Wir gehen den Berg hinauf, und nicht hinunter

Aus dem Tagebuch von Frank Weghardt (undatiert)
Wir hatten uns für die Osterfeiertage einen kleinen Ausflug in den Harz vorgenommen, der dann in vielerlei Hinsicht anstrengender wurde, als wir es uns gewünscht hatten. Es ging bereits mit einigen Verspätungen bei den Bummelzügen los und dann entbrannten mehrmals Streitigkeit aus der Frage, welchen Weg wir nehmen sollten. Während ich mich in die Wanderkarte vertiefte, bezweifelte meine Frau immer wieder, dass ich auf diese Weise eine geeignete Route finden könnte. Sie richtete sich nach den Wegweisern, die an den meisten Wegkreuzungen angebracht waren. Manchmal gab es aber keine Wegweiser, oder die Wegweiser waren nicht lesbar, da konnte ich auftrumpfen. Aber an anderen Kreuzungen war die Beschilderung eindeutig und wies in eine Richtung, die mir als falsch erschien. Der Nachbar, der ja auch mit da bei war, schlug vor, man sollte einfach an jeder Kreuzung nach Laune entscheiden und sich einen Scheiß um die großen Zusammenhänge kümmern. Diese Haltung fand ich völlig unpassend, wie sollte man denn dann Mittags pünktlich an der Schänke und abends am Bahnhof sein. Das würde schon gehen, meine er, ohne dafür einen Beweis bringen zu können und ärgerte mich allerlei Bemerkungen, wie schön der andere Weg, vielleicht gewesen wäre. Damit aber nicht genug: Als ich versuchte die Stimmung wieder einzurenken, indem ich den, Konsens-fähigen Satz aussprach, es sei doch trotz allem erbaulich, den Berg hinaufzusteigen, egal auf welcher Route, meinten meine Begleiter mir auch da widersprechen zu müssen. Es sei doch eigentlich das runtergehen vom Berg, dass uns erfreut, während das hochsteigen mühselig sei, kommentierte der Nachbar und meine Frau sagte, dass sie ja eigentlich viel lieber ans Meer fahren würde, wegen der Weite. Diese Antworten brachten mich schier zur Weißglut, aber zum Glück war ich schon ziemlich erschöpft, sonst hätte ich vielleicht einen meiner seltenen cholerischen Anfälle bekommen. Diesen unterdrückten Ärger versuchte ich in dem Lied, das später zu dem Thema entstand, durch die wilden Betonungen auf dem dritten Taktschlag der instrumentalen Zwischenspiele darzustellen. Mit der flachen Hand schlug ich auf alle Tasten der Orgel, die ich erreichen konnte und pustete gleichzeitig in eine Plastiktröte. Während wir schwitzend und schweigend den Berg hinaufwanderten (er war gerade der letzte steile Anstieg vor dem Gipfel) da dachte ich mir, dass der Nachbar doch schon immer ein fauler Strick war, der lieber zu uns in den Garten kam, wenn er den Geruch des Grills vernahm, anstatt selbst für Würste zu sorgen.
Wir gehen den Berg hinauf, und nicht hinunter, feuerte ich die anderen an, als das Gipfelkreuz schon zu sehen war. Ja, ja, sie würden das schon schaffen, auch ohne mein Herumgeplärre, und außerdem würden wir auf jeden Fall auch wieder absteigen, oder beabsichtige ich etwa, meinen Lebensabend auf dem Berggipfel zu verbringen. Mit solchen Wortklaubereien verdarben sie mir aber zu dem Zeitpunkt die Laune nicht mehr, viel mehr bequatschte ich meine Begleiter mit trivialen Weisheiten, um sie zu ärgern, etwa: Wasser tropft unten raus, auf das Brot kommt die Wurst oben drauf, da gibt es eben Grundgesetze, an die man sich halten muss.
Also wir dann auf dem Gipfel saßen, wollte der Nachbar unbedingt mit mir eine Wette eingehen. Es ging um die Zeche im naheliegenden Gasthaus, in dem wir uns zum Mittag stärken wollten. Er behauptete, dass die Wurst auch unter das Brot geschmiert werden könnte, wobei ich im Hochgefühl des Gipfelglücks auf die Wette einging. Nein, sagte ich lauthals, und tappte in seine Falle rein. Da holte er seine besonders fette Leberwurst heraus und tatsächlich konnte er die so aufs Brot schmieren, dass sie nicht runterfiel, wenn er die Brotscheibe umdrehte. War ich ihm also auf den Leim gegangen und er hatte wieder mal die Gelegenheit, sich auf meine Kosten den Bauch vollzuschlagen. Da tranken wir dann alle jeweils drei Bier und beim Rückweg stritten wir bei fast jedem Abzweig über den richtigen Weg. Weil ich die anderen im richtigen Moment zur Eile antrieb, erwischten wir gerade doch noch den Zug. Aber der Nachbar sagte nur, dass wir auch noch ein paar Umwege hätten einlegen können. Dann wären wir eben mit dem darauffolgenden Zug zurückgekehrt. Trotzdem war ich der Meinung, dass es richtig sei, den Berg hinauf zu gehen, und damit Basta, geradlinig und zielstrebig, selbst wenn es der verdammte Berg ist, auf den Sisyphos den Stein raufrollen muss. Bei mir im Büro, da trugen wir ja nur Aktenordner hin und her, oft genug nutzlos, aber ich glaube, das muss sein. Die Melodie, die mir damals im Kopf herumging, immer drei Stufen der Tonleiter rauf, und dann die gleichen Töne runter, immer wieder, total eintönig und hypnotisch, erschien mir bestens zu meinem langweiligen Büroalltag zu passen. In der Woche nach unserer Rückkehr verarbeitete ich die Melodie zu einem kleinen Lied, schrieb auch einen Text mit manchen Sätzen, die ich im Harz ausgesprochen hatte. Eigentlich handelte das Lied davon, wie ich Tag für Tag und Woche für Woche die Aktenordner aus dem im Keller gelegenen Archiv in mein Büro trug, Aber meiner Frau und dem Nachbarn erklärte ich, dass das Lied, durch unser Wochenende im Harz inspiriert sei. Eigentlich haben sie ja Recht, man geht rauf UND runter oder kann genauso gut am Strand entlangspazieren. Aber mir selbst erschien das alles wertlos, nur den Berg hinauf, darauf kam es MIR an.

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