menschen. Die wenigsten kannte ich, aber einige glaubte ich schon gesehen zu haben.

Schließlich traf ich auf eine blonde Studentin, die bereits ihre Mitarbeit im Film zugesagt hatte. Sie mixte für alle Vorbeikommenden einen sehr wirksamen Drink aus allerlei Schnäpsen, von dem sie behauptete, es sei ein polnisches Geheimrezept. Ich war gerade der einzige, der an ihrer Theke stehenblieb. Deshalb gab es für mich eine besonders wirksame Mischung und sie erzählte mir von ihrem silbernen Pailettenminirock, der bestimmt perfekt für den Film sei und außerdem habe sie weiße Plateaustiefel. Eifrig bekräftigte ich, wie gut das passen würde. Wir unterhielten uns, bis mein Drink leer war, so dass es sich lohnte mir noch einen zweiten einschenken zu lassen, mit dem ich dann die Treppe hinunterstieg. Dann schaute ich zur Liegewiese, später auch auf die Tanzfläche und noch später kehrte ich zur Theke im dritten Stock zurück und bekam wieder einen ihrer hochkonzentrierten Drinks.

Ab und zu überfiel mich die Erinnerung, dass es Mittwoch war. Um neun Uhr hatte ich im Büro zu erscheinen. Aber das brachte mich nicht aus der Ruhe. Ich kam plötzlich zu der Erkenntnis, dass die Party zu meiner Einarbeitung in den neuen Arbeitsplatz gehörte. Schließlich musste ich die Studenten kennenlernen, um sie zu verstehen, und wenn ich sie verstünde, könnte ich ihnen besser helfen. Diese Hilfe war die eigentliche Aufgabe meines neuen Jobs. In dem Bewusstsein, dass ich kein gewöhnlicher Partygast war, sondern soziale Recherche zur Optimierung meiner Serviceleistungen im Dienste der Universität betrieb, verbrachte ich gutgelaunt noch weitere Stunden zwischen den tanzenden und trinkenden Studenten.

 

38.
Am nächsten Tag saß ich verschlafen in meinem Büro und zum Glück wollte niemand etwas von mir. Ein eigenes Büro zu haben, war für mich neu, zugleich beruhigend und komfortabel. Die Konsolidierung meines Arbeitslebens wirkte sich besonders an jenen Tagen wohltuend aus, an denen ich die Exzesse des Vorabends ausbaden musste, und so freute ich mich an der Gewissheit, bezahlt zu werden, auch wenn ich dösend im Zimmer saß und darauf spekulierte, nicht gestört zu werden.

In der Tat störte mich an jenem Tag niemand aus der Uni. Die meisten Studenten schliefen vermutlich, auch wenn es ratsam gewesen wäre, sich um die laufenden Projekte des Studiums zu kümmern. Für mich gab es außer einigen banalen Untertitelungen eines englischsprachigen Interviewfilms nichts zu tun. Das konnte ich später machen, morgen, oder erst in der folgenden Woche.

Als das Telefon klingelte, überlegte ich, ob ich überhaupt ran gehen sollte, denn es war durchaus denkbar, dass sich eine anspruchsvolle Aufgabe ankündigte, deren Bewältigung mich in meinem verkaterten Zustand überfordern könnte. Aber es war noch schlimmer, es war Achim, der nach monatelangem Schweigen dringend mit mir reden musste. Die Telefonnummer hatte er wohl von Martin bekommen. Es ging ihm, wie kaum anders zu erwarten, um Marianne, denn die habe nun ihr unsägliches Theaterstück, das auf seiner Mitarbeit beruhe, inzwischen fertig. Ein schreckliches Machwerk, das zu seinem Entsetzen sogar aufgeführt werde, natürlich im Südwesten der Republik. Dort, wo die Menschen Arbeitslosigkeit nur aus den Nachrichten kennen würden, habe das Stück inzwischen Premiere gefeiert. Das Scheißstück von der blöden Marianne, der alles wurstegal sei, nur ihr Geschreibe nicht, aber er habe sich den Dreck angeschaut, obwohl es ihm schwer gefallen sei, es bis zum Ende auszuhalten. Da seine Versuche gescheitert seien, den Eklat auf diplomatische Weise zu vermeiden, indem er die Theaterleitung davon überzeugt, das Stück vom Spielplan zu nehmen, bliebe nun leider nur noch die Möglichkeit, eine Klage anzustrengen, also eine einstweilige Verfügung zu veranlassen, die eine weitere Aufführung verhindere.

Das sei doch Wahnsinn, sagte ich, aber Achim widersprach mir. Das sei kein Wahnsinn, das sei notwendig und ich müsse ihm bestätigen, dass die Idee zu dem Stück von ihm stamme, ich sei doch dabei gewesen, mehrmals, und habe sehen können, dass Frau Wurststock sich seines Materials bedient habe, um ihren gequirlten Mist daraus zusammenzubrauen, was somit nicht nur ein moralisches, sondern auch ein urheberrechtliches Vergehen sei. Wenn es dann zu juristischen Verfahren kommen würde, speziell zu einer Gerichtsverhandlung, müsste ich als Zeuge zur Verfügung stehen, um Achims Position zu unterstützen. Auf keinen Fall, antwortete ich und dachte mir, dass es eine absurde Vorstellung sei: Ein Gericht, das sich mit einem verkrachten Künstlergespann rumschlagen muss. Das ist euer Problem, sagte ich. Sogleich wurde ich von schier endlosen Tiraden der Polemik über Marianne, über ihr Stück und über das bornierte Theater, das sich erdreistet habe, das Machwerk aufzuführen, überrollt. Mir brummte der Kopf. Der hysterische Achim, der die Weltverschwörung herbeiredete, war auf nüchternen Magen unerträglich. An meinen Unwillen, den Vermittler zu spielen, änderte sich dadurch nichts. Um seine Argumentation abzuwürgen, sagte ich ihm, dass er spinnen würde. Achim solle alles mit Marianne klären und mich aus der Sache draußen lassen, erklärte ich und versuchte, dabei möglichst bestimmt zu klingen. Trotzdem musste ich es mehrmals wiederholen. Als er es endlich verstanden zu haben schien, bekam ich den Vorwurf zu hören, dass ich ein mutloser Drückeberger sei, der sich in die Kunst flüchte, um dort Stellvertreterkriege zu führen, aber für eine Kontroverse im echten Leben zu feige sei. Dann knallte er den Hörer hin.

Anstatt feige hätte ich lieber harmoniebedürftig gehört. Dafür könnte man auch friedliebend sagen, oder schlicht und einfach friedlich. Friedlich ist eine positive Charaktereigenschaft, sagte ich mir, daran gibt es nichts auszusetzen. Leider hatte Achim nicht friedlich gesagt, sondern feige, und das ging mir tagelang durch den Kopf. Als Opportunisten hatte er mich sowieso schon abgestempelt. Vergeblich wartete ich die ganze Woche lang darauf, dass sich der Gedanke an Achims Vorwürfe verflüchtigte. Stattdessen wurde es immer schlimmer, plötzlich erschien mir die Tatsache, dass ich in der Provinzstadt herumsaß als Zeichen des Versagens, mein langer Weg durch die verschiedenen Jobs als endlose Kette von Anbiederung, doch es fehlte die erlösende Idee, was ich sonst hätte tun sollen. In dieser selbstkritischen Stimmung erschien mir auch Tinas nahende Rückkehr als Bedrohung. Obwohl es immer noch keine konkreten Hinweise gab, steigerte ich mich in die Vorahnung einer bösen Überraschung hinein und zusammen mit meinem Grübeln über Achims Vorwürfe ergab das eine lähmende Gedankenschleife.

Tina hatte mir nochmals eine Postkarte mit ihrer Ankunftszeit geschickt, die sehr liebenswürdig formuliert war. Ich spielte mit der Idee, am Samstag mit dem Zug direkt aus der Provinz zum Flughafen zu fahren, doch dann verwarf ich diesen Plan und setzte mich bereits am Freitagnachmittag in den Zug, damit ich Tinas Wohnung aufräumen und putzen konnte und vielleicht auch, um darüber nachzudenken, was in den Kühlschrank gehörte, um ihr die Rückkehr zu verschönern. Als ich die Wohnung betrat, befremdete mich der Gedanke, dass ich nur noch eine Nacht lang der Hausherr war, danach lediglich Gast. Merkwürdig schwankend zwischen Befürchtungen und Freude registrierte ich, dass der Gummibaum gleich zwei Blätter abgeworfen hatte, aber im Großen und Ganzen gut dastand. Wie nicht anders zu erwarten, blinkte der Anrufbeantworter. Dass einige Nachrichten von Achim stammten, wunderte mich nicht. Sie waren allerdings durch unser Telefonat im Büro längst überholt. Es folgten Nachrichten von Marianne. Sie sei erschüttert über Achim und bat mich, sie zurückzurufen, dringend. Es gab insgesamt drei Nachrichten von ihr, wobei sie zweimal die Nummer hinterlegte, unter der ich sie erreichen könne. Keine Berliner Nummer, auch sie schien irgendwo in der Provinz zu stecken. Ich versuchte es und tatsächlich ging sie ans Telefon.

Ob Achim mich schon erreicht habe, wollte sie wissen. Ich bestätigte. Dann sei mir ja klar, was los sei, da brauche sie gar nichts zu erzählen, und sie zweifle daran, ob es irgendetwas helfen würde, wenn ich jetzt versuchte, Achim zu besänftigen. Ob Achim mir auch erzählt habe, dass er inzwischen Hausverbot im Theater habe, wo ihr Stück gespielt werde, da er die Besucher mit Flugblättern gegen sie aufzuhetzen versuche. Sind Arbeitslose Arschficker? sei die Schlagzeile seines Pamphlets, das er als Fotokopie nicht mehr im Theater verteilen dürfe, aber das könne ihn in seinem missionarischen Eifer nicht aufhalten, er verteile es jetzt eben auf der Straße vor dem Theater. Dabei habe er selbst vorgeschlagen, dass die Mitglieder der ABM-Maßnahme im Stück über Analverkehr diskutierten, und nun, da seine Vorschläge umgesetzt seien, behaupte er dreist, hier handle es sich um die Diskreditierung einer sozialen Gruppe, eine Beleidigung für alle Arbeitslosen des ganzen Landes. Mit solchen haarsträubenden Thesen habe er erst die Theaterdirektion belästigt und jetzt seien auch die Passanten und Theaterbesucher nicht mehr vor seinen verbalen Attacken sicher. Also ein richtiger Skandal, der zum Glück nur im kleinen Theater einer kleinen süddeutschen Stadt seine kleinen Kreise ziehe, doch es habe sie ziemlich aus der Bahn geworfen.

Aber ich kann da nichts machen, sagte ich, ihr müsst euch einigen, oder soll ich Händchen halten? Wem denn bitte? Achim doch wohl nicht! Marianne fiel mir erregt ins Wort. Vielleicht musst du ihm eine reinhauen, sie könne das nicht, sie sei eine Frau, sagte sie und ich erkannte keinerlei Ironie in ihrer Stimme. Achim habe sie auf offener Straße beschimpft, das sei kein Spaß gewesen, das wolle sie nach Möglichkeit in Zukunft vermeiden. Es sei reiner Zufall gewesen, dass sie sich an einer völlig beliebigen U-Bahnstation, die weder besonders nah an Achims Wohnung noch an ihren bevorzugten Aufenthaltsorten lag, begegnet seien und Achim sie auf dem Bahnsteig als Demagogin, Sexistin und Lügnerin angefeindet habe, natürlich mit seiner lauter Stimme, so dass alle Umstehenden groß geschaut hätten. Es sei eine unglaublich peinliche Situation gewesen. Zum Glück sei Achim in die U-Bahn eingestiegen und weggefahren, während sie am Bahnsteig zurückgeblieben und dann aus Panik versehentlich in die andere Richtung gefahren sei, was letztendlich dazu geführt habe, dass sie die Stadt mit der Ringbahn fast vollständig umkreist habe, um schließlich mit Stunden Verspätung an ihr Ziel zu kommen.

Vielleicht solle sie ihren Namen ändern und eine neue Identität annehmen, sagte sie, um aus dieser Scheiße herauszukommen, denn ich sei ja offensichtlich keine Hilfe. Nein, das bin ich nicht, warf ich mit einem Anflug von Trotz ein, denn die Aufforderung, ihr zu helfen, verdarb mir die Stimmung. Ich erinnerte mich an ihre und Achims Geheimniskrämerei und wie sie versucht hatten, mich aus der ganzen Geschichte raus zu halten. Ich könne nicht erkennen, wie ich mich in dieser verfahrenen Situation nützlich machen soll, erklärte ich ihr, aber ich würde mich freue, wieder von den beiden zu hören, wenn sie sich versöhnt hätten. Das, quietschte Marianne, werde nicht passieren. Mir egal. Schönen Abend! Ich musste die Vorbereitungen für Tinas Rückkehr hinter mich bringen, ging noch mal auf die Straße, um mir einen Wein zu besorgen, den ich trank, während ich aufräumte und putzte, ein bisschen Staub wischen, Fegen, dann noch mehr Staub wischen, wo kam der eigentlich her. Ich dachte die ganze Zeit an Marianne, nicht an Tina. Und an Achim. Obwohl sein Anruf in meinem neuen Büro schon einige Tage zurücklag, waren seine Anschuldigungen durch die Anrufbeantworternachrichten nun ins Bewusstsein zurückgekehrt. Sollte ich ihm vielleicht doch eine runterhauen? Jetzt erschien es mir als Frechheit, dass er mich als feige bezeichnet hatte. Dabei war es seine Unbeherrschtheit, die ihm diese Schwierigkeiten eingebracht hatte, dieses mangelnde Vermögen, sich selbst einzuschätzen, dies fehlende Wille auch mal einen Kompromiss einzugehen, wie bei einem enttäuschten Liebhaber. Tina hatte gesagt, daran erinnerte ich mich leider allzu deutlich, ich solle ihm helfen, und jetzt, da sie zurückkehrte, war die Lage so richtig beschissen.

Inzwischen hatte ich keinerlei Anhaltspunkte darüber, wie Achim sein sonstiges Leben gestaltete. Wenn er sich weiterhin als Arbeitsloser und Gelegenheitsarbeiter durchschlug, wäre es für ihn zweifellos ein teures Vergnügen, einen Prozess anzustrengen, zumal es hier nur darum ging, sein Vergeltungsbedürfnis zu befriedigen. Vielleicht konnte er sich das gar nicht leisten? Bei dem Gedanken, dass Achim aus rein materiellen Gründen den Schwanz einziehen müsste, empfand ich keinerlei Bedauern und bedauerte auch nicht, dass mir dieses Bedauern fehlte. Ich bedauerte auch Marianne nicht und versuchte herauszufinden, was ich überhaupt empfand. Eigentlich war ich beleidigt, weil sie mich erst übergangen hatten und jetzt beschimpften. Beide wollten meine Solidarität jeweils für sich. Andererseits amüsierte mich das Schmierentheater und ich lachte in mich hinein, wie Achim seinen Ruf als Provokateur zu immer neuen Höhepunkten trieb. Das hatte wirklich Unterhaltungswert, leider jenseits der  Grenze des guten Geschmacks und angesichts der Peinlichkeit seines irren Benehmens war es höchste Zeit, sich von ihm zu distanzieren.

Dieser Gedanke war mir zum ersten Mal durch den Kopf gegangen, als sich Marianne beschwert hatte, dass Achim sie mit seinen ständig neuen Drehbuchideen belästige. Inzwischen hatte ich meinen Lebensschwerpunkt in die Provinz verlegt und war gerade dabei, meine letzte Nacht in der eigenen Wohnung in Berlin zu verbringen. Meine ohnehin schwach gewordene Beziehung zu Achim konnte ich ganz einfach abstreifen, ich brauchte bloß NICHTS zu tun. Das dachte ich in unzähligen Variationen, während ich die Küche putzte und das Geschirr so sortierte, wie es Tina haben wollte. Alles abstreifen, alles zurücklassen, alles neu machen, alles was vorher war, glaubte ich plötzlich nicht mehr zu brauchen. Ich schüttete den letzten Rest aus der Weinflasche in mein schon wieder leeres Glas. Endlose Runden aus Essen, Trinken, Onanieren und anderen Samenergüssen dienten mir dazu, mich in ein Selbstbedauern hineinzusteigern, mit dem ich mich über die Unsicherheit hinwegtrösten wollte, die mir Tina bereitete.

Aber dann schlief ich gut und tief, brachte am nächsten Morgen die vielen leeren Weinflaschen in den Altglascontainer und fuhr zum Flughafen. Dort verlief alles wie in einem billigen Familienfilm: Wir umarmten uns, küssten uns, freuten uns, hatten uns viel zu erzählen, fuhren mit dem Taxi quer durch die sonnige Frühlingsstadt, Tina schaute verträumt aus dem Fenster, ich auf ihre braungebrannte Haut, auf die wirren Strähnen ihrer nun blondierten Haare, die sie länger trug als zuvor. Sie lachte ständig und die einzige auffällige Abweichung von ihrem üblichen Verhalten war die Tatsache, dass sie das Taxi nicht bezahlte, die letzten australischen Dollar waren ausgegeben und deutsches Geld habe sie sowieso nicht, sagte sie lachend. Sie müsse sich jetzt dringend von Luft und Liebe ernähren, ausgiebig. Für sie als Jetlag-Gequälte sei das Bett die einzige Rettung und ich solle mich als Rettungshelfer betätigen. Von Müdigkeit konnte bei ihr nicht die Rede sein, sie war überaktiv und schöner denn je.

Es dauerte bis zum späten Nachmittag, bis wir das Bett wieder verließen. Dann kochte ich und sie führte einige Telefonate. Beim Essen rückte sie mit Hintergründen heraus, die sie mir bisher immer verheimlicht hatte. Der Onkel, dessen 16-mm-Kamera in meinen Besitz übergegangen war, hatte ihr damals neben seiner fototechnischen Gerätesammlung eine nicht unerhebliche Summe an Geld vererbt. Dieses Geld, das wegen testamentarischer Formalitäten erst nach ihrer Indienreise bei ihr angekommen sei, habe die letzten Jahre dazu gedient, dass Tina sorgenfrei leben konnte. Mit voller Absicht habe sie sich damals dazu entschlossen, das Geld einfach auszugeben, keine Rücklagen durch fragwürdige Kapitalanlagen zu bilden oder Zeit durch Nebenjobs zu verschwenden. Sie habe einfach von der Substanz gelebt und diese Substanz sei nun weg, Australien habe den Rest aufgezehrt, ihr Konto, das fünf Jahre lang ununterbrochen im Plus gewesen sei, sei jetzt ordentlich überzogen. Nun beginne für sie der Ernst des Lebens. Mein neuer banaler Job an der Provinzuni passe dazu ganz gut, sowas brauche sie auch. Am besten sofort. Aber erst müsse sie noch die Masterarbeit für ihr Studium schreiben. Umgehend und schnell, ohne Motivationsprobleme, ohne Verzögerungen, ohne Beziehungskrisen und ohne sexuelle Durststrecke, wie sie gerade eine hinter sich habe. Verstanden? fragte sie und ich sagte ja. Also los.

 

39.
Zwei Wochen später besuchte mich Tina am Wochenende in der Provinzstadt und wir drehten mit der Diskettenkamera im Wohngemeinschaftshaus alle Szenen, in denen die Frauen mitspielten. Die Darstellerinnen hatten sich übertrieben hübsch gemacht und sollten sich auch dementsprechend verhalten. Vor allem dekadent herumliegen, sich schminken, tanzen und gegenseitig anzicken. Meine hübsche Tina hatte sich vorher die Haare schwarz gefärbt und im Second Hand ein orangefarbenes, enges Kleid besorgt, mit dem sie den silbernen Pailettenrock der blonden Architekturstudentin nicht unbedingt übertraf, aber gut mithalten konnte.

Die dritte im Bunde kam aus Polen, sprach mit einem hilflos wirkenden Akzent und war mit ihrer roten Lockenmähne für Gegenlichtaufnahmen prädestiniert. Von ihr stammte auch das hochprozentige, polnische Geheimrezept, aber die blonde Architekturstudentin hatte es modifiziert und darüber stritten die beiden so lang, bis wir das schließlich in die Handlung integrierten. Den Streit und die Drinks. Die Dreharbeiten und das feuchtfröhliche Beisammensein gingen nahtlos ineinander über und alle waren bester Laune.

In diesem Zusammenhang ließ sich Tina zu der unerwarteten Aussage hinreißen, meine Lebensbedingungen in der Provinzstadt seien ja offensichtlich angenehmer als ihre in Berlin. Gleichzeitig behauptete sie, dort motiviert an ihrer Masterarbeit herumzuschreiben. Aber je mehr Zeit verging, desto deutlicher beschlich mich das Gefühl, dass sie das nur vortäuschte. Außerdem ging sie sehr lustlos einem Studentenjob nach. Bei einer Autovermietung nahm sie die Vorbestellungen entgegen und bekam dafür ein ordentliches Gehalt. Weil es nur ein paar Stunden pro Woche waren, langte das trotzdem nicht zum Leben. Nun musste sie die leidige Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, wenn das Konto immer leer ist. Manche Menschen stört das nicht, mich schon. Ich empfand es als schicksalhaft, dass Tina exakt zu dem Zeitpunkt in die finanzielle Unterversorgung hineinrutschte, als ich den sehr angenehmen Zustand erreicht hatte, mich auf den monatlichen Zahltag verlassen zu können. Als Gegenleistung für mein Wochenendwohnrecht übernahm ich einen Teil ihrer Miete. Abgesehen davon wollte sie keine Hilfe von mir. Rechtzeitig hatte ich die Unwägbarkeiten der Tagelöhnerei gegen die Eintönigkeit eines Angestelltenverhältnisses mit bescheidenen Gehalte eingetauscht. Die Film- und Fototechnik gab es noch dazu und davon machte ich ausgiebig Gebrauch, der Diskettenkamerafilm war nur der Anfang. Um ihn zu Ende zu drehen, verbrachten Tina und ich gemeinsam mit Studenten oder Studentinnen aus der Wohngemeinschaftshaus-Clique viele schöne Tage des Frühsommers. Wir suchten die Schauplätze, die am besten zu unseren gutaussehenden männlichen Darstellern passen würden. Ausflüge in die nähere Umgebung der Provinzstadt, um leerstehende Industriegebäude, Tagebaulandschaften oder verlassene Militäranlagen zu erkunden, erwiesen sich als sehr ergiebig. Auch bei den Studenten kam das gut an, zumal sie einige Geheimtipps beizusteuern hatten. Wir fuhren viel herum und drehten dann doch in der Stadt oder direkt am Stadtrand.

Ich setzte die jungen Männer, die möglichst imposant aussehen sollten, übertrieben elegant in Szene, aber die bescheidene Bildqualität der Diskettenkamera gab sie auf sarkastische Weise der Lächerlichkeit preis. Das Gleiche galt für die Frauen, die sich prima als Tussis gebärdeten. Letztendlich war der Film nicht mehr als eine Parallelmontage, die zwischen hyperaktiven Männern und dekadenten Frauen hin- und hersprang, bis die Männer schließlich ohne vorherige Andeutung das Zeitliche segneten. Der eine fiel vom Surfbrett ins Wasser und tauchte nicht wieder auf, dem Bodybuilder quetschte die große Hantel die Luft ab, bis er erstickte und der Autofahrer stieß mit dem Studenten zusammen, als dieser gerade sein riesiges Architekturmodell über die Straße trug. Die Frauen beklagten zur gleichen Zeit, ohne von den Zwischenfällen zu wissen, unter schrecklicher Langeweile zu leiden. Dann war der Film zu Ende. Ich gab ihm den tiefgründigen Titel “Zwischen Mann und Frau liegt der Rest der Welt”.

Als ich den Film fertig hatte, war gerade die nächste Party im Wohngemeinschaftshaus in Vorbereitung. Wieder sollte es über alle Stockwerke gehen und man hatte, ohne mich zu fragen, bereits beschlossen, dass die Filmpremiere im Gemeinschaftsraum stattzufinden habe. Die Liegewiese hatte sich mittlerweile in eine Matratzenlandschaft verwandelt, die den ganzen Raum einnahm. Am Anfang des Abends lief der Film fast ununterbrochen, da immer wieder neue Gäste eintrafen. Ich selbst lag auf einer Matratze direkt vor der Leinwand, neben mir der Laptop. Als ich den Film starten wollte, merkte ich, dass die Zuschauer zusehen konnten, wenn ich mit dem Mauszeiger die Playtaste drückte, weil der Beam das Menü mitübertrug. Das geht doch nicht, sagte ich mir, aber auch als ich die Lautstärke vom Laptop aus korrigierte, sahen alle zu, ganz zu schweigen davon, dass die Maus manchmal mitten im Bild positioniert war und einmal direkt auf der Nase von Tina saß. Mir passte diese Mitwisserschaft des Publikums überhaupt nicht, aber es gelang mir nicht, den Laptop für mich einzunehmen und dazu zu veranlassen, keine unterwünschten Hintergrundinformationen mehr an den Beam zu senden. Deshalb gab ich auf und beschloss, mich nicht mehr an dem Informationsaustausch zwischen Laptop und Publikum zu stören, obwohl ich das eigentlich für eine Frechheit und Verschwörung hielt. Ich wurde durch eine monumentale Projektion entschädigt, die riesig wirkte, weil ich so nah vor der Leinwand lag. Das Matratzenambiente war genau richtig. Die permanente Wiederholung der ritualhaften Handlung funktionierte wie erhofft als Sinnentleerung. Die Zuschauer beachteten weniger die vermeintlich tiefsinnige Bedeutung der Geschichte, sondern lachten über die Dialoge der zickigen Frauen und die unerwarteten Todesfälle.

Als ich, zufrieden mit mir, kurz nach Mitternacht eine Pause einlegte, traf Tina mit dem letzten Zug aus Berlin ein und brachte nicht nur, wie angekündigt, Martin, sondern auch Sabine mit, außerdem stand, völlig unerwartet, die große Tina vor mir. Wir hatten uns seit Jahren nicht gesehen. Jetzt, da ich Berlin verlassen hatte, war sie mit Mann und Kind dorthin gezogen. Von denen hörte ich zu dem Zeitpunkt zum ersten Mal, da die große Tina mir, wie sie sagte, hatte ersparen wollen, ihre blitzartige Verwandlung zur Mutter und Ehefrau eines Bauingenieures mitverfolgen zu müssen. Es genüge durchaus, dass ich dies als vollzogenen Prozess zur Kenntnis nähme, deshalb hatte sie die kleine Tina, die schon lange davon wusste, zum Stillschweigen verpflichtet. Bei Gelegenheit könne ich aber sehr gerne ihre mehr als großzügige Wohnung am Prenzlauer Berg begutachten, denn da ihr Mann sehr erfolgreich weltweit Großprojekte betreue, entspräche ihre Sechs-Zimmer-Maisonette durchaus gehobenem Standard . Hier mischte sich die kleine Tina ein, um zu beteuern, dass es in der Tat ausgesprochen schockierend für sie gewesen sei, die große Tina erstmals in deren neuem Zuhause zu besuchen. Wie im Lifestyle-Magazin sehe es dort aus, alles neu und nur Designermöbel. Zum Glück finge inzwischen der kleine Sohn an zu laufen und sorge so für eine natürliche Unordnung.

Wie es der Zufall wollte, besaßen Sabines Eltern in der gleichen Straße auch einen Altbau, dessen Sanierung demnächst abgeschlossen sein sollte. Luxus-Sanierung, warf ich ein, zwischen Frage und Anklage schwankend. Der Luxus von heute, antwortete Sabine darauf lässig, sei ohnehin nur der Standard von morgen. In einigen Monaten ziehe sie dort hin, direkt in die Nachbarschaft von Tina. Jetzt, da ihre Tochter alt genug sei, um allein zu Hause zu bleiben, sei es an der Zeit, endlich wieder in einem lebendigen Stadtteil zu wohnen. Ihr neuer Teilzeitjob bei einer kleinen Firma, die Daten für Navigationssysteme aufbereite, sei ganz angenehm und entspräche voll ihren Qualifikationen, aber das Geld, das sie damit verdiene, reiche bestenfalls für die Tochter, keinesfalls aber für diese Wohnung und den Lebensstil, den sie sich inzwischen einfach so, aus dem finanziellen Überfluss ihrer Eltern heraus, die nichts besseres mit ihrem Geld anzufangen wüssten, als es ihr ungefragt hinterherzuwerfen, angewöhnt habe. Schließlich brach sie diese Schilderung ihrer Daseinsbedingungen mit dem Satz “Ich will jetzt endlich mal wieder tanzen!” ab, einem Satz, den ich vor allem von denjenigen Frauen hörte, die in ihrer Jugend überhaupt nie eine Tanzfläche betreten hatten, aber irgendwann zu Einsicht gelangten, dass sie wohl etwas verpasst haben könnten. Sabine warf die Arme in die Luft und wackelte mit der Hüfte, offensichtlich meinte sie es ernst. Los, nach oben mit dir, da ist die Tanzfläche, sagte ich. Da packte sie mich an der Schulter und schob mich die Treppe rauf, als sei ich nur für sie da. Beide Tinas kamen hinterher, während Martin erst noch einen Abstecher zur Bar machte und etwas später mit den Bierflaschen auf der Tanzfläche erschien. Der Party-DJ hatte gerade das erste Set mit den ausgelutschten Stimmungshits hinter sich. Jetzt versuchte er es mit anspruchsvoller elektronischer Club-Musik. Auf der Tanzfläche war genug Platz, so dass wir uns hemmungslos gehen lassen konnten. Martin legte merkwürdig staksige Nerd-Verrenkungen an den Tag, die beiden Tinas wechselten zwischen Knutschen und ekstatischem Zappeln und Sabine erging sich in zeitlupenhaften erotischen Hüftschwüngen, die gar nicht zum aufgekratzten Tempo der Musik passten. Ich schüttelte meinen Körper, den Kopf, die Arme, spürte den total technischen, aber wahnsinnig kraftvollen Bass, wie er mich durchdrang und in Bewegung hielt. Im bunten Licht der Partybeleuchtung erhaschte ich bizarre Anblicke dieser Menschen, die ich liebte, die sich im Rhythmus der Musik näherten und entfernten, an mir vorbeiglitten oder sich untereinander berührten, nutzlos in der Sonne, ekstatisch in der Nacht, getriggert vom banalen Bums einer synthetischen Bassdrum, flirrenden Klängen, die härter und spröder wurden, während mir die ichbezogene Idee durch den Kopf glitt, dass sie mich ja eigentlich umkreisten wie Planeten ihre Sonne. Karsten, der blondierte Architekturpunk, schwirrte an mir vorbei, die Blondine mit dem silbernen Pailettenrock klebte an seiner Seite. Die beiden wirken genauso, als hätten sie gerade gefickt, sagte ich mir, sie haben es sicher ganz oben im letzten Zimmer getan, dort bietet sich die beste Gelegenheit. Auch wenn das nur eine Fantasie war, mit der ich meine Erregung steigern wollte, wirkte sie. Die kleine Tina drückte sich erst von hinten an meinen Rücken, dann fiel sie mir um den Hals und ich glaubte zu erkennen, wie sich Sabine an den ungelenk tanzenden Martin ranschmiss. Dann wiederum sah ich wie durch einen Schleier die beiden Tinas küssend vor mir. Das ist meine Welt, sagte ich, aber niemand konnte es hören, denn die Musik füllte nicht nur mich, sondern auch den ganzen Raum bis kurz vor dem Zerplatzen aus. Der Beat hämmerte Energie in unsere Köpfe und Körper und mir standen Tränen in den Augen. Es war einer der Momente, der mich mit ungebremsten Gefühlen in eine Sphäre hob, die oberhalb des gewöhnlichen Daseins zu schweben schien. Auch wenn es wahrscheinlich von außen lediglich so aussah, als wäre ein verirrter Ü-30-Partytrupp auf die falsche Tanzfläche geraten, um dort auszuflippen, war es für mich viel mehr, denn sie, genau SIE waren zu mir gekommen, nachdem ich diesen Weg, der mir so lang und anstrengend vorgekommen war und der genau dort hingeführt hatte, wo wir uns jetzt befanden, zurückgelegt hatte. Ich fragte mich, ob dies nun ein Höhepunkt meines Daseins war oder nur ein zuckendes Irrlicht. Aber was könnte denn sonst das Echte und Wahre sein? Unser wildes Gehüpfe auf der Tanzfläche einer leergeräumten Wohnung eines runtergewirtschafteten Hauses in einer unbedeutenden Provinzstadt? Ja, aber alles andere auch.

So adrenalinübersättigt, wie wir uns verausgabten, konnte es nicht lange weitergehen. Die Euphorie wurde zunehmend von der Schwäche unserer irdischen Körper verdrängt. Als der DJ wieder zu Konsensmusik überging, begann die Realität in Gestalt von Studenten, die auf die Tanzfläche kamen, wieder durchzuschimmern. Wir pausierten paarweise an den Fensterbrettern, beobachteten die Tanzenden und tranken Bier. Schließlich fanden wir uns im Gemeinschaftsraum wieder, wo ich den Diskettenkamerafilm zum letzten Mal in dieser Nacht vorführte. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich die meisten Studenten in den oberen Stockwerken auf, weshalb wir genug Platz hatten, um kreuz und quer auf den Matratzen und Sofas herumzuliegen, teilweise übereinander und ineinander verschränkt. Beide Tinas kamen dann zum Übernachten mit zu mir. Wie selbstverständlich verabschiedeten sich Martin und Sabine gemeinsam mit dem Hinweis, dass sie ein Hotel gebucht hätten. Das hörte sich an wie von langer Hand geplant, störte mich aber zu meinem eigenen Erstaunen überhaupt nicht.

Am nächsten Tag beim gemeinsamen zweiten Frühstück in meiner Wohnung stellte sich heraus, dass allen außer der kleinen Tina die Premiere wie ein Déjà-vu vorgekommen war. Wir erinnerten uns an die Rückbesinnung, meinen Super-8-Film, dessen erste Aufführung damals in Martins Wohnung stattgefunden hatte. Die Szenerie, die das schäbigen Wohngemeinschaftshaus bot, entsprach durchaus Martins unrenovierten Altbau, die Stimmung empfanden wir alle als merkwürdig ähnlich, nur die Tatsache, dass wir zehn Jahre älter waren, als der Großteil der Gäste, gab uns zu denken. Diese Rückbesinnung auf die Rückbesinnung sorgte natürlich schon aufgrund des kuriosen Wortwitzes für Heiterkeit. Ich rechnete nach und stellte fest, dass die Premiere der Rückbesinnung auf wenige Tage genau zwölf Jahre zurücklag. Sabine machte einen Witz über die fragwürdige Bildqualität des Diskettenkamerafilms, aber Martin und ich belehrten sie, dass genau das unser Ziel gewesen sei, woraufhin sie erwiderte, in weiteren zwölf Jahren wolle sie dann aber endlich einen ordentlichen Film zu sehen kriegen. Oh nein, riefen da die anderen, alles, nur das nicht, das sei keinesfalls meine Bestimmung, das könnten, sollten und müssten Andere machen.

Deshalb beschlossen wir, dass ich nun, nachdem ich sowieso schon, wenn auch unbeabsichtigt, die Stimmung der Rückbesinnung aufgegriffen hätte, genauso gut auch die Arbeit an dem damals verlorengegangen falschen Film wiederaufnehmen könnte. Ohne in der Vergangenheit zu schwelgen, fing ich sofort mit dem Brainstorming an und begann, neue Ideen für die alte Szenerie zu sammeln. Ich liebte es schon immer, mit Freunden zusammenzusitzen und dabei Handlungsfäden zu spinnen. Gerade an jenem Frühstückstisch hatten sich die richtigen versammelt und in der Tat erarbeiteten wir ein fast vollständiges Konzept für den nächsten Film, der wiederum der erste Teil einer Serie wurde, deren Produktion sich dann wirklich über die von Sabine erwähnten nächsten zwölf Jahre hinziehen sollte.

  1. Den Anspruch, mit jedem Film ein zeitloses ideologisch-ästhetisches Denkmal zu setzen, hatte ich nie einlösen können. Je länger ich mich mit dem Filmemachen beschäftigte, desto mehr wurde mir bewusst, wie viel mir missglückt war. Manche meiner eigenen, aber auch viele Werke der anderen unabhängigen jungen Filmemacher gingen mir in ihrer Bedeutungsschwere inzwischen auf die Nerven. Als Konsequenz daraus versuchte ich nun einfache, unterhaltsame Geschichten zu erzählen. Aber das Wertesystem, das meinen Geschichten zu Grunde lag, sollte nicht so spießig sein wie beim Konsensfernsehen. Ansonsten realisierte ich meine Filme so einfach wie möglich, da ich keine Ambition verspürte, die teure Ästhetik des professionellen Films aufwändig nachzuahmen. Immerhin musste ich mich an meinem Arbeitsplatz erst vierzig Stunden pro Woche um die Probleme der Universität und der Studenten kümmern, bevor ich an meinen eigenen Werken arbeiten konnte.

Ständig kamen neue Kameramodelle auf den Markt, aber weiterhin waren die meisten mit Magnetbandkassettenlaufwerk ausgestattet. Als digitalen Schnittplatz brauchte man einen Computer, der eine bestimmte Rechenleistung haben musste, um 25 Bilder pro Sekunde liefern zu können. Zunächst schafften das nur solche Rechner, die in jeder Hinsicht optimiert waren, nach ein paar Jahren genügte ein einfaches Modell und noch später war jeder billige Laptop gut genug. Entscheidend war nur, dass er den passenden Anschluss hatte, der den aufregenden Namen Fire Wire trug. Mit diesem Feuerdraht konnte man die Videoaufzeichnung verlustfrei von den Magnetbandkassetten in den Computer holen. Wenn der Film fertig war, wurde er wiederum digital auf eine Kassette ausgespielt. Oder als Datei abgespeichert, aber zu dem Zeitpunkt konnte ich mich mit den Dateien noch nicht anfreunden. Entweder waren sie viel zu groß und hatten trotzdem eine schlechte Bildqualität, oder sie waren klein und die Bildqualität war noch viel schlechter, also fast so mies, wie bei der Diskettenkamera. Alles eine Frage der Komprimierung, sagte der Kommunikationstechnologieexperte. Ich versuchte viele verschiedene Komprimierungsparameter, doch es klappte nie so gut, wie bei der Ausgabe auf Kassette, dort war die Bildqualität immer von gleichbleibender hoher Qualität. Ich hatte einen Videowalkman zur Verfügung, mit dem man die Kassetten bequem abspielen konnte. Die meisten anderen Menschen mochten diese Kassetten nicht, kein Wunder, sie hatten kein Abspielgerät.

Während ich einen Film fertigschnitt, schrieb ich meist schon am Drehbuch für den nächsten. In Anlehnung an den falschen Film betätigte ich mich tatsächlich als Kriminalist und ermittelte gegen eitle Regisseure, Filmfestivalfanatiker oder Pressesprecher, also gegen alle, die mir nicht in den Kram passten. Wenn möglich, wurden Gummienten in die Handlung integriert oder als Requisite im Bildhintergrund platziert. Es gab einerseits genügend Studenten, die mithelfen wollten, andererseits ist es ein Vorteil der Provinzstädte, dass man früher oder später die Leute trifft, deren Interessen zu den eigenen passen. So machte der Kommunikationstechnologieexperte bei mehreren Filmen den Ton, aber auch als Leiche musste er herhalten. Es gab noch zwei andere Filmemacher in der Stadt, ein paar Schauspieler ohne Engagement, Musiker, Schreiberlinge, alle jeweils vereinzelt, nicht im Überfluss wie in der Großstadt. Solange meine Filme zügig und ohne Stress abgedreht wurden, fand sich immer jemand, der Lust hatte, mitzuarbeiten. Das war gut. Meine Tina machte Kamera, wobei wir uns darauf beschränkten, minimalistisch zu drehen, entweder Totale vom Stativ oder bewegte Handkamera für die ganze Szene. Unschärfen gab es kaum, weil wir möglichst weitwinklig drehten. Wenn ein Mikrofon im Bild sichtbar war, störte uns das nicht. Das ersparte viele Komplikationen bei den Dreharbeiten. Ich hatte sowieso genug damit zu tun, mich auf meine komplizierten Texte zu konzentrieren, denn ich selbst war Hauptdarsteller und Regisseur in einem .

Irgendwann während meines zweiten oder dritten Jahres als Universitätsangestellter zog Tina zu mir in die Provinz. Ihre Masterarbeit über kunstgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Bauhaus und Hausbau hatte sie trotz vieler innerer Widerstände fertiggeschrieben. Bewerbungsaktivitäten, um einen Job zu bekommen, der ihren Qualifikationen entsprach blieben lust- und erfolglos. Inzwischen hatte ich mir eine große, billige Wohnung besorgt, Tina war immer häufiger am Wochenende zu mir gekommen. Ich selbst hatte den Kontakt zu meinen früheren wichtigen Berliner Kontakten, den Kneipen und Kulturinstitutionen, den Poetry Slams, den Lesebühnen und Off-Filmvorführstätten weitgehend einschlafen lassen.

An einem der letzten Wochenenden in Tinas Berliner Wohnung rief unerwartet Marianne an. Sie teilte mir mit, dass sie nun endlich fest in Berlin wohne, die Adresse brauche ich aber gar nicht wissen, es reiche ja, dass sie mir ihre E-Mail-Adresse gebe, das sei sowieso viel universeller, ortsunabhängig und zeitlos. Sie habe keinen Festnetzanschluss mehr, nur ein Prepaid-Handy. Einen Teil ihrer geschäftlichen Aktivitäten wickle sie inzwischen nun doch aus verschiedenen Gründen, wobei Achim der triftigste davon sei, unter einem anderen Namen ab. Vor kurzem habe er sie nochmals auf offener Straße beschimpft, deshalb sei es ihr wichtig, dass er ihre neue Adresse nicht erfahre. Trotzdem sei die Angelegenheit weitgehend ausgestanden, Achim habe zwar ursprünglich eine Anwaltskanzlei damit beauftragt, gegen sie und das Theaterstück vorzugehen, doch der Kanzlei sei ein Formfehler unterlaufen, woraufhin die Klage nicht angenommen wurde. So wie es aussehe, reiche Achims Kraft nur noch für ein paar Kraftausdrücke, falls sich ein zufälliges Treffen ereignet, aber nicht mehr für weitere juristische Schritte. Dann verabschiedete Marianne sich überraschend schnell und legte auf. Ich konnte ihr gar nicht mehr sagen, dass die Telefonnummer, die sie gewählt hatte, mitsamt der zugehörigen Adresse schon fast der Vergangenheit angehörte. Ihre E-Mail-Adresse gab mir zwar die Möglichkeit, ihr so viele Informationen zukommen zu lassen, wie ich wollte, doch ich wollte gar nicht. Ich hätte sie gerne mal wieder persönlich getroffen, oder, besser noch, mit ihr zusammengearbeitet, aber das Leben schien sich in eine andere Richtung zu entwickeln. Dementsprechend erwartete ich vor ihr keinen nennenswerten Einfluss mehr auf den weiteren Verlauf meiner Aktivitäten.

Einer der Gründe, weshalb Tina zu mir in die Provinzstadt gezogen war, bestand darin, dass sie auf offener Straße eine Plakatwerbung gesehen hatte, auf der nach Arbeitskräften gesucht wurde und zwar von einer Firma, die offensichtlich direkt hinter dem Plakat in einem frisch renovierten Fabrikgebäude untergebracht war. Tina hielt es für aussichtslos, sich solange zu bewerben, bis irgendwo in der großen Bundesrepublik genau das Arbeitsplätzchen für eine Kunstgeschichtlerin mit wenig ausgeprägtem Selbstvertrauen geschaffen worden wäre, das auf ihre Qualifikationen zugeschnitten sei und höchstwahrscheinlich wäre es dann in einer fremden Stadt, in der sie nicht wohnen wollen würde. Stattdessen erlag sie der Faszination, dass jemand genau dort Arbeitskräfte suchte, wo sie gerade spazieren ging. Da sie es am Telefon des Autovermieters so lange ausgehalten hatte, glaubte sie, es könne in einem Callcenter auch nicht schlimmer sein. Es war einer der Arbeitsplätze, der durch die zunehmende Digitalisierung und den Ausbau der Kommunikationsnetze entstanden war. Nur ein Gelegenheitsjob, der sich zur Überbrückung anbot, aber Tina hatte leider keine richtige Vorstellung, wohin sie überbrücken sollte. Trotzdem ging es uns ausgesprochen gut, vor allem im Sommer. Wir wohnten in meiner sonnigen Vierzimmerwohnung mit Aussicht auf den Park. Wenn uns Freunde von unten zuwinkten, gingen wir runter, um mit ihnen auf der Wiese am Springbrunnen eine Flasche Wein zu trinken. An einem Samstag, an dem Tina zur Wochenendschicht eingeteilt war, erkannte ich den Kommunikationstechnologieexperten, der mit unbekannten jungen Leuten Boule spielte. Wie sich herausstellte, waren zwei von ihnen Informatikstudenten, einer langhaarig mit durchlöcherter Jeans, der andere jung und so brav aussehend, als hätte ihn Mutti vor dem Verlassen des Hauses gekämmt und ein Butterbrot zugesteckt. Dann gab es noch eine junge Frau, die mit ihrem Kurzhaarschnitt von weitem wie ein Mann wirkte und die neue Kollegin des Kommunikationstechnologieexperten war. Sie habe ja schon von mir gehört, sagte sie bei der Begrüßung, ob ich der Filmemacher mit den Komprimierungsproblemen sei. Was hatte man da schon wieder von mir erzählt, fragte ich mich, aber gab bereit willig zu, dass ich in Sachen Komprimierung ziemlich unbefriedigt sei. Wie schafften es die anderen, ihre Videos im Internet in bester Qualität laufen zu lassen, während alle meine bisherigen Versuche schrecklich aussahen, übersät von Artefakten und Störungen, sie ruckelten, das Bild blieb grundlos stehen oder die Übertragung brach ganz ab. Warum immer bei mir? Viel lieber als Komprimierung sei mir Redundanz. Bei dieser Aussage fühlte ich mich, als sei es das Bekenntnis in einer Selbsthilfegruppe. Redundanz ist cool, sagte der langhaarige Student, aber in der digitalen Welt könne man sie sich noch nicht leisten. Armselig, sagte ich, während ich mit dem Korkenzieher an der Weinflasche herumfummelte. Wie nicht anders erwartet, widersprach die androgyne Kollegin. Komprimierung sei ökonomisch, sagte sie und deutete auf die Boule-Kugeln. Meine Kugel lag gerade in der besten Position. Wenn ich beschrieben habe, wo alle diese Kugeln liegen und ich werfe eine dazu – was sie auch machte, wobei ihre Kugel knapp an meiner vorbei kullerte und weit hinten landete –, dann brauche ich doch zur Darstellung des Endzustandes nicht noch mal die Position aller Kugeln zu beschreiben, es genüge die Feststellung, dass eine Kugel dazugekommen sei, deren Position ich angeben könne. Dann habe ich alle Information, die ich brauche. Mit lautem Plopp zog ich den Korken aus der Flasche. Ob das nicht unnötig kompliziert sei, fragte ich, aber der brav aussehende Student musste auch noch seinen Senf dazugeben: Es wäre noch ökonomischer, den Endstand der Kugeln zu notieren und den kompletten Spielverlauf daraus rückwärts zu beschreiben. Damit arbeiteten die effektiven Komprimierungsmethoden, die einzelne Bilder des Filmes durch ihre Veränderung zu nachfolgenden Bildern beschrieben. Das sei eine durchaus elegante Methode. Vorher werde aber natürlich geprüft, welche Beschreibung einfacher sei, die von vorne oder die von hinten. Mir war noch gar nicht klar, was das bedeutete, es kam mir aber sehr geheimnisvoll vor.

Das klingt nach Zeitreise, meinte die androgyne Kollegin versöhnlich, ist es aber nicht, denn im Computer sei es kein Problem, die Daten von mehreren Bildern gleichzeitig im Arbeitsspeicher liegen zu haben, wobei alle zugänglich sind und nicht, wie bei einer Filmrolle, immer nur einzeln erfasst und dann vergessen werden. Die analoge Technik sei doch extrem grobschlächtig und unflexibel, total auf das JETZT fixiert. Wenn der Film aus dem Internet komme, so müsse der Rechner nur einen Pufferspeicher füllen, um die zehn, zwanzig oder hundert Bilder, die für die Decodierung nötig seien, vorliegen zu haben, eventuell seien das vier Sekunden, eine Zeitverzögerung, die aber niemandem weh tue. Vier Sekunden tun niemandem weh? fragte ich ungläubig. Mir schon, ich leide unter jedem der 25 Bilder pro Sekunde, das nicht rechtzeitig erscheint. So sei das nicht gemeint, beschwichtigte mich die androgyne Kollegin, es gebe nur eine einzige Verzögerung, nämlich die, wenn der Film startet. Ich schmiss meine Kugel und knallte gleich zwei gegnerische davon, was mir aber nichts nützte, da meine eigene am allerweitesten ins Abseits geriet. Trotzdem gab ich mich nicht geschlagen. Diese schamlose Sympathie, die meine Boulepartner der Komprimierung entgegenbrachten, provozierte meinen Widerspruch.

Es sei ja, fuhr ich fort, nicht nur eine Frage der Eleganz, sondern auch der Sicherheit. Bei den S-VHS-Kassetten, da habe eine kleine Störung auf dem Magnetband, wie sie durch ein Staubkorn verursacht werden könne, dafür gesorgt, dass eine einzelne Zeile eines Videobildes zerstört wurde, dies konnte durch die Verdopplung der benachbarten Zeile aber wieder repariert werden. Bei den DV-Bändern, die ja viel kleiner seien, führten aber ähnliche Störungen auf dem Band dazu, dass gleich ein ganzes Bild unbrauchbar werde, komplett. Aber bei diesen höheren Komprimierungsmethoden, die von einem Bild zum anderen arbeiteten, da könne ein ebenso kleiner Fehler mehr als eine Sekunde des Materials vernichten, weil sich der Fehler fortpflanze, durch die Bilder hindurchziehe, und das sei sehr bedrohlich, eine heimtückische Gefahr. Wenn man Videobilder als Gefahr sehen will, dann ja, meinte schnippisch die androgyne Assistentin und verkannte offenbar den Ernst, mit dem ich die Angelegenheit sah. Trotzdem gelang es mir nicht, ihre gut platzierte Boulekugel weg zu schießen.

Stattdessen quälte sie mich auch noch mit ihren Weisheiten über Fehlerkorrekturverfahren. Denn Fehler gebe es ja überall, auch in der Digitaltechnik. Es sei bei weitem nicht so, dass die Eins von der Null immer zweifelsfrei unterschieden werden könne, aber in allen Speichersystemen gebe es Korrekturverfahren, die einzelne Fehler komplett wegbügelten, doch wehe, wenn die Anzahl der Fehler einen kritischen Wert überschreite, dann breche der Leseprozess auf dem Datenspeicher zusammen. Mit etwas Pech sei alles weg, dann stecke die CD, die DVD oder die Kassette im Laufwerk und der Bildschirm bleibe schwarz oder blau oder zeige eine Fehlermeldung, je nach Gerät. Unterhalb der kritischen Fehlerhäufigkeit sehe man gar keine Störungen, oberhalb des kritischen Wertes sinke aber der Informationsgehalt schlagartig auf null, sagte mein Freund, der Kommunikationstechnologieexperte. Das beunruhigte mich sehr. Würden meine digitalen Magnetbänder in einigen Jahren plötzlich unbrauchbar werden und die Filme verschwinden? Das könne durchaus der Fall sein, meinte die androgyne Kollegin und alle anderen Informatik-Experten nickten zustimmend. Der Erdmagnetismus und die Selbstmagnetisierung seien schuld. Man hatte mich also gewarnt.

In den folgenden Jahren hätte ich mich darum kümmern müssen, die Daten von den Magnetbändern auf ein anderes Medium zu transferieren. Aber wenn ich mir die alten Bänder anschaute, merkte ich, dass die Erinnerung schöner war, als die Filme. Das nahm mir die Motivation und ich schob die Aufgabe Jahr für Jahr vor mir her. So lagen die Magnetbänder nur rum und ihre Langzeithaltbarkeit beim Rumliegen war vergleichbar schlecht. Später, also Jahrzehnte später, wollte ich sie einfach nur abspielen, das war das einzige, was ich wollte und dieses einfache Abspielen, das ging bei der einen oder anderen Kassette nicht mehr. Es war so, wie es mir die Fachleute im Park vorhergesagt hatten: ganz oder gar nicht. Trotzdem blieben die wichtigsten Filme erhalten, weil von ihnen Kopien, Internetversionen, Dateien oder zusätzliche DVDs vorhanden waren. Deshalb hatten sich nur UNWICHTIGE Filme von alleine verabschiedet. Somit ergab sich fast von allein eine Komprimierung des Archivs. Das waren schlechte Aussichten und der Kommunikationstechnologieexperte ein schlechter Boulespieler. Auch ihm gelang es nicht, die Kugeln unserer Gegner wegzuschießen. Wir verloren haushoch und es wurde noch schlimmer, als Tina von der Arbeit kam. Sie sah uns von weitem und ging daraufhin gar nicht ins Haus hinein, sondern zu uns, um meine Mannschaft zu verstärken. Sie wirkte ziemlich fahrig, schmiss die Kugeln ohne Optimismus, aber mit zynischen Kommentaren. Die anderen sollten acht auf ihre Eier geben, war ihre beliebteste Redewendung beim Werfen. Meistens scheiterten ihre Attacken und häufig endete es damit, dass sie selbst in letzter Sekunde rausgekickt wurde. Schließlich verabschiedete sich die Informatik-Clique.

Wir gingen in die Wohnung und Tina saß wieder mal so verknotet auf dem Küchenstuhl, wie ich es von ganz früher kannte. Beide Beine auf der Sitzfläche, dazu hatte sie einen großen Schlabberpullover übergestreift, unter dem sie eines ihrer angewinkelten Beine verstaute. In der Wochenendschicht gebe es immer viele obszöne Anrufe, sagte sie schließlich, damit habe sie heute Pech gehabt. Dumme Wichser, die in der Hotline des Bestellservices plötzlich anfingen, von ihrem Schwanz zu erzählen. Das sei unangenehmer, als sie zugeben wolle, obwohl man die Leute wegdrücken könne, aber manchmal kämen die dann wieder, nochmal in die gleiche Leitung, speziell am Wochenende seien ja gar nicht so viele Mitarbeiter da und dann quatschten diese Menschen so eine unschuldige Telefonistin mit ihren Wichsfantasien voll, sie müsse gleich kotzen, wenn sie zu viel darüber erzähle oder sich einfach nur daran erinnere. Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte und wunderte mich, dass Tina so mitgenommen war. Einige Kolleginnen drückten dann einfach das Headset-Mikrofon in die Ohrmuschel, erklärte sie, das ergebe sofort eine entsetzlich pfeifende Rückkopplung, die gut sei, um die Wichser zu vertreiben, oder auch, um sich eine Genugtuung zu verschaffen. Sie selbst empfinde das Piepen als zu nervig. Außerdem sei es gar nicht das Problem, die Typen aus der Leitung zu schmeißen, sondern die Tatsache, dass sie sich mit ihren Selbstbefriedigungsgedanken nicht zurückhalten könnten, das mache sie fertig, das sei etwas, was ihr überhaupt nicht in den Kopf gehe. Der Tag sei ihr leider völlig verdorben.

 

 

Dann verkroch sich Tina in ihr Zimmer und strickte, was sie gerne tat, um sich von allem zurückzuziehen. Zweifellos würde sie früh ins Bett gehen, das kannte ich und es störte mich nicht. Es war vielmehr die richtige Gelegenheit, um mich mal wieder alleine auf den Weg zu machen. Der Wein im Park war der richtige Anfang gewesen. Nun öffnete ich noch eine Flasche, mit der ich die Zeit zu überbrücken versuchte. Ich brachte Tina ein Glas ins Zimmer, für das sie sich bedankte, aber als ich eine Stunde später die Wohnung verließ, war ihr Glas immer noch voll und ihr Schal schon beachtlich gewachsen. Ich hatte unterdessen mit dem Schreiben einer Kurzgeschichte begonnen, von der ich noch gar nicht wusste, worauf sie hinauslaufen würde. Die Handlung sollte sich konfus und rastlos durchs Nachtleben ziehen, mit Bewusstseinsunschärfen und Identitätsverwirrungen, so ähnlich, wie ich es für den späteren Verlauf des Abends erwartete und an anderen Abenden schon erlebt hatte.

Aber die Realität begann zunächst eher banal. Es gab in der Provinzstadt nur eine Handvoll Bars, in denen ich mich sehen lassen wollte. Wenn ich allerdings genug getrunken hatte, konnte ich auch irgendwo anders landen, in der Nepp-Anmach-Tanzbar oder dem spießigen Irish Pub. An dem Abend blieb es langweilig, obwohl ich lange trank und nach der Lieblingsbar noch in eine Diskothek ging, nach der Diskothek in die Nachtbar und es standen zwar ausgesprochen gutaussehende Frauen herum, aber ich fand keinen Anlass, eine von ihnen anzusprechen. Stattdessen machte ich Smalltalk mit einem Musiker, der mir unnötig viele Details von seinem neuen Heimstudio erzählte, was da so alles gehe, was er sich alles zugelegt habe, was er alles vorhabe und wie toll das werden würde. Und dann ein Student, der anfragte, wann ich bei der Arbeit freie Termine für ihn hätte, was ich in meiner Freizeit weder hören wollte, noch beantworten konnte. Eine andere Thekenbekanntschaft drängte mir ein Gespräch über Handyklingeltöne, Handynutzungsgewohnheiten und Handyknebelverträge auf, das nicht enden wollte, während die hübschesten anwesenden Frauen ausgerechnet mit dem anderen Filmemacher herumsaßen und ihm an den Lippen klebten. Es sah zu vertraulich aus, als dass ich mich einfach hätte dazusetzen können. So lauerte ich an der Theke und versuchte den richtigen Moment abzupassen, aber dann verabschiedeten sich die hübschen Frauen unerwartet schnell mit Küsschen und Umarmung. Der Filmemacher kam zu mir und nach dem üblichen Informationsaustausch beschwerte er sich über die beiden Tussis, die von ihm einen Film haben wollten, aber kein Geld hatten, um ihn zu bezahlen. Ich trug auch noch ein bisschen zur Unterhaltung bei, indem ich über meine Lebens- und Arbeitsbedingungen klagte. Vor allem über dürftige Bezahlung, Unverständnis und mangelnde Akzeptanz. Bei diesen ewigen Themen für Künstler und alle, die es werden wollen, kippten wir ein paar Schnäpse. Ich fühlte mich reif für die Diskothek, wo ich lange herumstand, aber niemanden traf, der sich mit mir unterhielt. Als die Diskothek sich leerte, ging ich in die Nachtbar, wo mir plötzlich die Trostlosigkeit des Abends allzu deutlich vor Augen stand. Der Anblick der provinziellen Nachtschwärmer, dieser traurigen Klientel, bedrückte mich. Männer mit hängenden Wangen, vernebeltem Blick und dem Verlangen nach einer rassigen Frau, die ihnen nicht nur um den Hals fallen, sondern auch auf die absurde Idee kommen sollte, sie wolle gefickt werden. Selbst wenn eine solche Frau plötzlich erschienen wäre, eine, die völlig wahllos den Erstbesten nimmt, stünden die Chancen immer noch schlecht, da sieben Männer anwesend waren. Und die Thekenschlampe, die mich freundlich um das letzte Geldscheinchen brachte, das ich noch in meinem Portemonnaie hatte.

Derart emotional untersättigt, setzte ich mich schließlich zuhause an den Computer, der seit Kurzem mit Hilfe des eingebauten Modems internetfähig war. Irgendwann hatte ich aufgeschnappt, dass es kostenlose Erotik-Chatrooms gab und nun war die Zeit reif, mich um ein virtuelles Gespräch mit Nadine-will oder monique21 zu bemühen. In der Tat klappte das sogar, obwohl auch im Chatroom ein ernüchterndes Zahlenverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Teilnehmern vorherrschte. Vielleicht gab es ja ein paar digitale Dummies oder Hostessen, die bezahlt wurden, um zu verhindern, dass die Frauenquote auf null absank. Ganz abgesehen davon war sowohl die sexuelle als auch die sonstige Identität meiner Chat-Partnerinnen völlig unklar. Einige Frauen hatten tolle, sexy Bilder von sich im Profil veröffentlicht, aber von denen reagierte keine auf meine Anfragen, und manche von denen, die mir antworteten, blieben darin verfangen, immer nur ein einzelnes Wort zu schreiben, bevorzugt NEIN, aber schließlich verhedderte ich mich dann doch mit einer in einen variationsreichen Dialog über die Möglichkeiten, unter und auf dem Tisch zu kopulieren und welche Varianten der Fesselung dabei angebracht seien. Praktische Erfahrungen fehlten mir zu diesem Themenkomplex völlig, was mich aber nicht daran hinderte, so zu tun, als könne ich kompetent mitreden. Schließlich ist so ein Tisch ein übersichtliches und leicht vorzustellendes Objekt und meine Chatpartnerin spornte mich mit Anregungen immer wieder an. Trotzdem war sie ganz plötzlich verschwunden. Vielleicht doch ein Mann, der nach der Ejakulation die fragwürdige Lust, sich als unterwürfige Mitvierzigerin auszugeben, schlagartig verloren hatte? Solange man nicht abgespritzt hat, erscheinen einem die merkwürdigsten Dinge auf irritierende Weise wahnsinnig verlockend. So kam es auch dazu, dass ich unglaublich leichtfertig Vertrauen zu einer Person fasste, die sich hinter dem Decknamen Dorfdomina verbarg und mich ganz schnell einwickelte. Es stellte sich heraus, dass Dorfdomina gerade mal 30 km entfernt von meinem Provinzstädtchen ihrer Leidenschaft nachging, oder vielmehr nachzugehen versuchte, aber mangels ausreichend spritzwilliger Schwänze gar nicht ausgelastet sei und sich nun allzu oft langweile. Weil sie es aus reiner Leidenschaft mache, betonte sie, sei sie keineswegs scharf darauf, sich von mir bezahlen zu lassen. Inzwischen hatte ich zuhause auch noch eine halbe Flasche Wein geleert, was meine kognitiven Fähigkeiten bereits sehr einschränkte. Aber den Fahrplan fand ich und konnte ihn sogar lesen. In einer Viertelstunde würde der erste Zug des Tages in die fragliche Kleinstadt abfahren. Als mir Dorfdomina ihre Adresse mitteilte und hinzufügte, dass sie inzwischen ja das Studio aufräumen könne, regte sich kein Misstrauen, sondern vielmehr die Lust auf Abenteuer in fremden, mir bisher verschlossen gebliebenen Welten.

Auf dem Weg zum Bahnhof holte ich mir Geld aus dem Automaten, sicherheitshalber nicht zu viel. Dann bestieg ich im zarten Morgengrauen den Bummelzug. Ich nahm die Nebelfetzen über den feuchten Wiesen gerade noch zur Kenntnis. Der Ausblick aus dem rumpelnden Zug hätte sehr romantisch sein können, wenn ich nicht sofort eingeschlafen wäre. Immerhin lieferte mir mein nur noch partiell arbeitendes Gehirn ab und zu den Impuls, aufzuwachen und zum Fenster herauszuschauen, ob ich schon angekommen sei. Allerdings im falschen Moment. Den richtigen Bahnhof verschlief ich, aber die Kleinstadt, in der die Domina ihrer verlockenden Tätigkeit nachging, hatte noch eine zweite Haltestelle, weit außerhalb, am ehemaligen Kombinat. Dort wachte ich auf, als der Zug schon stand und rannte auf Strümpfen panisch nach draußen. Die Schuhe hatte ich ausgezogen, um die Füße auf die Sitze zu legen. Nun trug ich sie glücklicherweise in der Hand. Meine Mütze fehlte, entweder hatte ich sie überhaupt nicht mitgenommen oder sie war im Zug geblieben. Die Domina würde mich für diese Schlamperei hoffentlich ausgiebig bestrafen.

Aber bis zu ihr war es, wie sich herausstellte, fast eine halbe Stunde Fußweg. Die Sonne kroch über den Horizont und mein sexuelles Verlangen schwand dahin. Zum Glück, denn die Adresse, die man mir genannt hatte, existierte nicht, ich fand keine Hausnummer 93 am Marktplatz. Dass ich bei Schmitt mit Doppel-T hätte klingeln sollen, erhärtete die Vermutung, zu gutgläubig gewesen zu sein, naiv, blauäugig, zum Deppen hatte ich mich machen lassen, zum Volldeppen. Derlei Selbstbezichtigungen kreisten in meinem Kopf, als ich mir gegen halb sieben bei einem Bäcker ein Brötchen holte. Immerhin war das Brötchen ein wirklich gutes, noch warmes Bäckerbrötchen, das mich fast mit der Welt versöhnte. Kaum eine Minute vom Marktplatz entfernt lag der Bahnhof, den ich bei der Hinfahrt verschlafen hatte. Der Zug zurück in die Stadt fuhr vor meiner Nase davon, weshalb ich es mir auf einer Wiese mit hohem Gras bequem machte und wieder einschlief. Ich freute mich über das freundliche Wetter und die sanften Strahlen der Vormittagssonne. Als es mir schließlich zu warm wurde, waren einige Stunden vergangen und bereits zwei Züge in die Stadt gefahren. Ich holte mir noch ein Brötchen und einen Kaffee, dann trat ich den Heimweg an.

Tina war verwirrt, aber nicht beunruhigt über mein Ausbleiben und glaubte mir eine wilde Geschichte, in der ich behauptete, dass der Filmemacher mich von der Kneipe in sein Studio mitgenommen habe, um mir die neueste Schnittsoftware zu zeigen und dann seien wir auf die Idee gekommen, eine achtteilige amerikanische Underground-Serie auf DVD zu schauen, und zwar komplett. Tina staunte, schien aber keinen Verdacht zu schöpfen. Ich fiel ins Bett und schlief bis zum Abend.

 

Tina fühlte sich im Callcenter weiterhin nicht so richtig wohl. Kein Wunder, es war ein Scheißjob, bei dem man seine Zeit absitzen musste. Zwar lernte sie immer wieder nette Kollegen und Kolleginnen kennen, die aber im Gegensatz zu Tina selten länger als ein halbes Jahr dabei blieben. Im Lauf der Jahre reduzierte Tina ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden pro Woche und gönnte sich einen entspannten Tagesablauf.

An meinem Arbeitsplatz an der Universität zeigte unterdessen der technische Fortschritt deutlich seine Wirkung, denn die Studierenden liehen sich immer weniger Geräte, da sie diese nicht mehr brauchten. Die Diskettenkameras waren schon lang weggeräumt, die erste Generation von USB-Digitalfotoapparaten hatte ebenfalls ausgedient. So etwas besaßen sie inzwischen alle selbst. Fotohandys wurden bereits benutzt, aber bevor das iPhone auf den Markt kam, galt Handyfotografie als nicht salonfähig und wurde dementsprechend vor allem für Tussen-Selfies und weniger für Architekturmodellfotografie eingesetzt. Videokameras mit Bandlaufwerk, die wegen ihrer bewährten Qualität zur Ausleihe bereit lagen, führten immer häufiger zu der Frage, ob diese Kassetten nicht altmodisch seien, das wäre doch gar nicht digital. War es schon, aber der digitale Übertragungsweg in den Computer stand bei den meisten Nutzern nicht zur Verfügung. Wenn die Daten erst einmal im Computer drin waren, konnten inzwischen viele Studenten die Videos zu Hause schneiden. Ich hätte gar nicht mehr genug zu tun gehabt, wenn nicht gleichzeitig das Selbstverständnis der Universitäten einer kontinuierlichen Öffnung zum Wettbewerb hin unterworfen worden wäre.

Der große Spaß, den die neuen Bundesländer dabei gehabt hatten, sich mit Hilfe der Vereinigungsmilliarden überall schöne neue Universitäten hinzustellen oder ihre alten, ideologisch unbrauchbaren Institute umzukrempeln, war vorbei. Viele dieser neuen Universitäten dümpelten lasch vor sich hin, anstatt einen Nobelpreisträger nach dem anderen auszuspucken oder als sogenannte Wachstumskerne für die herbeigesehnten Hochtechnologiebranchen zu fungieren. Silicon Valley entstand weder an Elbe oder Spree, noch in der mecklenburgischen Seenplatte. Auch über unsere Universität und die dazugehörige Provinzstadt waren verschiedene Wellen der Ernüchterung hinweggeschwappt. Obwohl sich die Landesregierung sozialdemokratisch gab, fand neoliberales Gedankengut auch im Bildungsbereich Platz, sich zu entfalten. Wenn im Geldspeicher der Landesregierung gerade nichts für den Bildungsbereich übrig war, sollten doch die Universitäten selbst schauen, wie sie zu Geld und zu Studierenden kommen. Deshalb war es in den Führungsetagen der Universitäten inzwischen angesagt, nicht mehr nur nach Weisheit und Erkenntnis zu streben, sondern auch die Werbetrommel zu rühren. Marketing-Mentalität griff immer weiter um sich und nahm mich unter ihre Fittiche.

Es fing mit einzelnen Fotos für die neue Internetseite an, dann produzierte ich einen Film, der zeigte, wie schön es an unserer Universität sei. Im Lauf der Zeit wurden solche Aufgaben immer häufiger, bis ich als verlängerter Arm der Marketingabteilung fast nur noch damit beschäftigt war, das Image unserer Provinzinstitution aufzupolieren. Eine anspruchsvolle Aufgabe, bei der die Qualität des Handwerks darin bestand, minderwertiges und mittelmäßiges nach Gold aussehen zu lassen. Je besser das klappte, desto verlogener erschien es mir. Hier ging es nicht, wie beim Dokumentarfilm, um eine Interpretation der Wirklichkeit, sondern um ihre Erfindung, druckreif, frisch gebügelt und pseudo-authentisch. Meist sah es trotzdem nur nach durchschnittlicher Provinzuni aus, manchmal gelangen mir aber Bilder, die sogar mich selbst beeindruckten. Mein Lieblingsfoto nannte ich “Studentin am lasergesteuerten Kirschkernspaltungsreaktor”. Der Reaktor trug in Wirklichkeit eine andere Bezeichnung, die ich mir von Anfang an nicht merken konnte. Die Studentin war beim Fotoshooting zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Reaktor in Berührung gekommen. Normalerweise forschte ein bebrillter Wissenschaftler mit Halbglatze an dem Gerät und wollte lieber nicht fotografiert werden. Ihn zu zeigen, wäre die langweilige Wirklichkeit gewesen, die keiner sehen wollte, und die zudem noch um die Information hätte ergänzt werden müssen, dass für das Forschungsprojekt die Anschlussfinanzierung nicht bewilligt worden war. Aber die Studentin, bei der es sich um eine studentische Hilfskraft zur Praktikumsbetreuung handelte, sah sehr gut aus und trug unter dem weißen Labormantel ein enganliegendes buntes Kleid. Ihr Lächeln ging eine merkwürdige Symbiose mit den glänzenden, gewundenen Edelstahlbauteilen des Reaktors ein, die den Betrachter im Unklaren darüber ließ, ob sie das Gerät bewunderte oder sich darüber amüsierte. In Wirklichkeit hatte ich ihr einen Witz erzählt, den sie gut fand. Es fanden sich zum Glück noch viele andere Studentinnen, die mir das Vergnügen bereiteten, mit ihnen Fotos zu machen. Das tröstete mich erfolgreich darüber hinweg, dass meine Aufnahmen der Wirklichkeitsverzerrungen dienten. Der schöne Schein wird medial am Glänzen gehalten, sagte ich mir, dafür sind die Medien da, wozu sonst? So versuchte ich mich zu rechtfertigen, dabei hatte niemand nach einer Rechtfertigung gefragt. Immer, wenn ich mit derartigen Überlegungen anfing, hielt man mich für einen komischen Kauz.

Damals gab es nur das ursprüngliche Internet, noch nicht das interaktive Web 2.0, das mit seinen endlosen gegenseitigen Verweisen, seinen Posts und Likes alles in sich aufsaugte und ins schier Unendliche übersteigerte. Eine Information stand einfach nur im Netz. Was allerdings auch schon zu viel sein konnte, wenn es denn die falsche war. Wie zum Beispiel: “Jeanette XYZ ist gar keine Studentin, sondern eine Prostituierte.” Dieser Satz war Teil einer Kurzgeschichte, die ich nach jener Nacht begann, als mich die vermeintliche Domina aufs Glatteis lockte. Ein banaler Satz innerhalb einer gut zwanzig Seiten langen Story, wobei anstatt des Kürzels XYZ ein echter deutscher Nachname mit geringer Häufigkeit stand. Das war der ganze Fehler. Martin hing leider auch noch mit drin, denn er betrieb die Internetseite, er hatte den Text veröffentlicht und er stand als Verantwortlicher im Impressum. Vorher hatte er zu mir gesagt, das Internet sei größer als meine Welt. Ich würde in meiner Provinzstadt vielleicht ganz gut leben, werde aber nicht entsprechend gewürdigt. Für ihn war es ein Kinderspiel, so eine Internetseite zusammen zu stellen ging bei ihm ganz schnell und selbstverständlich sah die Website ziemlich gut aus, schließlich war er Profi.

Er kannte einige Künstler, die, wie er sagte, alle unter einem notorischen Veröffentlichungsstau litten, die kontinuierlich mehr produzierten, als sie an den Mann bringen konnten, die immer noch darauf warteten, dass irgendwo aus dem Nichts heraus eine Fangemeinde entstehen könnte. Das Internet sei extrem dafür geeignet, nicht nur künstlerische Ergüsse hineinzustopfen, sondern auch die damit verbundenen Hoffnungen warmzuhalten, ganz zu schweigen von der risikoarmen Endlagerung für unerwiderte Kommunikationsbedürfnisse. Auf den Servern ist immer noch ein Plätzchen frei. Bevor es eng wird, entsteht das nächste Rechenzentrum, wo die Hardware Hallen füllt und Häuser heizt und direkt daneben baut man noch ein Kraftwerk hin, das den Laden mit elektrischer Energie versorgt. Irgendwo dreht sich dann eine Festplatte und macht meine Kurzgeschichte weltweit verfügbar, sagte Martin. Nach der großen Entmutigung, die die wirtschaftlich ambitionierten Eliten in den Siebzigerjahren zur Kenntnis nehmen mussten, als ein paar Spielverderber ihnen die Weisheit aufs Brot schmierten, dass auf einem endlichen Planeten kein unbegrenztes Wachstum möglich sei, konnten sie jetzt wieder aufatmen. Der erste Hoffnungsschimmer war die Tatsache gewesen, dass die regelmäßige Verdopplung der Komplexität integrierter Schaltkreise, die schon in den Sechzigerjahren im Moore’schen Gesetz prognostiziert worden war, nicht abknickte. Das war recht abstrakt und nicht unmittelbar wahrnehmbar, aber das Internet, diese Parallelwelt, die ließe sich aufpumpen bis zum Gehtnichtmehr, da hauen einem die Experten die Giga-, Tera-, Peta-Größenordnungen um die Ohren, immer mit der Betonung darauf, dass das wächst und wächst wie das Bohnenkraut im Märchen. Von Aschenputtel hat es auch noch was, denn der digitale Raum, der Cyberspace, ist der große Tanzsaal für alle, da erhofft sich so manches Aschenputtel, dass der Prinz sie entdeckt. Könnte ja schließlich sein, ich schreibe ein vierzeiliges Gedicht in das Internet hinein und der Lektor des größten Verlagshauses Europas findet es, liebt es, und will es heiraten. Aber so sei es nur im Märchen, deshalb könne man das Internet ebenso als denkbar größte Gedankenmüllkippe bezeichnen, das stehe außer Frage. Aber für ihn, Martin, sei das alles ein gutes Geschäft und damit der Müll von ein paar Perlen durchsetzt sei, betreibe er seine persönliche Kunstsammlung im virtuellen Raum. Meine Kurzgeschichten würden sowieso nur bei mir in der Schreibtischschublade herumliegen, da könne ich ihm genauso gut eine zur digitalen Veröffentlichung überlassen. Meine Begeisterung hielt sich angesichts dieses Angebotes in Grenzen, aber verpassen wollte ich auch nichts, geschweige denn Martin den Spaß verderben. So kam es dann dazu, dass ich meine Kurzgeschichte für seine Kunstwebsite beisteuerte. Sie war sowieso zu lang, um sie live auf der Bühne vorzulesen. Ich hatte sie in einem selbstkopierten, kleinen DIN A6-Heft veröffentlicht, wobei einige dieser Hefte tatsächlich in der Schreibtischschublade aufbewahrt wurden. Rückblickend muss ich sagen, dass diese Aufbewahrungsmethode deutliche Vorteile gegenüber einem Webserver hat, denn sie spart Strom und bietet wenig Angriffsfläche für Rechtsanwälte, die das legendäre Wachstum des Internets auf ihre Bankkonten zu übertragen versuchen. Das Geld wollten sie ausgerechnet bei mir holen. Gerade als ich in der Umkleidekabine eines Kaufhauses dabei war, die Jeans auszuziehen, meldete sich mein damals noch neues Handy mit seinem nervigen Klingelton. Ich fischte es aus der Hosentasche und stand dann in Unterhose hinter dem Vorhang. Es war Martin, dem ich schon bei der Begrüßung anmerkte, dass er extrem gereizt war. Trotzdem versuchte ich mit einer freien Hand die Jeans, die ich mir zur Anprobe zurechtgelegt hatte, übers Bein zu ziehen. Martin erklärte, dass ein Brief von einer Anwaltskanzlei bei ihm eingetroffen wäre, und diese Anwaltskanzlei hätte eine Schadenersatzforderung in Höhe von sage und schreibe zwanzigtausend Euro an ihn, wegen meiner Geschichte. Wie bitte? Ja, diese Jeanette XYZ, von der es heißt, dass sie keine Studentin sei, sondern Prostituierte, die hätte sich gemeldet, beziehungsweise ihren Anwalt auf Martin gehetzt. Die gibt es doch gar nicht, die habe ich mir ausgedacht, antwortete ich und kam mir mit dem einen Bein in der Hose ziemlich unpassend vor, auch wenn es niemand sah. Es schien mir machbar, auch das zweite Bein mit etwas Geschick in das Hosenbein zu schieben. Dabei quäkte mir Martins Stimme ins Ohr, dass es diese Jeanette sehr wohl gäbe, aber nur einmal auf der ganzen Welt, und genau deshalb verklage sie uns. Verwechslung sei, wenn es diesen Namen nur ein einziges Mal gibt, völlig ausgeschlossen, deshalb wäre mein Text eine Verunglimpfung, egal ob er fiktional oder dokumentarisch oder künstlerisch gemeint sei. Behauptet der Anwalt. Und nun? stotterte ich. Er würde die Geschichte am Abend aus dem Netz nehmen, wie verlangt, und dann müssten wir mal sehen, er kenne sich mit diesen juristischen Hintergründen nicht aus. Endlich war es mir gelungen, die Hose hochzuziehen, so dass meine Beine bedeckt waren, aber natürlich gab es keine Chance, den Hosenknopf zu schließen, solange ich das Handy mit der Hand ans Ohr hielt. Ich sagte, dass ich das alles nicht verstehen könne, aber ich würde Martin helfen, auch wenn die Anwaltskanzlei der beleidigten Jeanette den Brief nur an ihn geschickt hätte. Die Mail sei schon an mich weitergeleitet, meinte Martin, da könne ich selbst lesen, was der Anwalt für einen scharfen Ton an den Tag legen würde. So eine Scheiße, sagte ich zur Verabschiedung, und Martin erwiderte „Ober-Mega-Scheiße“, dann legte er auf. Endlich konnte ich den Knopf an der Jeans schließen, oder vielmehr konnte ich versuchen, ihn zu schließen, was aber nicht ging, da die Hose viel zu eng war. Der Spaß am Hosenkaufen war mir sowieso schon vergangen. Ich zog meine eigene wieder an, verschwand schleunigst aus dem Kaufhaus und ging nach Hause. In der Tat lieferte Google, als ich den fraglichen Namen eintippte, nur ein einziges Ergebnis, was mir nie zuvor und auch später nie wieder mit einem Suchbegriff passiert ist. Der umstrittene Satz, der Jeanette XYZ als Prosituierte bezeichnete, wurde direkt im Suchergebnis fett gedruckt angezeigt. Durchaus schockierend, dachte ich, missverständlich, aber natürlich in keiner Weise bösartig oder verunglimpfend gemeint. Den Namen hatte ich mir ausgedacht, weil ich einen Namen für die Geschichte brauchte. Da das Ausdenken von Namen schwierig ist, nahm ich den Namen einer Zufallsbekanntschaft, bei der ich ein oder zwei Jahre vorher in einigen trinkfreudigen Nächten knapp an der Vollstreckung des Beischlafs vorbeigeschlittert war. Ihr Name war nicht Jeanette, sondern Janet gewesen und im Nachnamen hatte ich einige Buchstaben vertauscht. Auch diese Zufallsbekanntschaft hatte nichts mit Prostitution zu tun. Sie war nur der Auslöser für einige Gedanken gewesen, die sich dann verselbstständigten, dann zu Selbstbefriedigungsphantasien wuchsen und plötzlich geriet ich mal wieder in einem dubiosen Chatroom, verirrte mich in der Virtualität, redete wundersame Obszönitäten, für die es in meinem normalen Leben keinen Platz gab, immer ungehemmt direkt und je perverser, desto besser, bis es mich anödete, diese übersexualisierte Chatterei, diese Fakes und Amtsanmaßungen. Um dem zu entkommen, schrieb ich an der halbfertigen Geschichte weiter, verlegte sie in eine zusammenphantasierte Halbwelt, die irgendwo zwischen Nachtleben-Realität und kriminellen Rotlicht-Milieu liegen sollte. Dort konnte ich mein langweiliges, monogames Angestelltendasein abstreifen und das erleben, was mich im echten Leben erschrecke. Die geeignete Plattform, um triebgesteuerte Phantasien durch geschickte Formulierung zur Abstraktion zu erheben, die dann nicht nur der körperlichen, sondern auch der geistigen Selbstbefriedigung dienten. Glaubte ich zumindest. Leider hatte ich jetzt den Anwalt von Jeanette am Hals, die sich da hineingezogen fühlte, obwohl sie weder etwas damit zu tun hatte, noch damit zu tun haben wollte. Vielleicht hielt sie mich sogar für einen Zuhälter, obwohl man an Martins Internetseite sofort sehen konnte, dass es sich um Literatur, also um Kunst oder zumindest Pseudo-Kunst handelte. Unser kultureller Anspruch war bestimmt kein Trost für die arme Frau, die sich unerwartet verunglimpft sah. Zwanzigtausend Euro eigneten sich schon eher dazu, ihr Genugtuung zu verschaffen, genug Geld für fast ein Jahr Leben, zwei richtig große Weltreisen oder zehn Urlaube in Mallorca. Vielleicht auch hundert Besuche im Bordell, aber das war vermutlich das letzte, was Jeanette als Satisfaktion wollte.

 

 

 

  1. Die Geschichte mit Jeanette XYZ ging erst einmal glimpflich aus. Ich konsultierte einen Anwalt, der uns bestätigte, was wir schon vermutet hatten: Dass Jeanette keine zwanzigtausend Euros von uns kriegen würde. Das könnte sie nur dann einfordern, wenn wir uns weigerten, die Geschichte aus dem Netz herauszunehmen. Wir weigerten uns nicht und schickten eine nette E-Mail, dass uns alles schrecklich leidtun würde. Schon war die Angelegenheit erledigt. Dachten wir, zwei Jahre lang. Dann kam der nächste Brief. Er offenbarte, wer sich an der Misere bereicherte: Die Rechtsanwaltskanzlei. Jetzt wurden wir auf Schadenersatz verklagt, weil Jeanette über tausend Euro Rechtsanwaltskosten gezahlt hatte und dieses Geld wollte sie wiederhaben. Natürlich von uns. Letztendlich lief das dann auf einen Vergleich hinaus, den mir mein Anwalt anzunehmen empfahl, da eine Gerichtsverhandlung lange dauern würde und ein kleines Restrisiko nicht auszuschließen war. Falls der Richter das Internet nicht leiden kann und ein Exempel statuieren will, sagte mein Anwalt, könnte Jeanette Recht bekommen. Ich glaubte dem Anwalt. Letztendlich waren es nur ein paar hundert Euro, die ich zu berappen hatte, aber die verdarben mir den Spaß an den angeblich unbegrenzten Möglichkeiten des WWW gehörig. Von den prognostizierten Abertausenden von Aufrufen bemerkte ich jedoch nichts, auch nicht bei meinen Filmen. Da die Datenraten kontinuierlich gestiegen waren, hatten sich auch die Komprimierungsprobleme in Wohlgefallen aufgelöst durch die weiterentwickelte Technik ruckelten selbst meine Filme kaum noch, wenn man sie im Internet ansah. An die sonstigen Widrigkeiten der Computer hatte ich mich gewöhnt. Für die allgegenwärtige Verfügbarkeit konnte man einige Umstände in Kauf nehmen. Mein Erlebnishorizont schränkte sich unterdessen immer weiter ein, die sogenannte wirkliche Welt blieb klein und überschaubar wie die Provinzstadt. Das war wohl das normale Leben, sagte ich mir. In der teilnahmslosen Stimmung, die sich aus dieser Haltung ergab, interessierte es mich nicht, als die jungen Leute, zu denen ich mich nicht mehr zählte, anfingen, mit ihren digitalen Spiegelreflexkameras zu filmen. Mit den filmenden digitalen Spiegelreflexkameras wurde das letzte Kapitel einer technologischen Entwicklung geschrieben, die das Ende des chemischen 35-mm-Films besiegelte. Wie mein Freund, der Kommunikationstechnologieexperte, schon festgestellt hatte, fehlte nur ein bisschen Geschwindigkeit, mit der die Daten verarbeitet und gespeichert wurden. Als die Geschwindigkeit groß genug war, schlug der analogen Technik ihr letztes Stündchen.

Karsten, der blondierte Architekturpunk, kam mit einer dieser Spiegelreflexkameras zu mir und behauptete, dass sie angeblich in höchster Qualität filmen könne und von mir wollte er wissen, wie das geht, damit es nach Kino aussieht. Mir war nicht klar, worauf er hinauswollte, und überhaupt empfand ich diese Fragestellung als Anmaßung, denn wenn es nur eines Schalters bedürfte, der umzulegen war, um vom kleinen Videofilm zum großen Kino zu kommen, dann würden doch vermutlich ALLE diesen Schalter einfach umlegen. Allerdings waren die videofähigen Spiegelreflexkameras tatsächlich ein wichtiger Schritt, der dafür sorgte, dass die Aufnahmequalität des 35-mm-Films gegenüber der digitalen Aufnahme seinen Vorsprung einbüßte. Denn die digitalen Spiegelreflexkameras unterschieden sich in einem entscheidenden Punkt von den Videokameras: Ihre Bildsensoren waren größer, weil sie an Objektive und Technik der Kleinbildfotografie angelehnt waren. Für diese großen Bildsensoren braucht man lange Brennweiten und lange Brennweiten führen zu kleinen Tiefenschärfenbereichen. So wie bei 35-mm-Kinokameras. Natürlich hatten die Kamerahersteller schon digitale Filmkameras mit großen Bildsensoren auf den Markt gebracht, die waren zunächst extrem teuer und die Datenverarbeitung schrecklich umständlich. Als die Spiegelreflexkamerahersteller dann plötzlich das gleiche zu einem Zehntel des Preises anboten, kam der Markt richtig in Bewegung. Innerhalb weniger Jahre etablierten sich verschiedene digitale Kameramodelle, die die Bildästhetik der Kinofilmaufnahme hinbekamen. Die billigsten von ihnen kosteten weniger als tausend Euro. Das war der Wahnsinn. Damit war das Filmemachen mehr als je zuvor keine Frage der Produktionsmittel mehr, sondern der Kreativität und des Gestaltungswillens. Zumindest bei Kurzfilmen und vorausgesetzt, man vergisst das Ladegerät nicht. Obwohl mir die Bedeutung dieser Technologieentwicklung zu dem Zeitpunkt nicht bewusst war, nahm ich Karstens Einladung an, mit ihm und seiner digitalen Spielreflexkamera einen Trip quer durch Deutschland zu unternehmen. Er bereitete inzwischen seine Diplomarbeit vor, den Entwurf einer Autobahnraststätte und da es auch um konzeptuelle Gedanken und den Zeitgeist gehen sollte, beschäftigte er sich ausgiebig mit dem Phänomen der Mobilität, was immer das auch heißen sollte. Während seines ganzen Studiums hatten wir häufig zusammengearbeitet. Einerseits machte er als Helfer und Darsteller bei vielen meiner Krimis mit, andererseits war er immer wieder zu mir an den Schnittplatz gekommen, um an kleinen Filmen zu arbeiten, die mit seinen architektonischen Entwurfsprojekten zu tun hatten. Meistens quälte er mich mit seinen anarchistischen, unkonkreten Videoaufnahmen, bei denen der Autofokus sein Eigenleben entwickelte und die Lichter zu tanzen begannen.

Nun hatte er sich über eine Autovermietung ein eigentlich viel zu teures Cabrio besorgt und wollte mit meiner Hilfe ein Roadmovie drehen, einfach so, nur um das Gefühl des Unterwegsseins einzufangen. Ich erlaubte mir die Anmerkung, dass es ihm vermutlich in Wahrheit gar nicht um motorisierte Massenmobilität gehe, denn die kannten wir seit Kindesbeinen, unsere Generation sei ja die Autogeneration schlechthin, vielmehr suche er doch nur nach einem Anlass, mit diesem coolen Sportwagen herumzufahren und sich dabei großartig zu fühlen. Klassischer Fall von künstlerisch verkappter Angeberei! Klar, antwortete er, und um die Angeberei so richtig auszukosten, quasi als Geschmacksverstärker, habe er mich als Filmemacher dabei. Ob ich denn die Kamera schon bereit habe, wollte er wissen, denn bevor er den Motor starte, solle die Aufnahme laufen. Vor allem die Tonaufnahme, die Karre habe einen sensationellen Sound. Ich nahm seine digitale Spiegelreflexkamera, wechselte den Standardzoom gegen die 20-mm-Festbrennweite. Mein Lieblingsobjektiv, sagte ich und er antwortete, das sei gut, schließlich gehe es um sein Lieblingsauto. Wenn wir dann auch noch seine Lieblingsmusik unter das Video schneiden, müsse es großartig werden.

Es konnte losgehen, ich startete die Kamera, Karsten den Motor und die Reise begann. Ich filmte, wie die Stadt an uns vorbeiflitzte, bis wir auf die Autobahn einbogen. Mit röhrendem Motor beschleunigte Karsten den Wagen auf über zweihundert Sachen. Wenn ich die Kamera etwas zu weit aus dem seitlichen Fenster schob, zerrte der Wind am Objektiv und die einzelnen Lastwägen, die sich auf der rechten Spur von Irgendwo nach Nirgendwo schleppten, überholten wir so schnell, als stünden sie auf dem Parkplatz. Karsten strahlte über das ganze Gesicht und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er das Lenkrad krampfhaft umklammerte. Ich wechselte das Objektiv, um Nahaufnahmen zu machen: Karsten in seiner kindlichen Freude, die zitternde Tachonadel, die angespannten Finger am Lenkrad, die Hand auf dem Schaltknüppel und allerlei andere nutzlose Details. Im Nu war der erste und einzige Akku alle. Später merkten wir, dass Karsten das Ladegerät vergessen hatte.

Den Rest der Reise filmte ich deshalb mit meiner Videokamera, die ich als Ersatzkamera eingepackt hatte. Mit der kannte ich mich aus, es gab ausreichend Akkus und ein besseres Mikro. Jetzt konnte ich den Fachmann heraushängen lassen, was meinem Selbstverständnis viel besser entsprach. Karsten war sowieso gutgelaunt, denn unser rasanter Trip gefiel ihm ausgezeichnet und er tat, als gehöre ihm die Welt, auch wenn ich diese Welt nur mit einer nicht mehr ganz neuen DV-Kamera filmte.

In Weimar gelang es Karsten in seinem Übermut zwei Studentinnen im Café anzuquatschen und ins Auto zu locken. Sie quetschten sich auf die kleine Rückbank und zeigten uns die Stadt. Wie sich herausstellte studierten auch sie Architektur und fanden interessant, was ihnen Karsten alles erzählte. Als wir an einem Park entlangfuhren und die Sonne durch das Laub der Bäume hindurchglitzerte, erhoben sie sich auf der Rückbank, so dass ihre Haare im Wind flatterten und ich filmte sie im Gegenlicht. Das hatte sich einfach so ergeben, doch es war eine Szene wie in der Coca-Cola-Werbung, eine coole Fahraufnahme, total beschwingt, die Studentinnen hübsch und das Wetter super. So gut, fast zu gut, weil es der Instant-Lebensfreude, die uns aus allen Werbespots anspringt, zu nahe kam. War das noch authentisch oder schon verlogen? Aber es war sowieso die falsche Stadt. Wie und wann hatte man mir eigentlich dieses Marketingbewusstsein verpasst, das mir so viel Befriedigung über die vermeintliche Werbewirksamkeit meiner Bilder bescherte? Oder war es doch nur die Freude an der schönen Aufnahme? Diese Stimmung von Ausgelassenheit und Unbeschwertheit medial zu transportieren, danach leckten sich die Public-Relations-Abteilungen der Universitäten die Finger: Wie kann man der Zielgruppe vermitteln, dass Studieren NUR Spaß macht, und der Abschluss ALLES ermöglicht, ohne es mit Worten zu sagen, sei es geschrieben oder gesprochen? Zu recht würde es niemand glauben. Inzwischen rasten wir mit einem Affenzahn auf der Autobahn in Richtung Westen, jetzt wieder zu zweit. Ab sofort waren nur noch Motels und Autohöfe erlaubt, wobei wir am folgenden Abend um ein Haar in eine Schlägerei mit einem Fernfahrer verwickelt wurden. Karsten hatte ein vorlautes Mundwerk, das bei vielen Frauen gut ankam, der Fernfahrer hingegen, den er beim Essen ansprach, hielt ihn vermutlich für einen Schwulen. Dass ich mit der Kamera daneben saß und bereit war, jederzeit zu filmen, machte uns dabei keine Spur vertrauenswürdiger. Gefilmt werden wollte der Fernfahrer überhaupt nicht, schon gar nicht von uns, denn er habe gesehen, mit welchem Auto wir angekommen seien, mit so ner Schwuchtelkarre, sagte er. Letztendlich scheuchte er uns mit dem Hinweis davon, dass wir ihn vermutlich gar nicht ernst nehmen würden, sondern es nur darauf abgesehen hätten, uns über ihn lustig zu machen. Damit lag er gar nicht so falsch.

Im Lauf der Reise beschäftigten wir uns immer wieder mit den grobschlächtigen Typen, denen wir an den Trucker-Gaststätten begegneten und ich fotografierte und filmte die kuriosesten LKW-Dekorationen. Schließlich gelang es uns, einen Fernfahrer zu interviewen, den Karsten mit merkwürdigen Fragen über seine Kindheitsträume quälte und dann darauf spekulierte, ihn in Schlüpfrigkeiten betreffs der Länge seines Lastwagens hineinzumanövrieren. Trotzdem machte der Fahrer brauchbare Aussagen. Die Stimmung, die er auf der Autobahn empfinde, sei, wie er sagte, in erster Linie eine Mischung aus Langeweile und der Einsicht, dass man die Arbeit eben machen müsse. Und der immer wiederkehrende Gedanke: Hier war ich schon mal, was hat sich verändert? Manchmal, wenn man in einer Woche mehrmals die gleiche Route fahre, könne es geradezu traumatisch werden und man verfalle in ein zeitloses Nirgendwo, man fahre und fahre, aber es fühle sich an, als gebe es kein Ziel mehr, da sich jedes Ziel in den Start für die nächste Fahrt verwandle. Aber, und damit beendete er das Interview, man könne auch einfach nur fahren, Dudelradio hören und gar nichts denken. Er stieg in seinen Sattelzug und machte sich wieder auf den Weg. Als wir ihn ein paar Minuten später überholten, zogen wir langsam an ihm vorbei, um seinen LKW in einer langen Einstellung durchs Bild gleiten zu lassen. Danach durchquerten wir das Autobahnwirrwarr des Ruhrgebiets und steuerten Hamburg an. Eine der spektakulärsten Aufnahmen gelang uns auf der riesigen Brücke im Hafen, was zweifellos an der Brücke lag. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir bei Karstens Eltern, die in einer schier endlosen Einfamilienhaussiedlung ihren Bungalow bewohnten. Der Vater war irgendeine Art von Abteilungsleiter, die Mutter Design-Professorin und es gab auch noch eine kleine Schwester. Finanziell gut abgefederte Wohlstands-Bürgerlichkeit, die wir auch am nächsten Tag abbekamen, weil ich Karsten zu einem Kaffee bei Sabine mitnahm.

45.
Sabines Wohnung lag in Prenzlauer Berg ganz ähnlich wie meine in der Provinzstadt: An einem kleinen Platz mit Park inmitten der Gründerzeitbebauung. Aber in Berlin war alles schöner, größer und teurer. Schon beim Einparken nahm ich zur Kenntnis, dass wir uns mit dem Cabrio in der richtigen Gesellschaft befanden, denn das Mittelklasse-Einerlei mischte sich mit verschiedenen Sportwägen, exotischen Marken und liebevoll erhaltenen Siebzigerjahreautos. Wir selbst waren nur auf Urlaub in der Welt der Luxusautos, fühlten uns trotzdem am richtigen Ort zur richtigen Zeit.

Wir hätten Glück gehabt, sie anzutreffen, sagte Sabine, da sie noch am Abend für eine Woche nach London fliege, eine geschäftliche Angelegenheit, Fortbildung und Konzeptgruppe, Meeting und Brainstorming oder so ähnlich. Sabine wurde bei ihren Erklärungen unterbrochen, weil ihre Tochter nach Hause kam. Ich war ziemlich überrascht, denn ich hatte mir gar keine Gedanken über ihr Alter gemacht und immer nur ein kleines Mädchen mit Spielsachen oder Kritzelbildern in Erinnerung. Aber jetzt war sie plötzlich eine junge Frau, vermutlich sechzehn und sah sehr gut aus. Die genetische Mischung aus ihrem afrikanischen Vater und der blonden Sabine war durchaus gelungen. Sie trug eine folkloristische helle Bluse und eine kaputte Jeans, was nichts Besonderes war, aber bei ihr sah es super aus. Außerdem bewegte sie sich so geschmeidig und gleichzeitig lässig, wie es nur Tina in ihrer besten Zeit hingekriegt hatte. Ich glaubte zu bemerkten, dass auch Karsten staunte und sich plötzlich nicht mehr für den architektonisch bemerkenswerten Grundriss der Wohnung interessierte, sondern für die Frage, welche der vielen Arten von Kaffee, die Sabines teure Maschine ausspucken konnte, die richtige sei, damit sich die hübsche Tochter zu uns an den Tisch setzte.

Sabine lenkte das Gespräch in die beste denkbare Richtung und meinte, es sei für ihre Tochter sowieso höchste Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was sie nach dem Abitur machen solle, das sei nur noch ein Jahr und die konfusen Großuniversitäten in Berlin könne Sabine aus eigener Erfahrung nur dann empfehlen, wenn man unbedingt die Stadt kennenlernen wolle, aber das sei in diesem Falle nicht nötig. Also könne sie die Gelegenheit nutzen, sich bei uns über die Provinz und deren angeblich so gute Universität zu informieren. Die Tochter schlürfte ihren Milchkaffee. Karsten beteuerte, dass sein Architekturstudium geil gewesen sei, aber jetzt werde er das Diplom beginnen, gehöre er doch zu einem der letzten Jahrgänge, die noch Diplom machten und nicht in die Bachelor- und Masterstruktur hineingezwängt würden.

Bei der Gelegenheit meinte ich erklären zu müssen, dass wir wegen exakt dieser Diplomarbeit unterwegs seien, weil Karsten als besonders ehrgeiziger Student sich mit mir, dem Medienfachmann, verbündet habe, um sich über die Masse der nicht medial unterstützen Diplomarbeiter zu erheben. Denn es sei das herausragende Merkmal von Medien, nicht nur ästhetische Wirkung zu besitzen, sondern auch kommunikativen Mehrwert zu liefern. Das Medium gebe einer Aussage Gewicht, Brillanz und Bedeutung. Medial, sagte ich mit betonter Wichtigkeit, erheben wir uns über die Schlichtheit nackter Fakten. Was allerdings dann fatal werde, wenn sich irgendwann ALLE über ALLE erheben wollten, dann gebe es eine schreckliche Schaumschlägerapokalypse. Und womöglich fallen die Fakten dabei vom Tisch.

Sabine meinte, ich solle ihre Tochter mit meiner übertriebenen Selbstreflexion nicht verwirren, einfache Aussagen, wie das Leben als Medienfachmann sei, würden vollkommen genügen. Aber das ist doch interessant, widersprach die Tochter und so fühlte ich mich ermutigt, noch einen draufzusetzen: Die Tricksereien, das Geschummel sowie die Anmaßung, sich ihrer beliebig zu bedienen, um der eigenen Subjektivität eine imposante Bühne zu bauen seien der eigentliche, faszinierende Kern der Medienarbeit. Millionen von tagtäglich hin- und herfahrender Autos sind als Tatsachen eigentlich sehr schlicht und selbstverständlich bekannt, aber unser Film, der ja von nichts anderem erzähle, werde die Professoren bei der Diplompräsentation hoffentlich dennoch beeindrucken. Für trockene Technokraten sei natürlich eine schnöde Tabelle der statistischen Bundesanstalt mit sorgfältigen Listen der Kilometer pro Kopf, pro Auto oder pro Tonne Warenverkehr in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt eine viel bessere Entscheidungshilfe. Was kostet jeder Autobahnkilometer, wie sinkt die Lebenserwartung durch die Unfalltoten und wie steigt sie durch die tadellos funktionierende Infrastruktur. Aber wir mit unserem Lifestyle-Getue und Mädchen mit wehenden Haaren im coolen Cabrio böten eine idealisierte und keineswegs repräsentative Darstellung des Phänomens Mobilität, eine geradezu romantische Abstraktion. Darum haben wir ja auch den Fernfahrer mit dem “Ich-hab-den-längsten”-Aufkleber auf seinem 25-Tonner interviewt, warf Karsten ein, der relativiere das verzerrte Bild durchaus wieder. Anschließend steuerte er noch einige Motel-Anekdoten bei, mit denen er sowohl Sabine als auch ihre Tochter mehr erheiterte, als ich mit meiner improvisierten Medientheorie.

Sabine beendete unsere Ausführungen mit dem Hinweis, dass es höchste Zeit sei, zum Flughafen zu fahren, damit sie nach London zu ihrem Thinktank käme. Ihre Tochter solle uns nicht zu ernst nehmen, aber trotzdem mitfahren und sich die Uni ansehen, sie habe doch sowieso gerade Ferien. Da stimmte die Tochter überraschend zu. Während sie ihre Klamotten in einen abgeschabten Rucksack stopfte, plauderte sie aus, dass Sabine gar nicht nach London MÜSSE, sondern nur hinwolle, um dort wieder mal einen besonders bedeutenden Liebhaber zu besuchen, angeblich sogar englischer Adel. Dann schob sie sich auf die Rückbank und wenn es Karstens Ziel gewesen sein sollte, mit dem sportlichen Cabrio auf Beutezug zu gehen, dann hatte das Auto jetzt seinen Zweck erfüllt. Wir kamen am frühen Abend in unserer Provinzstadt an. Karsten umkreiste erst einmal den Campus und ich filmte die Ankunft. Dann machte ich einige sehr gelungene Fotos von Sabines Tochter. Ich wollte die Situation, wie ich sie schon in Weimar aufgenommen hatte noch mal reproduzieren, diesmal als Foto und auf dem richtigen Campus. Ich hatte Glück, alles passte NOCH besser. Der niedrige Sonnenstand sorgte für sanftes Licht, dazu zarte Wölkchen und SIE mit einer coolen Sonnenbrille und ihrer hellbraunen Haut, im Hintergrund die schicke Architektur unserer neuen Institutsgebäude, das war prima. Ich sagte ihr, sie sei schon so gut wie immatrikuliert, denn die Fotos würden bestimmt in irgendeiner Broschüre der Uni abgedruckt werden, sofern sie nichts dagegen habe. Sie meinte nur, ihr sei das egal, das könne ich ruhig machen. Wir luden die Technik aus, dann ging sie mit Karsten zum gemeinsamen Abendessen in das Studentenwohngemeinschaftshaus und übernachtete schließlich bei Tina und mir im Arbeitszimmer. Wir zeigten ihr die Stadt und die Uni, zwei Tage später verschwand sie mit dem Zug nach Berlin.

Karsten schnitt den Film weitgehend allein und ich fand, dass er ihn etwas zu wichtig nahm. Bei seiner Diplompräsentation kam es zwischen den anwesenden Professoren zu einer kontroversen Diskussion, ob der Film nicht zu oberflächlich und plakativ sei und Karsten sich nicht lieber auf seine Entwurfsplanung hätte konzentrieren sollen. Nur mit schönen Bildern wollte man sich also nicht abspeisen lassen, das fand ich gut, soviel Medienskepsis sollte bei akademischen Niveau schon drin sein. Trotzdem verpasste man Karsten eine Eins, das fand ich ebenfalls gut. Danach aber war seine Zeit in der Provinzstadt abgelaufen. Die erste Generation von Studenten, die ich kennengelernt hatte und die mir ans Herz gewachsen war, trat von der Bildfläche ab.

Sabines Tochter kam nicht zurück, sie ging zum Studieren erst nach Stuttgart und dann in die Schweiz. Das Foto mit ihr landete ein Jahr nach ihrem Besuch tatsächlich auf der Rückseite einer Infobroschüre. Nochmals einige Jahre später, als es um die Beschleunigung des Studiums ging, kramte wieder jemand das Foto von Sabines hübscher Tochter heraus, das sei doch ein tolles Motiv, und dann auch noch dieser Multikultilook, ganz wunderbar! Wir versuchten uns erfolglos an einem Remake des Fotos mit anderen Studentinnen und Studenten und schossen eine ganze Serie, auch unter Zuhilfenahme anderer Fortbewegungsmittel wie Fahrrad, Straßenbahn und Inlineskatern, aber das Original im Cabrio blieb unerreicht. Wieder entstanden Flyer, bei denen das Bild auf der Rückseite abgedruckt war. Die Mitarbeiterin in der Marketingabteilung fragte mich, ob ich die Druckgenehmigung der jungen Frau habe. Ich rief bei Sabine an, konnte sie aber nicht erreichen. Eigentlich hatte mir ihre Tochter ja bereits gesagt, dass ihr das EGAL sei, deshalb machte ich mir keine weiteren Gedanken, es gehe schon alles in Ordnung. So nahmen die Dinge ihren Lauf.

Ich wollte noch ein paar Tage Urlaub machen und fuhr mit Tina nach Tschechien, wo wir wanderten und billiges Bier tranken. Nebenbei tippte ich meine Ideen für einen neue Folge meiner Krimiserie in den Laptop. Tina diskutierte mit mir die Handlung und wachte streng darüber, dass die Geschichte stets eine unerwartete Wendung nahm und keine Klischees des gewöhnlichen Fernsehkrimis aufwies. Deswegen steckten wir inzwischen ziemlich fest in den Anti-Klischees. Tina meinte, Antihelden seien auch etabliert, warum nicht Anti-Klischees? Aber die seien ja im B-Movie-Hype der 80er Jahre schon abgefrühstückt worden. Um mich davon zu distanzieren, war es eine Gratwanderung, sich zwischen Klischee und Anti-Klischee zu positionieren. Manchmal stellt sich auch erst Jahre später heraus, dass man einem Klischee aufgesessen war.

Als wir am letzten Urlaubstag im Zug saßen, die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland hatten wir gerade passiert, checkte ich das Handy, das ich während der ganzen Woche ausgeschaltet gelassen hatte. Eine Mitarbeiterin der Marketingabteilung bat um meinen Rückruf, wegen der jungen Frau auf dem Foto. Dann eine weitere Meldung, die mit der Feststellung endete, dass ja vermutlich alles geregelt sei. In der Tat hatte man alles bereits geregelt, das konnte ich sehen, als wir am Bahnhof unserer Provinzstadt ausstiegen. Da prangte SIE, Sabines Tochter überlebensgroß auf einer Plakatwand. Neben ihr der dämliche Werbeslogan, der der Menschheit vermitteln sollte, dass man an unserer Universität den langen Weg von der ersten Kontaktaufnahme bis zum akademischen Abwinken schneller als anderswo gehen könne. Jetzt fiel mir auch wieder ein, wie die Mitarbeiterin der Marketingabteilung etwas von Sonderkonditionen bei den Plakatwerbevermarktern gemurmelt hatte, da sei angeblich ein Quasi-Umsonst-Plakat für die Uni drin. Kein Wunder, die Plakatwerbewände hatten inzwischen drastisch an Bedeutung verloren und waren schon lang nicht mehr ausgebucht, weil der große Kuchen der Werbebudgets inzwischen auch mit den vielen Internetangeboten geteilt werden musste, wo man angeblich die Zielgruppe so präzise beschießen konnte, wie der Sportschütze Gummienten oder Tontauben. Dass es mit der Plakatwerbung so schnell gegangen war, in nur einer Woche, während der ich in Tschechien durch den Wald spaziert war, das verblüfte mich durchaus.

Ich trat näher an das Bild heran und staunte über die Größe und die Qualität. Es war mein erstes Foto auf einer Plakatwand. Sowohl von nahmen als auch von weitem war es wirklich eine tolle Fotografie von einer tollen Frau in einer tollen Situation mit sehr vagen Zusammenhang zur Werbebotschaft. Das wichtigste Uni-Gebäude war im Hintergrund zu sehen, Sabines Tochter strahlte Lebensfreude im richtigen Alter für die anvisierte Zielgruppe aus, die Fahrt im Cabrio vermittelte Leichtigkeit und ungeheure Dynamik und alles zusammen war eine unverschämte Beschönigung der Ware „Studium“ die hier angepriesen wurde. Ob das Bild von mir sei, fragte Tina ungläubig, sie fand es einfach nur hübsch. Ich verbarg meine ambivalenten Gefühle hinter dem Vorwurf, dass man mich vorher hätte fragen sollen, aber das hatte man ja vergeblich versucht. Wie sich später herausstellte, war es nur diese eine Plakatwand am Bahnhof, die während meiner Abwesenheit ganz überstürzt, aber kostenlos von der Universität für zwei unbedeutende Monate bestückt wurde.

Mit ihrem Handy schoss Tina ein Beweisfoto, wie ich mit dem großen Reiserucksack vor dem Plakat stehe, das Gesicht zu einer merkwürdigen Grimasse verzogen. Ich dachte, ich sollte mich schuldig fühlen, war aber stolz. Tina postete das Foto im Internet, woraufhin Sabine einen Tag später mit dem Zug angefahren kam.

Sie wies mich darauf hin, dass sie bei ihrem letzten Besuch angekündigt habe, in zwölf Jahren wiederzukommen, um nachzuschauen, ob ich endlich seriös arbeiten würde. Außerdem müsse sie hier nach dem Rechten sehen und kontrollieren, wie weit die mediale Ausbeutung ihrer Tochter getrieben werde. Eigentlich habe sie nichts dagegen, aber eigentlich sei es nicht korrekt, weil ich eigentlich hätte fragen müssen und eigentlich immer so getan habe, als würde ich derlei überhaupt nicht tun, und eigentlich sei es ein gutes Bild und ihre Tochter gut getroffen, aber eigentlich sei sie ziemlich ausgenutzt worden, obwohl ich eigentlich immer so getan habe, als sei ich selbst ein Opfer der Umstände, was sie eigentlich nie geglaubt habe, und außerdem habe sie den Eindruck gehabt, als wolle ich mit solchen Werbemethoden eigentlich gar nichts zu tun haben, oder sei das nur eine ideologische Tarnung gewesen? Eigentlich könne man mich für einen Opportunisten halten, der sein ganzes Leben lang nicht anerkennen will, dass sein Leben im Leben spielt, und nicht im selbstgeschriebenen Drehbuch. Sie wisse gar nicht, ob sie mich nötigen solle, dazu etwas zu sagen, denn dann würde ich vermutlich wie immer in meine selbstgeschaffenen Fiktionen verfallen, ihr einen Film erzählen und ihre Tochter habe beim Anblick des Plakates ganz unumwunden geäußert: „Scheiße, der Typ hat mich gefickt, jetzt kann ich mich in DER Stadt nicht mehr blicken lassen“ und Sabine habe geantwortet, die Tochter solle nicht immer das Wort “ficken” für alles, was ihr nicht passe, verwenden, denn das bedeute ja eigentlich etwas ganz anderes, etwas, was ich doch hoffentlich nicht mit ihrer Tochter gemacht hätte.

Nachdem Sabine mir all das mit einem Lächeln an den Kopf geworfen hatte, meinte ich, es lohne sich nicht, meine Schuld zu leugnen, die ja gar keine echte Schuld sei, sondern nur eine Diskrepanz zwischen meinen Vorsätzen und meiner Daseinswirklichkeit, aber ich könnte es mit der sogenannten Wahrheit versuchen, wobei die Wahrheit inmitten all meiner medialen Verstrickungen und der medialen Verstrickungen der restlichen Welt sei gar nicht so leicht zu finden. Wenn ich trotzdem versuchen würde, sie zu erzählen, könnte ich damit beginnen, wie ich damals als Student an der weißen Plakatwerbewand stand, mit dem Faserschreiber in der Hand.

 

 

 

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