Lancester ist überall

Ein paar subjektive Gedanken zur Musik vom Kultur-Korrespondenten in Kalifornien

Schuster mit Second-Hand-Vinyl auf dem Aerospace-Walk of Honor

 
Wenn man LA mit dem Zug nach Nordosten verlässt, geht es erst einmal an endlosen schmuddeligen Gewerbegebieten vorbei. Meistens Autoverkäufer, Autoreparaturwerkstätten, Reifen-Services oder zur Abwechslung Autoverschrottung und Autoersatzteillager. Dazwischen noch ein paar Self-Storages, denn die Leute können sich vermutlich nur ein winziges Häuschen leisten, weil das Geld fürs Auto gebraucht wird.
Aber irgendwann ist das doch vorbei, der Freeway entschwindet auf riesigen Betonstelzen nach oben und der Zug fährt in einen Tunnel. Hinter dem Tunnel ist der Zug plötzlich allein in einer bräunlich-gelben Landschaft, die im Lauf der einstündigen Fahrt immer fahler und trauriger wird. Das einzige was die Tristesse unterbricht sind Wohnmobile, Wohnwägen (ebenfalls in gelblich-brauen Tönen gehalten), alte Trucks und bemerkenswerter Weise auch Motorbote, die einzeln, oder in Gruppe irgendwo in der Landschaft herumstehen. Dort, wo diese vertrocknete Einöde auch noch flach wird und die Wüste beginnt, liegt Lancester. Ich gehe vom Bahnhof zur Antelope Valley Highschool. Der Weg führt auf zu groß geratenen Straßen an armseligen Hütten, verstaubten Vorgärten und staubigen Brachflächen vorbei und ich frage mich, was die Leute veranlasst, hier zu leben. Später lese ich (Wickipedia!), dass Lancester sogar wächst, weil nicht nur Boing und Lockhed in der Nähe Fabrikationsstätten betreiben, ein chinesischer Konzern neuerdings hier seine Elektrobusse zusammenbaut und es schon seit langem eine große Airbase der Luftwaffe gibt. Der Vater von Frank Zappa hat auch für die Luftwaffe gearbeitet und so kam es, dass Frank in der Antelope Valley Highschool Don Glen Vliet kennenlernte, der sich später Don van Vliet nannte und als Captain Beefheart zwar nicht berühmt wurde, aber sein Werk hat als typische „musicians music“ viele Menschen sehr beeindruckt, zum Beispiel mich. Zappa und Beefheart arbeiteten zwar nicht kontinuierlich zusammen, aber der (vermutlich vitalere und geschäftstüchtigere)  Zappa griff dem konfusen Beefheart immer wieder mal unter die Arme. Unter anderem, als er sein als legendär geltendes Doppelalbum „Trout Mask Replica“ produzierte. Zappa wäre ohne Beefheart genauso seinen Weg gegangen, während Beefheart häufig in Schwierigkeiten steckte, weil er Probleme mit dem Management, den Plattenfirmen oder mit beiden gleichzeitig hatte. Trotz Anerkennung in Fachkreisen sah er wohl für die meisten seiner Veröffentlichungen kaum Geld in Form von Tantiemen und musste häufiger auf Tourneen gehen, als ihm und seinen ständigen wechselnden Begleitmusikern recht war. Allerdings hatte auch Zappa einen hohen Verschleiß an Musikern, von denen einige zum Captain wechselten oder abwechselnd mal beim einen oder beim anderen mitspielten. Später, als Don Van Vliet mit einem (meiner Meinung nach eher mittelmäßigen) Gekritzel und Geschmiere als bildender Künstler  auf Grund seiner Reputation als kreatives Genie relativ leicht Geld verdienen konnte, ließ er das Musik machen schließlich ganz sein, obwohl er  „Komponist sei und immer komponieren würde“. Allerdings verließ die Musik seinen Kopf zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Aber bis es soweit war, lebte er aus Geldmangel angeblich zeitweise im Wohnwagen bei Lancester, was ja eine ganz andere Version des kalifornischen Daseins ist, als die, die man von der Beverly Hills Berichterstattung kennt. Die Antilope Valley Highschool war übrigens auch nur eine schlichte Ansammlung von eingeschossigen Gebäuden und fiel nur durch die vielen Verbotsschilder auf, die den Zaun schmückten.

Ich spazierte weiter und kam ins eigentliche Zentrum von Lancester, das dann doch wesentlich angenehmer war, als die Umgebung der Highschool. Dort gab es den Aerospace Walk of Honor, der die Testpiloten und Astronauten der USA ehrt, ich fand einen Second-Hand- und einen Schallplattenladen und schließlich landete ich in einem sympathischen Café. Ich hatte während der Reise das Buch „Garantiert ungewöhnlich… Das Leben des Captain Beefheart“ von Colin David Webb gelesen, ein Buch das zwar diverse Fakten zusammenträgt und viel über diverse Versionen mancher Aufnahmen und Stücke zu erzählen weiß, aber über lange Strecken nervt der Autor, wenn er die wirren Aussagen und manchmal durchaus verschrobenen Aktivitäten des Captain Beefheart immer zu einem Wesenszug der Genialität umzudeuten versucht. Don van Vliet sieht auf manchen Fotos aus wie Helge Schneider und er scheint bei Interviews den gleichen dadaistischen Unfug abgesondert zu haben. Während bei Helge Schneider niemand auf die Idee käme, das ernst zu nehmen, geben David Colin Webb und andere Exegeten die skurrile Selbsterkenntnis des Captain ungefiltert weiter: Bis zum 14 Lebensjahr hätte er als Bildhauer gearbeitet; in die Schule ist er nur einen Tag gegangen, dann habe ihn die Erkenntnis, dass er das alles auch alleine lernen könnte, davon abgehalten; er habe ein Jahr lang nicht geschlafen, weil ihm die Zeit dazu zu schade gewesen sei; mit seinen Musikern habe er telepathischen Kontakt, wobei einige von ihnen gar keine Musiker seien, sondern er habe sich Jungs von der Straße ausgesucht und er habe ihnen das alles selbst beigebracht. Fast vergessen: Er hat vier Ufos gesehen.

Ich halte das alles für klassischen Seemannsgarn oder, moderner ausgedrückt, für Selbstmystifizierung. Trotzdem bleibt die tolle Musik. Ich persönlich kann jedem nur abraten mit „Trout Mask Replika“ (1969) einzusteigen, um Beefheart kennenzulernen, gerade oder weil das ein völlig irrwitziges, komplexes und ausuferndes Gesamtkunstwerk ist. Man braucht lange, um sich reinzuhören und dann ist man sowieso nur selten in der richtigen Stimmung für diese Musik. Aber die beiden frühen Platten „Safe as Milk“ (1967) und „Striktly Personal“  (1968) sind schöner, kuriosen „Blues“, der nichts von seiner Kraft verloren hat. Von „Safe as Milk“ gab es gerade auch eine Re-Issue zum 50-Jährigen und es ist ein anerkannt gelungenes Werk. „Striktly Personal“ hingegen wurde vom Produzenten  Bob Krasnow durch den Einsatz diverser Effekte voll auf „psychedelisch“ getrimmt, weil das damals total angesagt war. Beefheart war daraufhin beleidigt und ein Verkaufserfolg wurde die Platte trotzdem nicht. Alle echten Beefheart-Jünger wie David Colin Webb finden kein gutes Haar an dem Werk und hassen Bob Krasnow, aber ich mag die Scheibe und finde gerade das psychedelische durchaus passend.
„Lick my Decals off, Baby“  (1970) ist stilistisch wie Trout Mask Replika, also nur für diejenigen zu empfehlen, die es wirklich hart und fremdartig wollen. Aber weil es kein Doppelalbum ist, hat man die akustische Rosskur schneller überstanden. Inzwischen war Jeff Cotton aus- und der Perkussionist Art Tripp eingestiegen. So kam es zu interessanten Kombinationen zwischen Marimba und der verbliebenen Gitarre von Mark Harkleroad (alias Zoot Horn Rollo). „I love you big Dummy“ und „Dr. Dark“ von dieser Platte gehören zu meinen Lieblingsliedern, extrem kraftvoll, aber auch anstrengend.  Die darauffolgenden LPs „Spotlight Kid“ (1972) und „Clear Spot“ (1972) sind beides gute Veröffentlichungen. Die erstere etwas bluesiger und langsamer, die andere schön straigt, mit echten Höhepunkten, aber auch einzelnen Liedern, die mich nicht fesseln können und schon ein Vorausgriff auf die Pop-Phase des Captains sind.  Diese Pop-Phase („Unconditionally Guaranteed“ 1974 und „Bluejeans  And Moonbeams“ 1974) war wohl ein halbherziger Versuch, doch noch zu Geld zu kommen und wurde von allen Kritikern einhellig als missglückt bewertet wird. Das habe ich mir gar nicht angehört und mit dem Spätwerk  („Shiny Beast“ 1978, „Doc at the Radar Station“ 1980 und „Ice Cream for Crow“ 1982) bin ich nur oberflächlich vertraut. Zwar haben durch diese Platten etliche Hörer aus der Punk- und Post-Punk-Szene den Einstieg zum Captain gefunden, aber mir erschienen die alten LPs origineller. Auf den neuen schien nichts wesentliches hinzugekommen zu sein.

Eine Zappa-Beefheart Gedenktafel fand ich in Lancester nicht, nur das Geburtshaus von Judy Garland, die ebenfalls die Antelope-Valley-Highschool besucht hatte, war im Google-Stadtplan markiert. So latsche ich noch am „Park of Honor“ zu Ehren der amerikanischen Soldaten vorbei und stellte fest, dass dort nicht besonderes zu sehen war.
In LA gab es auch noch einiges zu erleben, nämlich eine Band, die (Zufall oder nicht?) den Namen Lancester trägt und in der immerhin Jeff Parker mitspielt, der für eine kurze Zeit zu Tortoise gehörte. Lancester traten im Bootleg-Theater auf, und ich wusste auch nicht so recht, ob ich da vorher eine Karte bestellen musste, oder wie pünktlich das losgehen würde. Aber dann, nachdem man mich am Einlass erst einmal angepflaumt hatte, dass dort keine Rücksäcke erwünscht sind, ich solle den Rucksack im Auto lassen, das ich aber nicht hatte, erwies sich die Lage als durchaus überschaubar, denn: Es war genauso wie zuhause. Oder noch schlimmer! In der Tat hatte ich in der unübersichtlichen Mega-Metropole den kleinen Ort gefunden, an dem freie Musik in der Tradition des Free-Jazz gespielt wurde. Es gab insgesamt drei Acts: Zunächst ein Trio das unter dem Namen des Trompeters angekündigt wurde: Chris Williams (ich hätte ihn gleich nach seiner Web-Adresse fragen sollen, denn googlen nützt bei dem Namen leider auch nicht mehr). Die drei jungen Männer (außer der Trompete noch Bass und Schlagzeug) benutzten diverse Effektgeräte und entwickelten schöne sphärische Sounds, die dann immer wieder durch gutes und frisches Life-Spiel Kraft bekamen. Außerdem, so stellte sich danach heraus, hatten sie hübsche Freundinnen, die mir bereits vorher im Publikum aufgefallen waren. Wir wissen ja, dass freie Musik bevorzugt von männlichen Normalos angehört wird.

Danach kam mit Chris Speed und Geoffrey Fogel die volle old-school-DDR-mäßige-Freejazz Dröhnung. Das Saxophon vom Herrn Speed hatte total fette Patina angesetzt, vermutlich original Charlie-Parker-Schmodder vom Sunset-Strip und der Mann trötete halt möglichst free (also unzusammenhängend)  und humorlos vor sich hin, währen Herr Fogel, ebenfalls dem Klischee verpflichtet, im hektischen Stopp- und-Go auf die Trommeln und dem üblichen Percussions-Krimskram  herumklopfte. Das konnte er recht virtuos, aber mich hat es gelangweilt und um ein Haar hätte ich das der ebenfalls gutaussehenden Frau mitgeteilt, die am gleichen wackeligen Stehtisch lehnte, wie ich. Zum Glück habe ich das unterlassen, denn sie war wohl Freundin oder Bekannte des Herrn Fogel. Nun hatte ich also schon herausgefunden, dass die Hälfte des spärlichen Publikums aus den Support-Bands und ihren Freundinnen bestand. Und der auffällige, schwarze Schwule, der einen schüchtern wirkenden blonden Mann befummelt hatte, entpuppte sich als Joshua White, der Keyboarder von Lancester. Den fand ich richtig gut! Er spielte in merkwürdigen Spielzeug-Sounds lustige kleine musikalische Ornamente und abgefuckte Solos wie Stefan Hetzel. Jeff Parker an der Gitarre schwankend zwischen kraftvoll/wild und etwas abgehoben. Er pausierte relativ oft und ich hatte die Vermutung, dass die anderen drei oft miteinander spielen und er die Rolle des Stargastes einnahm.  Der Bassist war ziemlich groß, sehr sportlich, der einzige nicht-schwarze der Band. Er spielte ganz ordentlich/funktionell/originell und war für die recht seltenen Ansagen zuständig. Der schwarze Drummer hatte coole Beats, die nicht so abgegriffen waren, wie die von Herrn Fogel. Notiz zum Lifestyle: Häufigste Kopfbedeckung bei den neun Musikern war eine Wollmütze (3x), gefolgt von der Basecap (2x) und Jeff Parker trug als Zeichen der ästhetischen Souveränität einen Anglerhut. Die Klimaanlage hatte man wohl auf die Wollmützen eingestellt und es zog empfindlich an den Beinen. Bleibt jetzt nur die Frage: Ist es schön, oder ernüchternd, dass sich ein Free-Jazz-Abend in LA genauso anfühlt wie einer in Cottbus? Auf  jeden Fall ist in Cottbus das Bier billiger und die Infrastruktur besser. Das Metronetz in LA ist ziemlich lückenhaft und abends fahren die Bahnen nur noch alle zwanzig Minuten, was meinen Nachhauseweg vom Konzert ziemlich langwierig gestaltete. Aber das habe ich zum Glück hinter mir. Fucking LA mit seinen 10 Millionen Autos, die alle gleichzeitig fahren wollen, kann mich mal. Ich fahr da erst wieder hin, wenn ich muss. Lieber Lancester oder gleich Cottbus!

 

7 Anmerkung zu “Lancester ist überall

  1. Dennis Schütze

    Danke für den unterhaltsamen Reisebericht, habe während der Lektüre „Safe as Milk“ gehört (Premiere!), ging beides gut rein. Kommt noch mehr? Ist‘s der Start für eine musikhistorische Feldforschungsreihe? Was war die Idee hinter dem Teipp an die Westcoast? Warum ausgerechnet das Moloch LA?

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    1. ralf schuster Autor des Beitrags

      Hallo Dennis,

      musikalisch-dokumentarisch kommt erst einmal nichts mehr, denn dank Jet-Lack und den Moloch-mäßig-langen (Fuß-) Märschen war ich am Abend meist total erschöpft. Rückblickend finde ich es sehr schade, dass ich am letzten Abend zu müde für die Jam-Session im Legendären Whiskey-a-Gogo war. Das hätte noch ein Höhepunkt werden können.
      LA hatte sich eher zufällig ergeben, weil mein Reisebegleiter einen Rückzieher gemacht hatte, was die zu dieser Woche Individualtourismus führte. Vielleicht sollte ich mich beim nächsten Trip nach Westen an die Fersen des Feldforschers DR. DENNIS S. aus W. heften.

      Aber die Weltsicht plant, in den nächsten Tagen eines meiner (Ambient-)Videos aus LA zu posten .

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  2. Volker

    …und das empfinde ich an Cottbus auch als wohltuend: alles überschau- und fußläufig erreichbar 😉

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