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Marianne war also aus Berlin verschwunden und ließ mich mit der schwierigen Frage zurück, wie ich die Lücke schließen sollte, die sie hinterließ. Aber es gelingt sowieso nie, die sozialen Strukturen frei nach Wunsch zu gestalten. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sofort die nächste Künstlerin auftauchen können, aber es kam nur die kleine Tina vorbei. Die hatte zwar auch das unbändige Verlangen, etwas Kreatives zu tun, am besten mit der Super-8-Kamera, doch dieses Verlangen unterdrückte sie offensichtlich problemlos. In all den Jahren, die ich inzwischen in Berlin wohnte, war bei ihr noch nichts passiert, das gestand sie freimütig, zu Hause habe sie immer noch die Filme liegen, die ich ihr damals gegeben hatte. Ob die denn überhaupt so lang haltbar seien? Die große Tina, habe ihr Versprechen, nach Berlin zu kommen nicht eingehalten, deshalb sei sie mit schuld an der Kunsttatenlosigkeit. Tatsächlich hatte auch ich die große Tina seit Jahren weder getroffen noch gesprochen. Nun stand ich im Hinterhofkino hinter dem Tresen kümmerte mich um den Karten- und Bierverkauf, das machte ich ein paar mal pro Monat Die kleine Tina hätte ich um ein Haar gar nicht erkannt. Erst als sie mich fragte, ob ich mich noch an sie erinnern könne, wurde mir klar, dass ich mir keine Strategie zurechtlegen brauchte, wie ich diese attraktive Frau kennenlernen könnte, denn wir kannten uns schon. Sie hatte inzwischen rote Haare und eine eigentlich veraltete New-Wave-Frisur, vorne lang und hinten den Nacken ausrasiert, was ziemlich gut zu ihr passte. Damals, nachdem wir die Kameras getauscht hatten, sei sie erst einmal nach Indien gefahren und von dort mit einem neuen Freund zurückgekehrt. Der habe sie dann an den Prenzlauer Berg entführt. Nun habe sich das erledigt. Vor ein paar Monaten sei es ihr endlich gelungen, den Untermieter aus ihrer eigenen Wohnung rauszukriegen und jetzt wohne sie wieder um die Ecke vom Hinterhofkino und es sei toll, dass sie mich hier träfe. Was ich mit ihrer, oder vielmehr mit meiner 16-mm-Kamera inzwischen alles gemacht habe, wollte sie ebenfalls wissen.
Deshalb gab es für mich viel zu erzählen. Ich stand hinter der Bar, musste aber an jenem Abend zwischendurch immer wieder mal in den Vorführraum, wodurch ich besonders wichtig wirkte. Tina wiederum hatte eine halbwegs hübsche, aber langweilige Studienkollegin dabei, mit der sie eigentlich einen Film ansehen wollte, der aber gar nicht mehr lief. Das gab mir die Gelegenheit, Tina zu erklären, was sie verpasst hatte, denn ich kannte den Film und mochte ihn. Die Studienkollegin sagte kaum etwas. Wenn ich zwischendurch verschwand, um der neuen Praktikantin beim Filmrollenwechsel beizustehen, hatte Tina Gelegenheit, sich mit ihrer Begleitung zu unterhalten. Dann kam ich zurück, übernahm wieder die Theke und das Gespräch.
Ich versuchte, mit einigen Fragen Tinas Bekannte mit einzubeziehen, aber es war Tina, die immer wieder auf meine Filme oder meine Filmkameras zu sprechen kam. Irgendwann verabschiedete sich die Studienkollegin. Es war schon spät und beim letzten Rollenwechsel nahm ich Tina mit in den Vorführraum, wo die Projektoren vor sich hinschnurrten und die großen Spulen bis knapp unter die Decke des vollgestopften Raumes reichten. Es roch nach Zelluloid und den Geheimnissen, die dieses Material umschwirren. Zum Beispiel jenes, dass Filme längst nicht mehr aus Zelluloid sind, da es sich dabei um ein extrem feuergefährliches Material handelt. Als wir uns an den Projektoren vorbei zur Steuereinheit schlängelten, berührte mich Tina sehr auffällig. Die pickelige Praktikantin, die inzwischen kapiert hatte, wie man von einem Projektor zum anderen überblendete, schaute Tina skeptisch an, aber es war mit dem Hinterhofkinoprogrammdirektor verabredet, dass ich an ihrem ersten Abend alle Überblendungen zu überwachen hatte und inzwischen waren wir bei der letzten.
Die Spule, die jetzt startete, war das langweilige Ende eines angeblich epochalen neorealistischen antifaschistischen Dramas aus den italienischen 1950er-Jahren. Irgendein Institut für cineastische Weltkultur hatte eine frische Kopie spendiert, die jetzt in allen wichtigen Hinterhofkinos der westlichen Welt vor durchschnittlich fünf Zuschauern pro Vorführung lief. Die pickelige Praktikantin würde später vier Kartons mit jeweils über 30 kg Gewicht die schmale Treppe runtertragen müssen, weil die Kopie noch am Abend abgeholt werden sollte. Ich hätte ihr gern dabei geholfen, wenn die ersten drei Filmrollen schon zerteilt und verpackt gewesen wären, aber sie meinte, das mache sie lieber am Schluss, wenn der Film zu Ende sei. Ich hingegen erhoffte mir, zu diesem Zeitpunkt mit Tina in ihrer um die Ecke liegenden Wohnung bereits intim zu werden. Letztendlich klappte das nicht, weil Tina mir zwar zum Abschied einen Kuss verpasste, mich aber mit einem undeutlichen Gemurmel, dass sie dringend schlafen und am nächsten morgen früh raus müsse, an der entscheidenden Straßenkreuzung in Richtung U-Bahn schickte.
Wenige Wochen später war es soweit, da nahm sie mich mit zu sich nach Hause. Am Tag davor hatte ich meinen persönlichen Rekord gebrochen und 18 Stunden lang am Stück gearbeitet, immer noch im Dienst der Seifenoper. Anschließend war ich in eine Bar gegangen, in der ich mich mit großzügig eingeschenkten Whiskys beruhigte. Ich schlief lange, trank nachmittags mit Henry und Ulrich Kaffee und als ich Hunger bekam, telefonierte ich mit Tina, um zu fragen, ob sie Lust auf Pizza hätte. Hatte sie nicht, aber stattdessen gingen wir am frühen Abend in das überteuerte Restaurant für vegetarische Spezialitäten, tranken guten Wein und dann, obwohl wir bis zu dem Zeitpunkt kaum Berührungen ausgetauscht hatten, war die Zeit reif für den ersten gemeinsamen Geschlechtsverkehr. Der wurde bei ihr zu Hause umgehend vollzogen, quasi aus dem Stand. Wir verzichteten darauf, uns in ihre dekorativen Sessel im Wohnzimmer zu setzen, oder in die Küche, es gab auch keinen Wein oder eine Zigarette, stattdessen ließ sie sich gleich ins große Bett fallen und ich hinterher. Es ergab sich wie selbstverständlich, alles war klar und einfach, harmonisch und sensationell zugleich. Nackt auf dem Bett liegend quatschten wir lange dummes Zeug, dann merkten wir, wie früh es war und in wunderbarem Einverständnis gingen wir um halb zehn noch mal raus ins gerade beginnende Nachtleben, sie trank Sekt, ich Campari. In unserer übermütigen, guten Laune verwickelten wir mehrere Leute, die sich an der Theke langweilten in eine Diskussion über die von mir aufgestellte These, dass wir im Kulturüberfluss leben würden und deshalb sei die Kultur nichts mehr wert. Die meisten gehörten irgendwie zum Kulturbetrieb, was zwar meine These stützte, aber sie fühlten sich alle dazu berufen, mir vehement zu widersprechen. Schließlich ergänzte Tina meine Forderung nach kultureller Verknappung mit ihrem Anspruch auf mehr Sex für Frischverliebte. Wir kehrten mit einer Flasche Wein vom Spätkauf in ihre Wohnung zurück, warfen die Klamotten ab und legten uns wieder in ihr großes Bett. Sie sagte mir, sie habe beschlossen, alles gut zu finden, und das werde sie jetzt auch tun. Die Dinge, die Menschen und die Verhältnisse gut zu finden, sei sehr angenehm, und vor allem sei es jetzt erst einmal ihr Bedürfnis, mich gut zu finden. Obwohl ich doch gar nicht hübsch sei, obwohl ich auch nicht erfolgreich sei, obwohl ich immer so viel über Technik reden würde und obwohl mein Schwanz inzwischen schlapp herunterhinge. Das alles mache mich nur noch liebenswerter. Ich fand nicht heraus, wo ihre Ironie begann, aber ihre Erläuterungen zur Welt waren in einer unbekannten, faszinierenden Weise kritisch und positiv zugleich. Oder war sie einfach zu hübsch, als dass ihr Gerede bei mir die übliche Esoterikwarnung hervorgerufen hätte? Aber auch später, als ich nicht mehr so geblendet von ihrem mit lässigem Schwung hingeworfenen nackten Körper war, konnte ich mich an ihrem unergründlichen Humor erfreuen. Ich glaube, sie hatte ein gutes Gespür für den Zeitgeist, den sie feinsinnig negierte. Künstlerin war sie keine. Sie interessierte sich für fast alles, was damit zu tun hatte. Sie wäre gern drin gewesen im System, aber ihr fehlte der Antrieb. Da war kein Bedürfnis, schöpferisch tätig zu sein, nur das Bedürfnis, dazuzugehören und mir zuzuhören, sich alles Mögliche von mir erklären zu lassen. Das war schmeichelhaft für mich, aber es war ganz anders als die Zusammenarbeit mit Marianne, die erst einmal für Jahre verschwunden blieb, sich nicht meldete und sogar ab und zu in Berlin vorbeikam, ohne sich auf ein Treffen mit mir einzulassen. Es sollen wohl wichtige Besprechungen mit Literaturagenten und Theaterdramaturgen gewesen sein, die ihre knappe Zeit beanspruchten, während ich mich immer tiefer in die Subkultur hineinmanövrierte, was gemeinsam mit der kleinen Tina ein besonderes Vergnügen war. Wozu Karriere, wenn man schon die hübscheste Freundin hat, die man sich vorstellen kann? Vielleicht, um eine Sicherheitsreserve zu schaffen, falls diese Freundin verschwindet oder älter wird? Oder um diese hübsche Freundin bei der Stange zu halten? Vielleicht aus Gewohnheit? Oder einfach nur um der Kunst willen, um etwas Großartiges zu schaffen? Für die großartige Seifenoper? Dafür strampelte ich mich ganz schön ab. Dazu ein eigenes Filmchen hier und ein Filmchen dort, ab und zu eine Lesung. In New York war inzwischen jemand auf die Idee gekommen, dass man Dichtung nicht nur in Denkerpose am Tisch vortragen könne, sondern dass es viel zeitgemäßer sei, eine mehr oder weniger effekthascherische Show daraus zu machen, die als Poetry Slam zu bezeichnen sei. Dabei schürt man die sowieso zwischen den Künstlern vorhandene Konkurrenz durch eine Publikumsabstimmung, die darüber entscheidet, wer sich als Gewinner des Abends fühlen dürfe. Angeblich, so behaupteten die Medien damals, seien die Slammer in New York extrem bedürfnislos, überambitioniert und so poesiefixiert, dass sie sich damit zufrieden gäben, wenn der Sieger einen Drink umsonst bekäme. Als der Trend nach Berlin schwappte, sprang ich gleich auf den fahrenden Zug, denn es entstanden zu der Zeit mehr Texte, als ich bei meinen Filmvorführungen lesen konnte. Obwohl ein Slam spontan durch die Anwesenheit der Poeten sein Programm entwickelte, gab es immer einen Organisator und Moderator. Einige von ihnen pflegten die lobenswerte Gewohnheit, den Inhalt der Eintrittskasse mit den Slammern zu teilen. Andere steckten sich alles in die eigene Tasche und im schlimmsten Fall gab es nicht mal Freigetränke.
Zur gleichen Zeit entwickelten sich die sogenannten Lesebühnen, quasi ein Instant-Kabarett, wozu man keine amerikanischen Vorbilder brauchte, aber ein paar Freunde. Die Lesebühnen bestanden in der Regel aus einer festen Gruppierung von Autoren und solchen, die es werden wollten, einem festen Wochentag und einem festen Ort. Die Autoren saßen auf einer Bühne und wechselten sich mit dem Vorlesen ihrer frisch geschriebenen Texte ab. Die meisten handelten davon, dass die Welt feindlich, kapitalistisch oder ungerecht sei, was aber den Erzähler nicht aus der Bahn werfen könne. Die bevorzugten Schauplätze dieser Geschichten waren die entsprechenden Mikrokosmen der alternativen Lebenswelt. Unsanierte Ostberliner Wohnungen, Künstlerboheme, Nachwende-Anarchie, Alltagsleben ohne Arbeit waren die wichtigsten Bestandteile der heraufbeschworenen Normalität. Touristen, Investoren und Behörden hingegen fungierten als Aliens, die in diese funktionierende Welt einzudringen versuchten, um sie zu zerstören. Diese typische Szenerie für die Geschichten der Lesebühnen gab es auch in vielen meiner Texte. Deshalb konnte ich mich als Gastautor bei einzelnen Veranstaltungen einschleichen, aber ich gehörte zu keiner festen Gruppierung. So viele Texte, dass ich jede Woche etwas Neues hätte vortragen können, schrieb ich auch wieder nicht.
Filme drehte ich allerdings noch viel weniger, da schaffte ich, wenn es gut lief, vier Fünfminüter pro Jahr. Mit Kurzfilmen durch die Subkultur zu ziehen, war eigentlich extrem uneffektiv, man brauchte immer wieder neue, obwohl die vorhandenen Filme den Aufwand ihrer Herstellung überhaupt noch nicht eingespielt hatten, und sie würden dieses Ziel auch nie erreichen. Inzwischen waren schon einige der tschechischen 16-mm-Filmprojektoren kaputtgegangen und mir schien, als seien die 16mm-Filmabende in den kultur-aktivistischen Kneipen bereits auf dem Rückzug. Sogar im Hinterhofkino sprach der Programmdirektor davon, dass er darüber nachdenke, sich einen Videobeam zu besorgen. Das fand ich gar nicht schlecht, denn Martin hatte mit meiner Unterstützung ein paar Videominiaturen am Computer erzeugt, von denen ich gar nicht wusste, wie wir sie in der Öffentlichkeit zeigen sollten und ob ich das wollte. Damals machte ich mich oft über diese aufkommende Computerfixiertheit lustig, polemisierte über digitale Technik, digitale Kunst und dieses ominöse Internet, dessen Wichtigkeit sich mir zu dem Zeitpunkt noch nicht erschlossen hatte. Aber Martin kannte sich mit all dem aus, verdiente damit Geld und wenn wir uns trafen, fand ich sehr interessant, was er mir zeigte und erklärte. Trotzdem hatte ich keinen Antrieb mich damit alleine zu beschäftigen. Da würde ich mich womöglich verzetteln.
Ach was! meinte Tina, ich solle alles machen, was gehe, das sei spannend. Wir saßen an einem Biergartentisch neben der Markthalle und aßen Schnitzel. Achim war auch mal wieder dabei. Tina fragte mich auch noch, wieso meine Filme so selten auf Festivals liefen. Ich sagte, dass sie nur dann laufen könnten, wenn ich sie hinschicken und mich bewerben würde. Ob ich das denn mache? Ich sagte, nein, das mache ich nicht. Warum denn nicht? Weil ich es nicht leiden könne. Außerdem könne ich es auch nicht leiden, Anträge für Förderungen zu stellen. Wenn ich so einen Antrag nur sähe, überfalle mich eine Depression. Deshalb sei es mir auch nie gelungen, einen auszufüllen.
Ich wandte mich an Achim, ob er denn inzwischen irgendeine Förderung für seinen Drehbuchentwurf, den wir gemeinsam ausformuliert hatten, in die Wege geleitet habe. Achim behauptete, er müsse noch einen anderen Anfang für den Film finden und die Rolle der U-Bahnzugführerin klären. Das klang so, als hätten wir unseren Entwurf vor einer Woche beendet und er würde das Exposé nächste Woche fertig stellen. Dabei war Marianne schon vor eineinhalb Jahren weggezogen. Damals hatten wir den Entwurf ausgedruckt und Achim überreicht. Die Jahre gingen ins Land und nichts passierte. Ich unterdrückte einen kritischen Kommentar, der mir auf der Zunge lag und wurde von Achim überraschte, denn er erzählte, was mir noch unbekannt war: Angeblich habe er damals die Anträge für Marianne geschrieben, zum einen jenen, der zu ihrem Stipendium in der Uckermark geführt habe und danach habe er ihr nochmals geholfen, was wiederum einem positiven Bescheid nach sich gezogen habe. Eigentlich sei es ganz einfach gewesen. Es war einfach, weil wir keinerlei Zweifel daran hatten, dass Marianne die Richtige für ein Stipendium war, sagte ich und Tina fragte, ob oder wieso wir denn bei uns selbst zweifeln würden?
Wir sind notorische Zweifler, brummte Achim und ich nickte zustimmend. Das ist unsere einzige Qualität. Alles anzweifeln, alles besser wissen, wir sind das Gegenteil derjenigen, die etwas gut finden. Nur Schnitzel mit Bratkartoffeln sind über die allgegenwärtigen Zweifel erhaben. Dann steckten wir uns beide ein dickes Stück Fleisch in den Mund und spekulierten darauf, dass Tina die Vorteile vegetarischer Ernährung anpries, doch sie ließ sich nicht so schnell von diesem unliebsamen Thema ablenken und versuchte, uns zu überzeugen, dass es unter den gegebenen Umständen am besten sei, wenn ich Achims Anträge und Achim wiederum meine Anträge schriebe. Das wollten wir aber beide nicht. Ohne Angabe von Gründen, denn es gäbe keine Gründe.
Ich für meinen Teil war mir zu fein, Achim einen Antrag zu schreiben, er hatte schließlich überhaupt keine Reputation Aber indem ich an das bedeutungsschwangere Wort Reputation dachte, verfiel ich in einen Selbsthinterfragungsprozess. Ich sagte mir, dass ich doch eigentlich selbst wissen solle, was GUT und was SCHLECHT sei, aber indem ich mich auf die Werturteile beziehungsweise die fehlenden Werturteile anderer verlasse, erweise ich mich als ästhetischer Schwächling. Wenn ich dann auch noch die sogenannte Reputation ins Spiel bringe, dann orientiere ich mich an den Werturteilen der ungeliebten Kulturinstitutionen und Kunstbehörden, denen ich bisweilen jegliche Kompetenz zur Kulturbeurteilung absprach, zumindest dann, wenn sie im Widerspruch zu meiner eigenen Kulturbeurteilung standen. Andererseits war ich für eine völlig selbstbezogene Bewertung zu schwach oder zu kritisch, es funktionierte bei mir nicht MEHR, wenn ich sagte: ICH finde das gut, deshalb IST es gut. Ich, vor allem ich, könne gar nicht wissen könne, was denn wirklich gut ist, denn wenn ich es wüsste, würde ich es machen, dann wäre alles viel einfacher und ich schon WEITER. Was immer dieses WEITER auch bedeuten möge. Achims Drehbuchidee mit dem Taxifahrer, hingegen, daran zweifelte ich nicht, war schlicht und ergreifend Quatsch.
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Wir verbrachten einen Abend bei Martin, der den Abschied von seiner alten Zweizimmerwohnung mit Pizza und Wodka feiern wollte. Sein Büro für Internetgestaltung, das er mit einigen anderen Absolventen seiner digitalen Kunstakademie betrieb, war angeblich ein florierendes Geschäft. Er meinte, er habe alle eingeladen, die ihm wichtig seien. Das waren auffällig viele Geschäftskontakte. Ansonsten Kollegen, Studienfreunde und wir, also Achim, Tina und ich. In dem länglichen Raum, in dem ich damals auf der alten Matratze die ersten Monate in Berlin verbracht hatte, war eine ausgehängte Tür auf zwei Böcken als Tafel aufgebaut, ringsherum standen Klapphocker. Die Pizza stammte von irgendeinem besonders exklusiven Italiener, Wein gab es natürlich auch.
Auf beiden Stirnseiten des Raumes wurde je eine Endlosprojektion direkt auf die stark renovierungsbedürftige Wand projiziert. Auf der einen Seite eine Super-8-Schleife aus Einzelbildern, die ich in Ost-Berlin gesammelt hatte, als dort noch jedes zweite Haus aussah, als würde es gleich zusammenfallen. Die andere Schleife hatten Martin und ich gemeinsam am Computer entworfen. Eigentlich beschränkte sich mein Beitrag auf ein paar spontane Anmerkungen, die Martin auf die Idee brachten, die Verwandlung von Plattenbausiedlungen zu Einfamilienhäusern und wieder zurück mit einem Animationsprogramm zu visualisieren. Visualisierungen wollen jetzt alle, erklärte er mir damals, während er am Computer hantierte und ich mich um den Wein und die Snacks kümmerte. Im hinteren Zimmer hingen drei großformatige Schwarzweiss-Fotos, die Martin selbst abgezogen hatte. Ansonsten war die Wohnung vollständig leer, den Umzug hatte er bereits hinter sich.
Fast alle Gäste trugen Jackett, weißes Hemd, keine Krawatte. Eben die üblichen Abgesandten der Kreativwirtschaft. Achim und ich waren die einzigen Männer, die nicht dem vorherrschenden Dresscode entsprachen, aber ich war ja durch die Projektion als praktizierender Künstler aufgewertet, außerdem schmiegte sich Tina an meine Seite und sie sah wieder einmal so gut aus, dass ich mir sicher sein konnte, man würde mich ernst nehmen. Achim hingegen hielt sich mit seiner großen Klappe ziemlich zurück. Ihn hatte man in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hineindelegiert, die aus dem Studienabbrecher ein wertvolles Mitglied für den ersten Arbeitsmarkt machen sollte, aber so wie er mir das im Hinterzimmer erzählte, sei alles konzeptionell und ideologisch fragwürdig, eine reine Repressionsmaßnahme gegen die hilflosesten Teilnehmer am postmodernen Ausbeutungskapitalismus, wobei er sich selbst als einen Irrläufer darstellte, während seine ABM-Kollegen die wirklich schikanierten Kreaturen ohne Perspektive seien. Früher hatte ich solche Parolen pauschal und lauthals bekräftigt, aber inzwischen hielt ich mich zurück und überließ es Tina, Mitgefühl und Verständnis für Achim zu spenden.
Über Behörden zu schimpfen und ihnen Unfähigkeit vorzuwerfen sei immer sehr leicht, mischte sich ein smarter Mitvierziger ins Gespräch, der für die Öffentlichkeitsarbeit irgendeines Bildungsträgers verantwortlich war und Martin den großen Auftrag verschafft hatte, mit dem sich seine junge Firma nun freizuschwimmen versuchte. Es entspann sich ein durch gegenseitiges Verständnis geprägtes Gespräch über das Für und Wider der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Der smarte Mitvierziger war in seiner mit vielen Fakten und moderaten Meinungen garnierten Argumentation Achims Polemik argumentativ weit überlegen. Aber leider langweilig, so dass wir versuchten, wegzukommen, was in der leergeräumten Zweizimmerwohnung erst gelang, als das Thema weitgehend erschöpft war. Nichtsdestotrotz halfen einige Wodkas bei der Entspannung und Tina wurde erst einmal von einem überaktiven Spezialisten für digitale Bildspeicherung angebaggert. Unterdessen wollte mir Achim weitere Unstimmigkeiten und innere Widersprüche seiner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erläutern. Ich konterte mit den Schattenseiten meiner eigenen Berufserfahrung, um mir sein Gejammer und vor allem seine Besserwisserei nicht anhören zu müssen. Meine sorgenlose Zeit bei der Seifenoper war vorbei und ich pendelte zwischen einigen Auftraggebern hin und her, die alle ihre spezifischen Nachteile hatten. Überall war ich nur der Ersatzkameramann und der Arbeitsalltag mit den vielen täglich wechselnden Einsatzorten für das banale Kommerzfernsehen ging mir manchmal ziemlich auf die Nerven. Aber es bot sich zu dem Zeitpunkt keine Alternative. Angesichts der vielen jungen Männer in ihren weißen Hemden um mich herum, drängte sich mir die Frage auf, wer denn nun eigentlich cool sei, sie oder ich, oder alle? Sie, weil sie den Typ des Jungunternehmers so lässig repräsentierten, oder ich, weil ich in meinem Karohemd und der abgeschabten Jeans mich einen Scheiß drum scherte? Alle versuchten so zu wirken, als ob sie es nicht nötig hätten, sich von den Widrigkeiten der Welt anfechten zu lassen. Nach Möglichkeit ohne Anstrengung und Schweiß! Ohne Überforderungsattacken, Selbstzweifel, Sinnkrisen und ideologischem Standortverlust. Wie schön ließ es sich mit einem Glas Wodka in der Hand sagen, dass mir die Bilderwelt des Kommerzfernsehens am Arsch vorbeiging, aber wenn ich dann im Schlepptau eines Reporters oder einer dieser hartnäckigen Reporterinnen mit geschulterter Kamera Bilder sammeln musste, war es eine ernste Angelegenheit, eine Sache der Ehre, dass ich das, was ich machte, gut machte. Das Wort Ehre ist ja wiederum total uncool, und niemand traut sich, es ohne Ironie in den Mund zu nehmen, um sich nicht lächerlich zu machen. Um es diskurstauglich zu formulieren, könnte ich sagen, dass die Arbeit als Kameramann eine hohe Identifikation zwischen mir und dem kulturellen Produkt meiner Arbeit fordere, auch wenn diese sich auf dem Weg zum Konsumenten am Bildschirm wieder verflüchtige. Diese Identifikation und die Mühen, die sie mir bereitete, wollte ich mir nicht anmerken lassen. Es war ein wohl gehütetes Geheimnis, dass es manchmal meine GANZE Kraft kostete, den Anforderungen gerecht zu werden und in einigen seltenen Fällen hatte die GANZE Kraft nicht gereicht, da hatte ich etwas vermasselt. Wie schön war es, wenn man so wirkte, als könne man das auf der linken Arschbacke absitzen! Oder in die sogenannte Selbstverwirklichung integrieren, unterordnen, die Welt dreht sich um mich, nicht ich um sie. Was für ein anmaßender Ansatz der Selbsteinschätzung, den ich mir, soweit ich meine Lage auf dem Arbeitsmarkt richtig einschätzte, nicht leisten konnte.
Solche Grübeleien und Achims Arbeitsbeschaffungsmaßnahmengerede verdarben mir schließlich die Stimmung. Oder war es der Anblick, wie der Spezialist für digitale Bildspeicherung an Tinas Ohren klebte, und sie an seinem Mund? Als ich mit einer abfälligen Bemerkung über die anwesenden Menschen den Rückzug einzuläuten versuchte, stimmte mir Tina zu und schaffte es nebenbei, Achim irgendeinen Grund zu liefern, weshalb er nicht bei uns im Taxi mitfahren könne. Auf der Schwelle fing er dann noch mal mit der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme an und überraschte mich mit der Behauptung, Marianne habe ja bereits damit begonnen, ein Theaterstück über dieses Thema zu schreiben, mit seiner Hilfe. Ein Stipendium habe sie auch schon dafür. Ich versuchte mein Erstaunen über diese Nachricht zu verbergen. Da Marianne sich einen Scheiß darum kümmerte, wie es mir ging, wollte ich mir den Anschein geben, als sei es mir ebenfalls weitgehend egal, was sie tat oder zu tun beabsichtigte. Ich verabschiedete mich mit einer nichtssagenden Geste von Achim und schob Tina die Treppe hinab.
Es war noch nicht spät, wir hätten auch die U-Bahn nehmen können, aber Tina würgte diese Diskussion über die Wahl der Fortbewegungsmittel grundsätzlich mit ihrem Angebot ab, dass sie das Taxi bezahlen würde. Tina fuhr gerne Taxi, auch lange Strecken und störte sich nicht daran, in einer Nacht fünfzig Mark oder mehr für die Fahrten auszugeben. Wenn wir gemeinsam auf der Rückbank saßen und die Lichter des nächtlichen Berlin vor den Fenstern vorbeiglitten, legte sie den Kopf auf meine Schulter und sagte, dass das ihr Lieblingsfilm sei. Vor allem der Anblick der erleuchteten Hoch- oder S-Bahnen, die über dem Straßenniveau dahinschwebten, während sie auf der weichen Taxirückbank im Warmen sitze, versetze sie in Hochstimmung. Auf dem Rückweg von Martin war es ein schier endloser ICE, der über die Brücke fuhr. Die S-Bahn kam von der anderen Seite, die leuchtenden Fenster überlagerten sich und noch bevor sich die ungleichen Züge trennten, näherte sich unser Taxi der Brücke, so dass die Züge aus dem Blickfeld der Frontscheibe verschwanden. Für einen kurzen Moment sah ich die S-Bahn vor meinem seitlichen Fenster, dann achtete ich nicht mehr auf sie. Tina hingegen drehte sich um und schaute dem ICE noch hinterher, als er zwischen den Bäumen des Parks verschwand. Kniend auf der Rückbank, mit überkreuzten Armen auf der Hutablage, beobachtete sie eine Weile lang verträumt den blinkenden und blitzenden Verkehr der sechsspurigen Straße, während sich mein Blick unweigerlich an den vereinzelten Prostituierten des Straßenstrichs verfing. An dem Abend waren es nur aufgedonnerte alte Schachteln. Dann ließ sich Tina langsam umfallen, so dass sie mit dem Kopf auf meinem Schoß zu liegen kam. Ich musste den Rücken krumm machen, um sie zu küssen. Es war einer der Momente, an dem ich mir sicher war, sie zu lieben. Und zu bewundern für ihre Schönheit und Unbekümmertheit. Für ihren zierlichen, weichen Körper. Ich solle mich um Achim kümmern, meinte sie, er sei ihrer Meinung nach in einer kritischen Situation, die sich verheerend zuspitzen könne, wenn er jetzt noch weiter in die Perspektivlosigkeit der deutschen Arbeitslosenverwaltungsmaschinerie hineinschlittere. Ich gab Tina recht, aber ich wisse trotzdem nicht, was ich machen solle, da Achim auf Grund seiner Großmauligkeit nie zugäbe, dass er Hilfe brauche, und das sei das Hauptproblem: Er lebe auf merkwürdige Weise in seiner eigenen Welt. Wenn es darum gehe, Kritik auszuteilen, sei er sehr amüsant und analytisch, doch wenn man nachfrage, was er selbst zustande gebracht habe, dann käme da eigentlich nichts, da erscheine seine rigorose Kritik als Anmaßung, Hochstapelei, als Stammtischpolitik. Ich solle nicht über ihn herziehen, sondern ihm helfen, meinte Tina und ich zuckte mit den Schultern. Mir schien, als sei die Zeit, in der ich selbst Hilfe bräuchte, längst nicht vorbei. Das dachte ich mir, sagte aber nichts, sondern küsste Tina auf den Mund und sie erwiderte meine Zärtlichkeit. Als wir Kreuzberg erreichten, zog sie ihren Kopf von meinem Schoß und setzte sich wieder neben mich. Leuchtend fuhr die Hochbahn vorbei. Tina freute sich und versuchte mir einzureden, dass dies ein gutes Omen sei.
Am nächsten Morgen suchte sie am Frühstückstisch in ihrem Handtäschchen eine Visitenkarte, die von Mike Müller stamme, dem Spezialisten für digitale Bildspeicherung, der sich am Vorabend mit ihr unterhalten habe. Der brauche noch einen Allrounder, so jemanden wie mich, und eigentlich könne ich Achim auch noch mitnehmen, als Praktikant. Eine digitale Spielfilmproduktion sei das, mit einem kleinen Team. Ich staunte. Wieso hatte mir das Tina nicht schon am Abend erzählt? Da sei sie nicht in der Laune für solche Realitätsprobleme gewesen, sondern nur aufnahmebereit für irreale Phänomene wie Achim und seine offensichtliche Persönlichkeitsstörung. Aber die könne man doch bestimmt beheben, indem man Achim zum Klappenschläger mache, denn Mike Müller habe gesagt, der Klappenschläger müsse dabei sein, aber es gebe kein Geld für ihn, nur die Erfahrung, was es heiße, Kreativität in der Gemeinschaft zu entwickeln. Wobei Mike Müller diese Formulierung wie in Anführungszeichen ausgesprochen habe, denn sie stamme vom Regisseur. Ihn, den Spezialisten für digitale Datenspeicherung, könne man nicht mit solchen leeren Versprechungen an ein Filmset locken, er komme nur, wenn die Bezahlung stimme, und das sei bei dem Projekt nicht der Fall, das sei ein Projekt für Leute, die noch ein paar Jahre in Vorleistung gehen könnten oder wollten oder müssten, je nachdem, wie man es definiere.
Ich rätselte, ob ich Tinas Gerede ernst nehmen sollte. Als ich sie fragte, was Mike Müller mit dem Film überhaupt zu tun habe, wenn er sowieso nicht mitmache, sagte sie, dass sie das nicht wisse. Auf der Visitenkarte, die sie inzwischen gefunden hatte, stand allerdings Michael Münster und es gab keinerlei Berufsbezeichnung, nur ein quadratisches Feld mit Einsen und Nullen. Michael Münster und Mike Müller sei doch fast das Gleiche, zumal diese Person nur der Kontaktmann sei, der wisse, an wen ich mich zu wenden habe, sagte Tina, ich solle mich darum kümmern, denn sie habe keine Lust, den Kontakt weiter auszubauen, da Mike Müller, nachdem er die wichtigen Fakten über das Filmprojekt und seine berufliche Identität preisgegeben hatte, nur alle die langweiligen Banalitäten als Small Talk aufgetischt habe, die ihr als gutaussehender, kontaktfreudiger Frau ständig in die Ohren gepustet würden, dieses permanente Geschwätz über Berlin bei Nacht, Bars, Cocktails und Neuigkeiten über den letzten USA-Aufenthalt. Für sie sei Mike Müller der passende Name, aber sie selbst zweifellos die falsche Gesprächspartnerin, was sie ihm aber keinesfalls übel nähme.
Das klang so, als müsse ich mich tatsächlich um die Angelegenheit kümmern, auch wenn alles sehr vage schien. Früher, in meiner trübsinnigen Berliner Anfangsphase, hätte ich mich womöglich verrückt gemacht vor lauter Hoffnungswahnsinn und den Wunschfantasien, wie mich so ein Kontaktmann mit anderen Kontaktmännern so kontaktieren könnte, dass daraus eine unglaubliche Ereigniskette in Gang gesetzt werden würde. Es gab aber auch Phasen, während denen ich mich gar nicht um solch einen dubiosen Hinweis geschert hätte. Aber da Tina spätestens bei meiner nächsten Beschwerde über meinen Berufsalltag nachfragen würde, griff ich zum Telefon.
Michael Münster meldete sich, machte nicht viel Aufhebens und gab mir eine andere Telefonnummer, von der ich zwar auch nicht viel Konkretes erfuhr, aber ich sollte schon zwei Tage später im Produktionsbüro vorbeikommen. Also ließ sich schnell klären lassen, was von der Sache zu halten war. Als ich in der fast leeren Fabriketage ankam, die als Produktionsbüro diente, stieß ich mit Stefan zusammen, jenem Studienkollegen von Martin, der bei der Premiere des falschen Films auf unserem Gehöft zu Besuch gewesen war. Er fungierte zwar auch nur als Berater für digitale Technologie und hatte gerade einen Schnittplatz installiert, aber er kannte sowohl das Projekt, als auch den Regisseur und gab mir alle wichtigen Informationen über die Technik, die verwendet werden sollte. Die Aufnahmeleiterin, die mir einen Kaffee vor die Nase stellte, beschwatzte er, dass ich vermutlich genau die Art von Videoexperte sei, den sie bräuchten. Sie beeindruckte das nicht, aber während Stefan ihr erzählte, dass ich mich mit Super-8- und 16-mm-Film herumgeschlagen hätte, tauchte der Regisseur auf, der gleichzeitig die Kamera führen würde, und der nickte wohlwollend, als er das hörte. In der Hand hielt er eine diese neuen, kleinen Digitalkameras, mit denen ich mich doch hoffentlich schon auseinandergesetzt hätte, da sich hier unglaubliche Möglichkeiten erschlössen.
Ja, zum Glück hatte ich fünf Minuten vorher die gewünschte Auseinandersetzung mit der digitalen Technik durch Stefan im Schnellverfahren übergestülpt bekommen. Ungeachtet dieses Zufalls schien der Regisseur meine unzusammenhängende Sammlung an Erfahrungen als genau passend einzuschätzen. Er und Stefan hatten in den letzten Tagen den sogenannten Workflow festgelegt, also ein Konzept, welche Technik und welche Dateiformate in den jeweiligen Produktionsphasen verwendet werden würden. Offensichtlich genoss Stefan genügend Vertrauen, so dass seine gute Meinung über mich wichtig genommen wurde. Er, Stefan, war es auch, der die Bemerkung fallen ließ, wir könnten doch auch noch meinen guten alten Freund Achim ins Team integrieren und niemand widersprach. Dann stellte sich heraus, dass die Regieassistenz eine von den Reporterinnen war, mit denen ich bereits zusammengearbeitet hatte. Es sah also ganz danach aus, als ob ich perfekt ins Team passen würde. Aber leider nicht als Kameramann, denn Kamera wollte der Regisseur selbst führen, als Kameraassistent war Edgar vorgesehen, genannt Eddi, der ja auch ein super Typ sei, mit dem ich mich bestimmt toll verstehen würde. Die Position des Tonmanns war noch frei, wie wäre es denn damit? Eine Tonangel werde ich schon halten können. Anregend fand ich das nicht, Tonmänner sind Pedanten und das müssen sie auch sein. Dachte ich mir, und versuchte noch mal auf Kameraassistenz oder Beleuchtung zu sprechen zu kommen, doch Beleuchtung würden wir kaum brauchen, es sei ja geplant, vor allem available light zu nutzen, also die vorhandenen Lichtquellen, und dass ich als Tonmann auch beim Einrichten des Lichtes mithälfe, davon gehe er aus, deshalb wolle er einen vielseitigen Menschen wie mich und keinen verbohrten Fachidioten. Das mit Eddi sei allerdings schon völlig sicher, Eddi werde Assistent. Sie hätten gemeinsam bereits die ersten Aufnahmen gemacht, um sich über den Look des Films klar zu werden, es liefe auf eine sehr harte Bildästhetik hinaus. Die kleine Kamera liefere ja knallharte Kontraste, damit müssten sie leben, oder vielmehr eine Tugend draus machen. Wer es weich und lieblich haben wolle, der müsse eben die große 35-mm-Ausrüstung mitnehmen, mit diesem dazugehörigen riesigen Apparat an Geräten und Technikbedienpersonal. Das habe er, der Regisseur, jahrelang gemacht, jetzt sei hoffentlich endlich Schluss mit der Unterdrückung der Menschen durch die Technologie, jetzt habe er sich diese Kamera gekauft, die so billig sei, dafür könne man die professionelle Filmausrüstung nur drei Tage lang mieten. Aber selbst, wenn man sich die Ausrüstung 20 Tage lang miete und dann noch das Filmmaterial bezahle, müssten alle, die da mitmachten, 16 oder 18 Stunden am Tag hart arbeiten und schafften es trotzdem nicht, die hochfliegenden Ansprüche der inzwischen verwöhnten Produzenten und Regisseure zu befriedigen, weil die ständig nach Hollywood schielten und sich dort orientierten, wo die Teams noch mal doppelt so groß und die Stars fünf mal so teuer seien und die Werbebudgets inzwischen ins Unermessliche abdrifteten. Monströs und maßlos überteuert sei die Profifilmtechnik, sie würde ihm längst zum Hals raushängen, meinte der Regisseur. Wir hingegen hätten ein halbes Jahr, um gemeinsam den Stoff zu entwickeln, gemeinsam zu inszenieren und für den Schnitt stünde nochmal ein Jahr zur Verfügung. Die Zeit sei reif, den ausgelutschten Großbild-Kino-Schönheitswahn der Kulturfilmemacher zu vergessen, stattdessen sollten wir genauso ungezwungen mit der Kamera herumfuchteln, wie der jungen Videonachwuchs, aber mit unseren Inhalten. Natürlich müsse man für diese Freiheiten auch Einschränkungen hinnehmen, vor allem bei der Bezahlung. Noch horrender als die Mieten für die professionelle Technik seien nur die Honorare des langweiligen, hochspezialisierten Technikbedienpersonals. Deshalb schätze er junge, experimentierfreudige Menschen, die an der ganzen Bandbreite des kreativen Filmschaffens interessiert seien und Spaß daran hätten, ästhetische Grenzen zu erforschen.
Mir war klar, worauf diese Anpreisung von unqualifizierten Arbeitskräften hinauslief. Der Tagessatz, den der Regisseur nach seiner umfangreichen Lobeshymne auf die digitale Technologie endlich verriet, war nur ein Drittel vom Honorar, mit dem ich bei der Seifenoper verwöhnt worden war. Auch Achim könne ich mitbringen, eine Praktikantenpauschale, die nicht zum Überleben reichen würde, sei ihm sicher. Mir selbst war die Bezahlung egal, ich hatte ein paar Ersparnisse beiseitegelegt und brauchte nicht viel zum Leben. Die Sache klang spannend, schließlich sollte ein Kinofilm dabei rauskommen. Oder Kinofilmchen? Die Kamera, mit der wir drehen würden, war ziemlich mickrig und die dazugehörigen DV-Tapes verschwanden in der hohlen Hand. Mir persönlich hing die große, maßlos überteuerte Filmtechnik überhaupt nicht zum Hals heraus, weil ich ihr überhaupt noch nie nahe gekommen war. Ob die Welt, so wie der große Regisseur sagte, von ihr befreit werden sollte, wollte ich mir nicht anmaßen zu entscheiden.
31
Ich würde ständig versuchen, in die Vergangenheit zurück zu kriechen, während der große Regisseur unbedingt in die Zukunft springen will, aber als Trendnutte auf der Strecke bleiben wird, meinten Henry und Ulrich, als ich ihnen zu Hause von meinem Vorstellungsgespräch erzählte. Ulrich hatte schon mehrmals Material geschnitten, das mit solchen semiprofessionellen Digitalkameras aufgenommen wurde, die Bildqualität sei gar nicht so schlecht, aber die nervigen Schwenks und gewollten Unschärfen könne er nicht lang aushalten. Es gäbe jetzt Filmemacher, die sich ganz wichtig nehmen und sogar wichtig genommen werden, die quälen die Zuschauer 90 Minuten oder länger mit unkonkreten Wackelbildern. Dieser Stil musste früher oder später kommen, warf Henry ein, das war schon längst überfällig und natürlich kommt das in brutaler Rohheit und mit dem Ideologievorschlaghammer, in ein paar Jahren ist diese Art von Handkamera wieder out und die technische Entwicklung bringt den nächsten Hype hervor. Ich empfand es als angenehm, mich mit meinen Mitbewohnern über diese ästhetischen Fragestellungen zu diskutieren, die letztendlich bei jedem von uns dreien in den Arbeitsalltag hineinreichten. Leider sah ich die beiden gar nicht so oft, wie man es von Mitbewohnern erwarten könnte, außerdem hatten sie inzwischen angedeutet, dass sie sich eine größere und schönere Wohnung in einer besseren Gegend, also im Ostteil der Stadt, besorgen wollten. Beide verdienten gut, weil sie gut zu tun hatten, aber deswegen hatten sie auch keine Zeit und keine Lust, sich um die Wohnungssuche zu kümmern. Henry hauste immer noch in dieser etwas groß geratenen Abstellkammer, davon sollte man ihn endlich befreien. Was sich ja auch dadurch lösen ließ, dass ich zu Tina in ihre spottbillige und nicht ausgelastete Dreizimmeraltbauwohnung zog. Dann hätten die beiden mehr Platz und ich sparte Geld, was wiederum meine Unabhängigkeit erhöhte. Das musste ich Tina schonend beibringen, mit dem Argument der Sparsamkeit würde ich mich unbeliebt machen. Es war gerade mal wieder an der Zeit, sie zum Essen einzuladen. Da ging ich mit ihr wieder in das teure vegetarische Spezialitätenrestaurant, von dem ich hoffte, es würde ihr Gemüt in die bestmögliche Stimmung versetzen. Ich fing mit der Halbwahrheit an, dass Ulrich und Henry gern ohne mich wohnen würden, schlüpfte in die Opferrolle, ich sei der dritte im Bunde, der nicht mehr zu den beiden Designern passt und hoffte damit Tinas Mitleid zu erregten. Aber ihre Antwort war dann doch ganz anders als erwartet, es lief nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Tina eröffnete mir, dass sie sechs Monate in Australien zu verbringen gedenke. Für sie sei es die optimale Lösung, wenn ich während ihres Auslandssemesters in ihrer Wohnung nach dem Rechten sähe. Sie setzte sogar noch eins drauf. Ich könne dann die Zeit nutzen, um für mich eine Wohnung zu suchen, denn wenn sie wiederkäme, solle ich draußen sein. Das war einer der Momente, in denen mich Zweifel überfielen, ob ich Tina wirklich liebte, oder ob ich sie nicht einfach nur süß fand. Außerdem: Ein halbes Jahr Ausland? Wozu denn überhaupt? Wollte sie sich wieder einen Typen angeln und mitbringen, weil ich sie inzwischen langweilte? Oder spekulierte sie darauf, dass ich mir in dem halben Jahr nicht nur eine Wohnung, sondern auch eine neue Freundin suchen würde? Sie könnte ja immerhin anbieten, ob ich mitkommen wolle, aber vermutlich war ich unumstößlich verplant, um ihren geliebten Gummibaum zu gießen. Dann sah sie mich ganz lieb an und meinte, sie habe sich nicht zu fragen getraut, ob ich sie begleite, weil sie wisse, dass ich keinen Wert auf Auslandsaufenthalte lege, aber sie sei schon so lange scharf auf Australien und jetzt sei die letzte Gelegenheit, das mit dem Studium in Einklang zu bringen. Da fiel mir ein, dass Tina schon einige Male von Australien geredet hatte, aber ich war ihr immer mehr oder weniger schroff über den Mund gefahren, weil Australien im Verhältnis zur gigantischen Entfernung einen vergleichsweise geringen Kulturunterschied zu Mitteleuropa zu bieten habe. Das hatte Sabine so gesagt, die ja immerhin Geografie studierte und auch ansonsten meist Recht behielt.
Aber als wir im vegetarischen Spezialitätenrestaurant saßen, gab es sowieso nichts mehr zu diskutieren. Tina hatte die Reise längst beschlossen. Dann verfiel sie während des Essens in eine ansteckende Vorfreude und danach hatten wir sehr gelungenen Sex, so dass sich meine Bedenken zerstreuten. Erst als ich am nächsten Morgen aufstand und ein großes Blatt des Gummibaums auf dem Fußboden liegen sah, stimmte mich das etwas wehmütig. Ich kickte das Blatt mit den nackten Füßen quer durchs Zimmer, hob es aber nicht auf. Tina würde mir bestimmt fehlen. Bis sie die Koffer packte, vergingen noch ein paar Monate.
Es waren die Monate, während denen sich die Arbeit am digitalen Kinofilm immer weiter verdichtete. Am Anfang ging ich nur zu den Wochenbesprechungen ins Produktionsbüro und es wurde viel über Drehorte, Schauspieler und Requisite geredet. Dann stellten Eddi und ich die Technik zusammen, wir reparierten ein paar alte Scheinwerfer und ich musste mich um Funkmikrofone kümmern. Der große Regisseur war manchmal ziemlich witzig, aber, wie mir rückblickend erscheint, wohl auch etwas frustriert, weil es eine Menge Regisseure gab, die als noch größer galten. Seine wichtigsten Filme waren in den 70er-Jahren entstanden, Autorenfilme, danach hatte er mit Video experimentiert, nennenswerte Publikumserfolge blieben aus, obwohl er immer wieder Filme realisierte und so blieb er irgendwo in einer künstlerischen, wenig beachteten Nische hängen, in die es mich nun durch Zufall auch hineingespült hatte.
Er bestand darauf, dass unser Kreativteam, also die Regieassistenz, Eddi, er und ich gemeinsam eine Auswahl von meinen Filmen anschauten. Ich hatte eine kurzweilige Zusammenstellung auf eine Videokassette kopiert und steckte sie nach einem unserer organisatorischen Treffen in den Rekorder, der im Büro in der Kaffeeecke stand. Die Zeichentrickfilme schienen den großen Regisseur wohl eher zu langweilen, mein zerkratztes Werk mit Mariannes Stimme erinnerte ihn an sein eigenes Frühwerk, aber besonders interessant fand er die digitalen Manipulationen von Gesichtern, die eigentlich von Martin stammten. In diese Richtung geht es, sagte der große Regisseur, das kommt auf uns zu und wird in seiner ganzen Tragweite noch lange nicht zu erfassen sein. Was er damit sagen wollte, verstand ich nicht, er vielleicht auch nicht, denn umgehend schweifte er ab, redete über seine eigenen Fehlversuche mit unbefriedigender Videotechnik oder mangelndem Interesse seitens des Publikums, beziehungsweise der Filmkritik, die ja alle paar Jahre ihre Lieblinge lanciere, aber ihn nie als solchen auserkoren habe. Die kreative Innovation müsse man mit pathetischer Wichtigtuerei verbinden, sagte er, damit die Kunstkritik eine ordentliche Erektion bekomme. Das sei leider nicht seine Art und leider seien auch schon ein paar andere Filmemacher auf den Zug gesprungen, wir wären nicht die einzigen, die mit dieser kleinen Digitalkamera großes Kino machen wollten würden, und einige von den anderen hätten eine ganz große Klappe, denen sei zuzutrauen, dass sie die Aufmerksamkeit der Kritiker ganz für sich in Beschlag nehmen würden, sagte er und wirkte niedergeschlagen. Um sich aufzumuntern, wechselte er die Videokassette und zeigte uns eine seiner eigenen Dokumentationen. Die Begutachtung und Diskussion meiner Filme war damit beendet, es ging nur noch um sein Werk.
Zwei Wochen später starteten wir mit den Dreharbeiten und es zeigte sich schnell, dass es auch mit der kleinen Kamera eine anstrengende Angelegenheit war, die Ansprüche des großen Regisseurs zu befriedigen. Den fuchteligen Stil hatte er zwar als erstrebens- und nachahmenswert erkannt, aber von der Unbekümmertheit des Videonachwuchses war bei ihm nichts zu bemerken. Wenn es um die Schärfe ging, verstand er gar keinen Spaß. Uns verdarb er ihn dadurch. Der Autofokus schaffte leider nicht immer, was er schaffen sollte, aber manuell konnte man auch nicht nachhelfen, denn es gab kein vernünftig zu bedienendes Schärfenrad. Junge Nachwuchsnichtskönner oder radikale Technikverweigerer hätten sich nicht drum gekümmert, die hätten das Schicksal der Schärfe in die Hand der Kamera gelegt. Wenn es aber als wichtig galt, die Fokussierung immer auf den Gesichtern liegen zu haben, dann wäre die dicke Fernsehreportagekamera, die wir bei der Seifenoper benutzt hatten, viel besser gewesen. Ich war also in eine Nische geraten, in der ein Besessener unbedingt Unvereinbares vereinen wollte. Zum Glück erwies sich Eddi als sehr geduldiger Mensch, der dem Regisseur voller Eifer dabei half, jegliche Widrigkeiten bei der Bedienung der Kamera zu überwinden. Das kostete immer wieder eine Menge Zeit. Als Tonmann durfte ich mich für diese Probleme interessieren und bei der Lösung helfen. Aber wenn ich es nicht tat, störte es niemanden. Manchmal machte ich es wie die anderen Tonmänner: Suchte mir ein bequemes Plätzchen und wartete, bis es losging. Las dabei Zeitung oder unterhielt mich mit Achim, der tatsächlich als Klappenschläger im Team war und auf mein Geheiß hin versuchte, seine guten Ideen für sich zu behalten. Klappe schlagen, nicht aufreißen! hatte ich gesagt. Die angekündigte gemeinsame Kreativität fand nur zwischen Regie, Kamera und den Schauspielern statt, wobei der Regisseur, der ja auch der Kameramann war, in der Regel nach einer ausgiebigen Diskussion seine ursprüngliche Idee aus irgendeinem scheinbar objektiven Grund beibehielt.
Den ersten Drehtag verbrachten wir mit einer läppischen Szene, in der die Hauptdarstellerin aus dem elfgeschossigen Plattenbau rauskommt und der Hauptdarsteller hineingeht. Das war die Metapher für die ganze Handlung des Films, meinte der große Regisseur, denn es ging ja um eine Nach-Wende-Liebesgeschichte, die Frau aus dem Osten ist Künstlerin und wohnt im obersten Stockwerk, der Mann ist Wessi und soll zunächst wegen des kaputten Fahrstuhls im Keller landen. Der Plattenbau diente als Sinnbild für die DDR, klar, der Keller für die Stasi, der elfte Stock für die Ost-Boheme, die Balkone für das Westfernsehen und den Rest des Hauses bewohnten einfältige Ossis, die noch an die blühenden Landschaften glaubten. Der Eingang des Hauses war auf drei Seiten verglast, da führte zu den üblichen Kameramann-Problemen, Spiegelungen, Schattenwurf, zu starke Kontrast. Dass wir es den ganzen Tag nur für die Anfangsszene brauchen würden, hatte ich nicht erwartet. Morgens bei bewölktem Himmel war der Helligkeitsunterschied zwischen drinnen und draußen nicht so stark, aber der große Regisseur verbrachte diese Zeit mit Proben und konzeptionellen Gedanken. Dann kam die Sonne raus, das gab harte Schatten, so dass nicht mehr von außen nach innen, sondern von innen nach außen gedreht werden sollte. Ursprünglich dachte sich der große Regisseur, der Wessi bleibt vor den Klingelschildern stehen, schaut sich die vielen Klingeln an, klingelt, aber bevor jemand reagiert, kommt die äußerst attraktive Ost-Künstlerin von innen und öffnet. Wenn sie aber erst einmal das Haus verlassen hat, wäre es nicht plausibel, dass der Wessi ihr gleich hinterherruft. Er sollte schüchtern wirken, und da fand der Schauspieler keine überzeugende Lösung, wie er die davongehende Frau aufhalten könnte. Dachte sich also der Regisseur, dass die Haustür doch durch die Gegensprechanlage geöffnet werden sollte, und deshalb musste jemand in der leeren Wohnung im dritten Stock positioniert werden, der auf die Klingel reagiert und mit entsprechender Verzögerung den Türöffner betätigt.
Dafür wurde Achim hochgeschickt, der aber nicht zugehört hatte, da Zuhören sowieso nicht seine Stärke war. Als der Schauspieler klingelte, reagierte er innerhalb einer Sekunde. Das war natürlich zu schnell, da die Haustür erst aufgehen sollte, nachdem der Regisseur in aller Ruhe vom Finger auf dem Klingelknopf über die vielen anderen Knöpfe hinweg zum Gesicht des Schauspielers geschwenkt hatte. Anschließend musste der Regisseur mit seiner Kamera und dem Kameraassistenten hinter dem Schauspieler durch die Tür schlüpfen und innen sollte dann die Schauspielerin an den Briefkästen stehen. Nach Möglichkeit so, dass der Schauspieler sie von hinten sieht, aber für die Kamera durfte ihr Hintern auf keinen Fall einen voyeuristischen Anblick bieten.
Das war eine anspruchsvolle Aufgabe für den Hüftschwung der Schauspielerin und der Kameraschwenk wurde auch noch durch Schärfenprobleme erschwert, da der Fokus ohne Verzögerung vom dicht vor der Kamera agierenden Schauspieler zur weiter entfernten Schauspielerin springen sollte. Es brauchte schon mal fünf Anläufe, bis Achim kapiert hatte, wann er den Türöffner zu bedienen hatte. Zusätzlich gab es alle denkbaren Störungen im unvorhersehbaren Wechsel, also zum Beispiel ein Hausbewohner, der plötzlich die Treppe runterkam, das Klappern des Lifts, mehrmals versagte der Autofokus an der kritischen Stelle, die Schauspielerin verklemmte einmal den Briefkastenschlüssel, dann positionierte sie ihren Hintern ungünstig, obwohl ich der Meinung war, dass das bei ihr überhaupt nicht störte. Dann hatte Achim einen Ausfall am Türöffner und so ungefähr beim 20. Take tauchte das Müllauto auf. Da unzählige Blechmülltonnen aller umliegenden elf- und siebengeschossigen Häuser mit infernalischem Lärm geleert wurden, mussten wir erst einmal eine Pause einlegen.
Inzwischen war die Sonne gewandert und noch heller geworden, so dass unsere kleinen Glühleuchten nicht mehr mithalten konnten. Wir versuchten, mit einem schwarzen Tuch den Eingangsbereich zu verschatten, aber obwohl das Tuch drei mal vier Meter groß war, reichte das bei weitem nicht aus. Für sowas braucht man die großen Stative, meinte Eddi, und die 4 kW. Achim eilte eifrig zum Auto, um die Sachen zu holen. Das fand der große Regisseur unglaublich komisch, da Achim sich die Blöße gegeben hatte den Witz nicht zu verstehen und keine Ahnung hatte, wie eine 4 kW aussieht. Das ist eine extrem teure, riesengroße Lampe, die gar nicht in unser Auto, einen Mittelklassekombi, gepasst hätte. Kameraassistent Eddi lachte ebenfalls und während er sich mit dem Regisseur feixend diesem Heiterkeitsanfall hingab, durchsuchte Achim vergeblich den Kofferraum. Dann meinte Eddi, das würde doch alles nix bringen, wir müssten die Szene komplett umkrempeln und im Gegenlicht als ein Spiel der Silhouetten inszenieren. Die Idee fand der Regisseur gut, das wollte er sofort ausprobieren, dann hätten wir wenigstens etwas zu tun, während sich der Müllwagen langsam entfernte. Jetzt ergaben sich wieder völlig neue Probleme, weil wir gegen die Glasscheiben des Eingangsbereichs drehten und deshalb mit Spiegelungen zu kämpfen hatten. Außerdem passte dem Regisseur nicht, dass die Rockkante der Schauspielerin in der gleichen Höhe lag wie eine Querstrebe der Verglasung. Da musste die Maskenbildnerin, die auch die Kostüme zu betreuen hatte, den Rock kürzen, oder vielmehr sollte sie uns vorführen, wie das aussehen würde. Doch nun wirkte, wie der Regisseur feststellte, die gutaussehende Künstlerin plötzlich wie ein Flittchen, oder vielmehr wie ein Ost-Flittchen, und dann könnten wir auch gleich ihren Hintern von hinten zeigen, aber das sei indiskutabel, also bekam der Rock wieder seine volle Länge und die tolle Silhouetten-Idee, die ohnehin das schwerwiegende Manko hatte, nicht vom Regisseur selbst zu stammen, wurde kurzerhand wieder verworfen. Da nun wieder Wolken aufzogen, löste sich das Lichtproblem von alleine, aber der große Regisseur fand immer wieder neue Inszenierungsfinessen, die mit Schwierigkeiten verbunden waren, die es zu lösen galt. Inzwischen hatten alle Beteiligten kapiert, dass sein Zeitempfinden sehr flexibel war und wir sowieso den ganzen Tag im Treppenhaus verbringen würden. Denn als es endlich geklappt hatte, dass der eintretende Herr einen schwermütigen Blick auf die hübsche Künstlerin an den Briefkästen warf und sich daraus ein Gespräch entwickelte, in dessen Verlauf er sich als arbeitsloser Wessi bezeichnete, mussten sich der Regisseur und Eddi gemeinsam die zwei gelungenen Takes mehrmals in einem kleinen transportablen Monitor anschauen, um sich sicher zu sein, dass alles stimmte, vor allem die Schärfe. Inzwischen war es schon fast Mittag und wir hatten tatsächlich nur eine einzige Einstellung gedreht, allerdings 32 Mal.
Achim raunte mir zu, dass er schrecklichen Hunger habe, aber die Mittagspause sollte erst stattfinden, wenn die Naheinstellungen der Schauspieler im Kasten seien. Das dauerte nur etwas mehr eine Stunde und ich hörte sogar einmal das Knurren von Achims Magen im Kopfhörer. Als der Regisseur endlich verkündete, es genüge ihm, schlug Achim eine Klappe mit der Ansage „Mittagspause, die erste und langersehnte“. Ich fand das lustig, die anderen nicht, und der Regisseur, der sich vorher ungehemmt über Achim und die 4 kW im Handschuhfach lustig gemacht hatte, schaute jetzt so humorlos, als wolle er sich für die Rolle des Stasispitzels qualifizieren.
Ich schob die Tonangel zusammen, klopfte Achim auf die Schulter und ging mit ihm nach draußen, wo der Fahrer und Kaffeekocher, der als Produktionsassistent bezeichnet wurde, ein paar belegte Brötchen bereit gelegt hatte. Der Film wird eine Geduldsprobe, meinte ich zu Achim, während er ein Brötchen verschlang und gleichzeitig das nächste griff. Bei der Seifenoper hatte es viel mehr und besser zu Essen gegeben. Ich zählte in Gedanken unser Team durch, warf einen Blick auf das bescheidene Buffet und gab Achim den Hinweis, dass wir uns nicht hemmungslos satt essen sollten, sonst bliebe für den zu Letzt kommenden großen Regisseur nichts mehr übrig. Das sei auf jeden Fall zu vermeiden. Denn der große Regisseur käme als letzter, weil er am meisten zu tun habe. Erst müsse er mit Eddi irgendwelche technischen Details prüfen, dann den Schauspielern Lob oder Anregungen zukommen lassen und außerdem dürfe er auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als brauche er eine Pause. Die Pause sei nur für die Lohnsklaven.
Welcher Lohn? fragte Achim ironisch, denn er sollte ja nur ein Praktikantentaschengeld bekommen, was ihn aber, wie er behauptete, nicht störe. Aber wenn er bloß zwei Brötchenhälften am Tag abkriege, würde ihm irgendwann die Klappe wegen Entkräftung aus der Hand fallen. Ich riet ihm, mehr zu frühstücken, was er aber angeblich nicht vertrage. Schließlich endete die Mittagspause damit, dass Achim unbedingt zum Bäcker oder Imbiss gehen wollte. Während er weg war, stellte der Produktionsassistent plötzlich noch mal eine Platte mit Brötchen hin. Dann ging es recht schnell wieder ins Haus hinein. Als die Klappe geschlagen werden sollte, war Achim noch nicht wieder zurück. Die Maskenbildnerin sprang für ihn ein, aber es gab natürlich eine kritische Bemerkung vom Regisseur über den verschwundenen Klappenschlägerpraktikanten, der dann zu allem Überfluss auch noch genau in dem Moment durch die Haustür kam, als die Kamera dorthin schwenkte. Es wäre ein wunderschöner Outtake gewesen, aber Outtakes wurden bei dem Projekt nicht gesammelt. Denn der große Regisseur nahm alles, was inhaltlich mit seinem Film zu tun hatte, sehr ernst. Meiner Meinung nach zu ernst.
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Das Gute an unserem digitalen Filmprojekt war die Terminplanung. Wir drehten zunächst nie länger als drei Tage hintereinander. Dann mussten erst wieder Vorbereitungen für die nächsten Aufnahmen getroffen werden. Drehorte besichtigen, Drehgenehmigungen beantragen, Requisiten besorgen, Technikprobleme lösen oder Besprechungen zwischen dem Regisseur und den Hauptdarstellern. Beim großen Film machte man das anders, da wurde vorher alles durchorganisiert und dann von unglaublich vielen Leuten möglichst straff durchgezogen. Aber der große Regisseur verzichtete auf die vielen Leute und wollte vieles selbst machen, weil er Spaß dran hatte. Wenn er sich nicht gerade in seinem manchmal beängstigenden Perfektionismus verlor, gefiel mir das.
Nach zwei Tagen im Treppenhaus, im Lift und im Flur musste die Wohnung eingerichtet werden. Ich sollte ursprünglich nur vormittags dabei sein, um das Mobiliar und die Requisiten hochzutragen, aber ich half auch beim Einräumen, wurde dann zu einem Trödler geschickt, um ein paar Kleinigkeiten zu besorgen. Als ich zurückkehrte, entwickelte der Regisseur mit den Schauspielern die Inszenierung und es herrschte eine wunderbare, entspannte Stimmung, stressfrei aber kreativ. Manchmal schnitt Eddi eine Probe mit. Da konnten wir sehen, wie die Requisite wirkte und wo noch Sachen fehlten. Es sind ja nicht nur die Schauspieler, die die Geschichte erzählen, sondern auch die Orte, die Dinge und Kleidung. Ich fand das sehr lehrreich für mich, viel interessanter als das eigentlich Drehen.
Die Wohnbaugenossenschaft hatte uns die Wohnung für einen Monat zur Verfügung gestellt, kostenlos. Beim Einrichten und bei der Probe kam mir das großzügig vor, aber als die Aufnahmen losgingen merkte ich, dass zwei Wohnungen nötig gewesen wären. Denn wir drehten in allen Zimmern, aber es wurde immer eines für das Team und die Technik gebraucht, damit dort die Maskenbildnerin ihre Sachen aufbauen konnte und wir unsere Technikkoffer mit den unzähligen Ladegeräten. Ganz zu schweigen von den Kaffeetassen. Natürlich war es Achim, der immer wieder seine Kaffeetasse dort stehen ließ, wo sie auf keinen Fall stehen durfte: im Set, also dem Bereich, der im Bild zu sehen war. Manchmal, aber nicht immer, gelang es mir unauffällig seine Tasse zu entfernen. Der Regisseur konnte beim Anblick von unerwünschten Gegenständen ziemlich grantig werden, was Achim gar nicht zu stören schien, während es mir die Stimmung versaute. Ich hatte Achim mitgebracht, deshalb erwartete ich, er würde sich professionell verhalten, vergeblich. Er war nur an den Drehtagen, nicht an den Vorbereitungstagen mit dabei, und das sollte auch so sein, weil er nebenbei Geld verdienen musste. Vom ABM-Projekt wurde er für das Praktikum beim Film beurlaubt, obwohl es ja nicht so richtig in sein Qualifikationsspektrum passe, wie der Sachbearbeiter beim Arbeitsamt sich angeblich ausgedrückt habe. Alles, was der Sachbearbeiter verlautbaren ließ, war laut Achim realitätsfremd und unangemessen, die Handlungsempfehlungen nutzlos, wenn nicht gar schikanös. Achim erzählte mir das, als wir am Abend vom Dreh im Elfgeschosser zurück ins Produktionsbüro fuhren. Dann machte er mit dem anderen Dauerthema weiter, seinem bösen Vermieter, der angeblich aus der Besetzerszene stammte und inzwischen selbst auf unglaubliche Weise zum Nutznießer der schiefliegenden Eigentumsverhältnisse geworden sei. Dabei gehe es um die Frage, ob Achim einen Untermieter einquartieren dürfe, der das Schlafzimmer als Arbeitsraum miete, aber weil Achim die Miete vom Arbeitsamt in voller Höhe erstattet haben wolle, brauche er die Miete schwarz, während der potentielle Mieter eine Quittung verlange, nach Möglichkeit mit ausgewiesener Mehrwertsteuer. Das sollte der Vermieter irgendwie arrangieren, obwohl laut Mietvertrag sowieso keine Untermieter erlaubt waren. Achim ließ sich nicht davon abbringen, dass es die pure Boshaftigkeit des Vermieters war, die ihm den erhofften Nebenverdient nicht gönnte, sondern sich querstellte. Dem kann das doch egal sein, ob bei mir jemand im Schlafzimmer sitzt und Texte schreibt, sagte Achim, während er aus dem Auto stieg und haute dann wie zur Bekräftigung die Beifahrertür zu. Jetzt kapierte ich, um was, oder vielmehr, um wen es ging. Marianne würde nach Berlin kommen, wieder mit einem Stipendium und einen Teil dieses Geldes, das nur für Sachmittel, Mieten oder Reisekosten ausgegeben werden durfte, wollte Achim durch die Geldwaschanlage schicken. So selbstlos und anspruchslos, wie er manchmal war, machte er das bestimmt nur für Marianne, da war ihm jedes Mittel recht. Achim redete auf mich ein, als sei ich der Mann von der Stipendiumvergabestelle: Das sei völlig unnütz und an der gutgemeinten Zielsetzung vorbei, wenn Marianne das Geld, dass sie dringend zum Leben brauche, für nutzlose Reisen ausgebe. Warum hat sie sich für ein Stipendium beworben, das aus Reisekosten besteht? Blöde Frage, meinte Achim, er habe einfach ALLE Stipendien beantragt, das sei doch klar. Wir waren inzwischen angekommen und ich fummelte mit dem Schlüssel herum, um das Büro aufzuschließen. Ach so, Achim hatte die Anträge geschrieben. Das habe er mir doch schon mal erzählt, dass er das tue und es sei sehr ökonomisch, wenn man für andere Leute Anträge schreibe, eine bewährte Methode. Diese Methode solle ich auch mal probieren. Ob denn Marianne für ihn schreiben würde, fragte ich, aber Achim verneinte. Marianne schreibe aber am Theaterstück, sie schreibe ja sowieso fast immer. Ihr eigenes großes literarisches Werk. Die Bürotür hatte ich endlich offen und nahm den Lichtkoffer wieder in die Hand, trug ihn in die Fabriketage. Wir brauchten das doch gar nicht mehr, diese Kultursubventionen, meinte Achim, ich sei schon voll drin im Business und er schlage sich irgendwie durch. Aber ich hielte doch nur die doofe Tonangel, und er schlage die Klappe, beides undankbare Aufgaben. Von wegen, das sei wichtig und beachtlich, hältst du einmal die Tonangel, werde es woanders bestimmt auch klappen, und dann angelst du und angelst, bis du durch den Sucher gucken darfst, so wie Eddi.
Eddi kam gerade zur Tür rein, er hatte die Kameratasche umhängen und schob ein paar weitere Transportkisten auf der Sackkarre vor sich her, unter anderem unseren Koffer mit den vielen Ladegeräten für die Akkus. Die mussten alle ans Netz. Darum kümmerte ich mich, während Eddi die Kassetten mit dem Rohmaterial überprüfte und zu den anderen Kassetten legte. Erst danach reagierte er auf Achims Bemerkung und fragte, was er gemeint habe. Achim war aber gedanklich schon weiter, er hatte nämlich festgestellt, dass die Kreide alle war, seine Klappenkreide. Da wäre doch eine ganze Packung dagewesen, sagte Eddi. Ja, das sei wohl richtig, aber weil die Kreide oft breche, sei dieser Vorrat ganz schön schnell zusammengeschrumpft. Was sollte er nun tun um zehn Uhr abends? Am nächsten Morgen würden wir um acht in den Volkspark Friedrichshain fahren, um dort zu drehen. Wo soll ich die Kreide hernehmen, jetzt haben wir den Salat, sagte Achim und ich merkte seine klammheimliche Freude. Eddi blieb wie immer total ernst. Achim hätte mal vorher sagen sollen, dass die Kreide zu Ende gehe, es käme in so einem kleinen Team drauf an, dass sich jeder verantwortungsvoll um seine Aufgaben kümmere. Eine längere Nachtruhe wäre aber auch nicht schlecht, um die Misere zu vermeiden, erwiderte Achim, der inzwischen wusste, dass er eigentlich Anspruch auf elf Stunden Nachtruhe zwischen Arbeitsende und dem nächsten Arbeitsbeginn habe. Darüber setzte sich der Regisseur häufig hinweg, weil er meinte, wir arbeiteten nicht in der Behörde, sondern hätten einen Kulturauftrag, der an den Stand der Sonne gekoppelt sei.
Da müssen doch noch ein paar Stummel irgendwo rumliegen, bemerkte Eddi etwas genervt, woraufhin Achim plötzlich in Ironie verfiel und uns mit tiefsinnigen Weisheiten über Stummel zu unterhalten versuchte. Er habe schon immer Stummel gehasst, denn es gebe kein schlimmeres Sinnbild für einen selbstquälerischen Menschen. Jemand, der sich die Finger verbiege, um so einen Stummel bis zum letzten Atemzug aufzubrauchen, sei es nun Kreide, ein Bleistift oder auch eine Zigarette, dieses Stummelgeschummel, -gekritzel und -gespeichel empfinde er als beklemmend und es sei für ihn alles andere als eine gute Voraussetzung, um schöpferisch tätig zu werden. Und das habe der große Regisseur ja wortwörtlich zum Team gesagt, damals, am Abend vor dem ersten Drehtag, dass man sich freikämpfen müsse, um an den Punkt zu kommen, der einem Kreativität ermögliche. Deshalb habe er, Achim, jeden Stummel sofort weggeworfen, und es seien sehr viele gewesen, wegen der schlechten Qualität der Kreide. Das habe seinen Grund, denn man habe anstatt der banalen Tafelkreide die feine Künstlerkreide gekauft, und die sei teurer, aber schlechter.
Eddi, der Achim bisher immer nur als leicht desorientierten Klappenschläger erlebt hatte, war sichtlich verwirrt über diese weitreichenden Ausführungen oder vielmehr Ausreden und wusste gar nicht, was er sagen sollte, während ich in mich hineinschmunzelte. Ohne Kreide geht’s aber nicht, stellte er schließlich fest, dann packte er seine Umhängetasche, und bevor er verschwand, stellte er mir noch die verantwortungsbewusste Frage, ob ich den Schlüssel hätte und zuschließen würde, was ich ihm mit ernster Miene zusicherte. Ich will nicht so werden wie Eddi, sagte Achim, nachdem der verschwunden war.
Das wirst du auch nicht, antwortete ich ihm und am nächsten Morgen zeigte sich auch sogleich der eklatante Unterschied zwischen den beiden. Eddi war superpünktlich und Achim kam zu spät. Zum beladen der Autos waren wir um halb acht verabredet. Das konnten wir unauffällig ohne Achim machen. Der Requisiteur, die Aufnahmeleiterin und die Maskenbildnerin fuhren meist bei Eddi mit, die Regieassistenz und die zwei Hauptdarsteller mit dem Regisseur. Schließlich waren alle bereit, nur Achim fehlte. Ich sollte auf ihn warten, während die anderen vorausfuhren. Damals waren Handys noch Mangelware. Der Regisseur hatte ein riesiges Autotelefon in seinem alten Benz, Eddi war ansonsten der einzige im Team, der schon ein Handy benutzte. Bei Achim war damit noch lange nicht zu rechnen. Also hatte ich keine Chance, herauszufinden, ob er gerade zur Haustür herauskam, oder schon in der U-Bahn saß. Ihm hätte ich auch zugetraut, dass er noch im Bett lag, aber seine Festnetznummer hatten wir bereits nach fünf Minuten Wartezeit vom Büro aus vergeblich angewählt.
So saß ich unruhig im Auto, doch bevor ich richtig nervös werden konnte, bog Achim schnellen Schrittes um die Ecke. Es sei die dumme Kreide gewesen, sagte er, wegen der Kreide und seinem Pflichtbewusstsein wäre er zu spät. Frühmorgens habe er sich in die Schule neben der U-Bahnstation geschlichen, um Tafelkreide zu klauen, was auch gelungen sei, doch beim Rausgehen habe ihn ein Lehrer angesprochen, was er auf dem Gelände zu suchen habe, und anstatt schnell irgendetwas zusammenzulügen, habe Achim herumgestottert, und es sei ein zweiter Lehrer aufgetaucht, der auch noch seinen Erziehungswillen an Achim habe abarbeiten wollen, so dass es zu einer lästigen Verzögerung gekommen sei. Letztendlich trafen wir alle gleichzeitig am Volkspark Friedrichshain ein. Es sollte gedreht werden, wie der Wessi dort spazieren geht und die Künstlerin aus dem elften Stock trifft. Es ergibt sich ein kurzer Dialog, dann trennen sie sich. Durch Zufall, oder zumindest sollte es nach Zufall aussehen, kreuzten sich ihre Weg anschließend noch einige Male. Dummerweise auch mit denen des Klappenschlägers Achim. Dass die Klappe geschlagen wird, damit man möglichst einfach die Synchronität zwischen der Tonaufnahme und dem Bildmaterial herstellen kann, hatte Achim, als ich es ihm erklären wollte, angeblich schon gewusst. Dass er die Klappe dort schlagen muss, wo man sie gut im Bild erkennen kann, versteht sich eigentlich von selbst. Dass er mitsamt seiner Klappe dieses Bild anschließend möglichst schnell verlassen sollte, ist ebenfalls so banal, dass kein Mensch auf die Idee käme, das erklären zu müssen. Dabei können ein bisschen elementare Geometrie und gesunder Menschenverstand helfen, den kürzesten Weg zu finden. Um es genau zu sagen: Man geht entlang der Lotrechten vom Standort auf den näher gelegenen Schenkel des durch die Kamera vorgegebenen Bildwinkels zu. Diese Erklärung versteht natürlich keiner, zumal bei den inzwischen vorherrschenden Zoom-Objektiven nicht so leicht erkennbar ist, wo die Schenkel des Bildwinkels liegen. Ich hatte es Achim oft gesagt, er solle auf die Kamera zugehen und seitlich aus dem Bild heraustreten, aber er versuchte immer, mit seiner Klappe nach hinten zu verschwinden, vielleicht aus seiner latenten Abneigung gegenüber dem großen Regisseur heraus, der ja auch die Kamera führte. Weil sich das Bild nach hinten aufweitet oder der Kameramann schwenken könnte, ist der Weg nach hinten weiter und das Risiko, ins Bild zu geraten, größer.
An dem Tag, als wir im Volkspark Friedrichshain drehten, machte er es wieder falsch, obwohl er durch seine Unpünktlichkeit sowieso schon aufgefallen war. Es gab eine, wie der große Regisseur betonte, für die dramatische Entwicklung des Films bedeutsame Einstellung, in der die beiden Schauspieler sich unterhalten und dabei auf die Kamera zukommen. Wie üblich war nicht genau festgelegt, wie der Dialog sich entwickelt, sie sollten improvisieren. Es hatte schon gleich vormittags einen Streit zwischen der Schauspielerin und dem Regisseur gegeben, weil dieser sie als typisch widerspenstige Ostlerin bezeichnet hatte, dann, einige Takes später, war plötzlich der Schauspieler beleidigt, wobei ich gar nicht mitbekam, woran es lag, aber diese Streitereien wegen Nichtigkeiten häuften sich. Die Stimmung an jenem Tag im Park war schon sehr gedrückt, die Zeit unproduktiv vergangen und dann näherte sich auch noch eine große Wolke. Deshalb waren alle scharf drauf, dass die Einstellung endlich klappt. Zwölf Takes hatten wir schon, beim dreizehnten ergab sich ein wirklich sehr schönes Wechselspiel zwischen den Schauspielern und der Kamera, aber weil der Schauspieler einen Schritt weiter nach vorne kam als im vorhergehenden Versuch, schwenkte der große Regisseur ebenfalls etwas weiter und da stand plötzlich Achim mit seiner Klappe neben einer Blumenrabatte im Bild. Achim wollte zurückweichen, dabei stolperte er über die Einfriedung und lag dann zwischen den Blumen. Das war großartiger Slapstick, über den leider niemand lachen konnte. Beim nächsten Take schob sich die Wolke während des Dialogs vor die Sonne und wir mussten fast eine halbe Stunde warten. Später, beim Sichten des Materials, entdeckte Eddi, dass Achim bereits in einer anderen Szene hinter einem Busch erkennbar war.
Da lief das Fass über, der große Regisseur hatte die Schnauze voll. So einen Trottel könne man sich nicht leisten, auch wenn er nichts koste, diese Blödheit, das ginge zu weit, sagte er später bei einer Besprechung in Abwesenheit Achims. Nach den Aufnahmen im Park gab es freie Tage. Bevor die Arbeit weiterging, rief die Produzentin Achim an und teilte ihm mit, dass er beim nächsten Drehtag nicht gebraucht werde. Damit war Achims Klappenschlägerkarriere zu Ende. Eigentlich erleichterte mich sein Rausschmiss, weil Achim mit seiner Unberechenbarkeit ein permanentes Risiko darstellte, für das ich mich verantwortlich gefühlt hatte. Andererseits fand ich es ohne ihn zunächst ziemlich langweilig und das kumpelhafte Getue des Regisseurs erschien mir ab dem Moment nur als Masche und Anbiederung. Etwas mehr Verständnis für einen Mangel an Erfahrung beim ungelernten Personal hätte ich von ihm erwartet. Auch die Regieassistentin hatte inzwischen die Lust daran verloren, den Regisseur jeden Morgen zu küssen und dann mit ihm und den Schauspielern auf der Fahrt zum Drehort herumzustreiten. Deshalb kam sie unter irgendwelchen Vorwänden immer öfter zu mir ins Auto, wo wir ungestört lästern konnten. Küsschen vom Regisseur bekam sie trotzdem, entweder vor der Abfahrt oder bei der Ankunft. Von Anfang an gab es zur Begrüßung immer gleich Umarmungen. Der Regisseur wollte das Team als eine Familie sehen, oder zumindest als Freundeskreis, aber das waren wir nicht. Vielleicht hätten wir es werden können, wenn man es nicht permanent stillschweigend gefordert hätte. Uns quälte die Zwanghaftigkeit des Regisseurs und seine Rücksichtslosigkeit, mit der er es als selbstverständlich voraussetzte, dass wir Tag und Nacht für den Film da sein sollten, egal wie viel Stunden wir schon hinter uns hatten. Der Anteil der freien Tage wurde immer geringer, die Arbeitszeit pro Tag immer länger. Beachtlich, wie viel Ausdauer und Geduld der große Regisseur hatte. Vielleicht war das seine herausragende Charaktereigenschaft, mit der er sich im harten Wettbewerb der kreativen Geister hatte profilieren können. Vielleicht war ich selbst zu lasch und nicht belastbar genug, denn ich ertappte mich immer öfter bei dem Gedanken, dass ich das einfach nur durchstehen wollte, egal wie. Aber das Projekt zog sich hin wie ein gigantischer, ausgelutschter Kaugummi.
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Als sich die Dreharbeiten immer mehr aus der Berliner Innenstadt heraus zum Stadtrand und ins Brandenburgische hinein verschoben, wurden die Fahrzeiten länger, also auch die Arbeitstage. Nun drehten wir manchmal fünf Tage pro Woche, oft bis in den Abend hinein, dann Rückfahrt zum Produktionsbüro, Ausladen um Mitternacht und früh wieder raus. Meine eigenen Projekte legte ich erst einmal auf Eis, verbrachte Zeit damit, meinen Umzug abzuwickeln und wollte es mir in der knappen Freizeit gut gehen lassen, was aber in vielerlei Hinsicht nicht richtig klappte, weil Tina inzwischen zwanzigtausend Kilometer entfernt war. Ich versuchte, mich mit anderen Genüssen bei Laune zu halten, vor allem mit Whiskey, was die Wochenenden schnell vergehen ließ. Ab und zu betrank ich mich mit der Regieassistenz, vor allem dann, wenn wir nach der anstrengenden Arbeit dringend Entspannung zu brauchen glaubten. Als schmerzlich empfand ich den Gedanken an Tina nur, wenn wieder eines der Blätter vom Gummibaum gefallen war. Dann überfiel mich eine plötzliche Melancholie, die allerdings nicht lange anhielt.
Von Tinas Wohnung aus war es ein schöner Spaziergang zu Achim. Ich besuchte ihn an einem der freien Tage, um mich nach seiner Lage zu erkundigen. Da musste ich feststellen, dass er schon wieder ganz in seine ABM-Maßnahmen-Hysterie verfallen war. Vom großen Regisseur wollte er nichts hören, wie der Film voranging, interessierte ihn nicht. Nach seinem unrühmlichen Abgang verstand ich das. Trotzdem hatte ich mir erhofft, dass er einen mitfühlenden Zuhörer abgeben würde, da er die verquere Gruppendynamik kannte und vielleicht Freude daran hatte, wenn ich über die Zwanghaftigkeit des großen Regisseurs und den eifrigen Eddi lästerte. Dem war nicht so, aber für einen Sonntagnachmittagskaffeeplausch reichte es auch so.
Als ich ungefähr zwei Wochen später überraschend frei hatte, besuchte ich ihn nochmals, da mir nichts besseres einfiel. Diesmal saß unerwartet Marianne bei ihm im Schlafzimmer und tippte auf einen kleinen, aber ungemein klobigen Laptop ein. Es sei sehr passend, dass ich gerade hereinschneie, sagte sie, der richtige Zeitpunkt, um einen gemeinsamen Kaffee zu trinken. Während sie mir erklärte, dass Achim es tatsächlich geschafft habe, das für ihre Unterbringung gedachte Stipendiengeld in Bargeld zu verwandeln und sie nun dabei sei, Achims Schilderungen der ABM-Maßnahmen in ein Theaterstück zu verwandeln, quälte ich mich in Gedanken mit der Frage, warum die beiden so eine Geheimnistuerei um ihr Projekt machten. Marianne hätte sich längst bei mir melden können. In seiner Geschwätzigkeit hatte Achim immer wieder unbeabsichtigte Andeutungen fallen lassen, aber nie etwas verraten. Stattdessen war er meinen Fragen ungeschickt ausgewichen.
Achim schlafe zurzeit auswärts in einer WG, sagte mir Marianne, bei Kollegen aus seiner ABM-Maßnahme. Aber es seien tägliche Besprechungen zwischen ihr und ihm vorgesehen, um am Text zu arbeiten, oder vielmehr arbeite sie am Text und Achim versorge sie mit Informationen und Hintergrundwissen. Sollte ich sie fragen, seit wann sie sich schon in der Stadt aufhielt, wann sie sich bei Achim einquartiert hätte? Dass sie mich nicht auf dem Laufenden hielt, enttäuschte mich. Aber ich ließ mir nichts anmerken, verkniff mir alle kritischen Bemerkungen. Achims Berufsleben, das ja nur ein vermeintliches sei, eine Simulation, hätten sie beeindruckt, aber weder im positiven noch im negativen Sinn, sondern in seiner Beispielhaftigkeit für die Entfremdung, die nicht nur symptomatisch für so eine ABM-Maßnahme sei, sondern für weite Bereiche des modernen Arbeitslebens. Kannte Marianne eigentlich irgendein modernes Arbeitsleben? fragte ich mich. Außer ihrem eigenen, das nur darin bestand, zu schreiben und somit ein untypisches war. Woher nahm sie also ihre Weisheiten über Entfremdung und Werteverlust? Sie behauptete, dass der Zwang zu einer nutzlosen und nur vorgetäuschten Arbeit, wie er ihr von Achim geschildert worden sei, einer Entwertung der Arbeitskraft gleichkomme, ein Prozess, der die Psyche der Betroffenen beeinträchtige. Dem wollte ich nicht widersprechen, so vieles beeinträchtigt die Psyche, sagte ich, auch meine Tätigkeit als Tonmann hätte sich inzwischen als sehr belastend herausgestellt. Das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, wollte nicht schon wieder mit meinem echten oder eingebildeten Leid anfangen, aber es kam einfach aus mir heraus. Der große Regisseur habe uns mit leeren Versprechungen eingefangen, uns versprochen, die digitale Aufnahmetechnologie ermögliche eine kollektive Kreativität, was aber gar nicht stimme, es sei immer nur der große Regisseur selbst, der alle Entscheidungen treffe. Insofern habe sich die Digitalität als Mogelpackung erwiesen.
Das sei ein falscher Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, widersprach Marianne. So wie sie Achims Schilderung der Dreharbeiten verstanden habe, sei es völlig egal, ob die Kamera digital oder analog arbeite, es gehe einfach darum, dass sie billig sei. Und dass nicht nur die Technik billig sei, sondern auch die Leute, die damit arbeiteten, speziell der Klappenschläger. Aber diese Verbilligung, egal ob technischer oder personeller Natur, sei mit einem Qualitätsverfall verbunden. Schon während dich das sagte, zweifelte ich an meiner eigenen Aussage, aber Marianne rückte es zurecht: Dass ich selbst doch genau immer diese Lücke gesucht habe, also Rahmenbedingungen, unter denen der persönliche künstlerische Ausdruck über die technologischen und kommerziellen Rahmenbedingungen triumphiere – und nun würde ich das glatte Gegenteil behaupten! Denn wenn ich eine Verbilligung der Technik kritisch sähe, dann sei das ein Bekenntnis zur aristokratischen Künstler-Zweiklassengesellschaft: die einen hätten Zugang zu den Produktionsmitteln, die anderen nicht.
Unsere Diskussion wurde unterbrochen, weil Achim nach Hause kam, oder sollte ich sagen: zu Besuch? Er brachte Kuchen und Gebäck mit und sollte eigentlich von seinen aktuellen Erlebnissen aus dem ABM-Alltag berichten. Durch meine Anwesenheit und die vorherige Diskussion ergab es sich aber, dass wir stattdessen erst einmal über meine Arbeit beim digitalen Spielfilm redeten. Diesmal tat Achim sehr interessiert und hatte einiges beizutragen, um Marianne den Eindruck zu vermitteln, dass er inmitten der strebsamen Zweit- und Drittliga-Filmkarrieristen, die sich dort versammelt hätten, fehl am Platz gewesen sei. Als meine Kaffeetasse leer war, ließ Marianne Bemerkungen fallen, die mich zum Aufbrechen motivieren sollten. Sie müsse dringend weiter am Text arbeiten und zwar gemeinsam mit Achim, der noch seinen täglichen Rapport abzuliefern habe. Ich nahm das zur Kenntnis und leitete die Verabschiedung ein. Mein Versuch, mit den beiden eine Verabredung für das folgende Wochenende zu vereinbaren, erwies sich als schwierig, weil ich selbst noch nicht wusste, ob und wann ich zu arbeiten hätte und die beiden ebenfalls in einigen ungeklärten Terminfindungsprozessen verwickelt waren. Bei der täglichen 16-Uhr-Kaffeepause störe ich nie, da könne ich an allen Wochentagen ohne Anmeldung vorbeikommen, meinte Marianne und diese pauschale Einladung hellte meine getrübte Laune auf.
Als ich das Haus verließ, schien die tiefstehende Abendsonne warm und angenehm. Am liebsten hätte ich mich gleich in ein Straßencafé gesetzt, um ein Bier zu trinken. Die Szenekneipe, die bei Achim um die Ecke lag, hatte allerdings noch nicht geöffnet, eine andere lag im Schatten. Also nahm ich erst einmal die U-Bahn und fuhr so, dass zwischen der Station, an der ich ausstieg und Tinas Wohnung ein schöner Biergarten lag. Allerdings sank die Sonne zu schnell. Genau in dem Moment, als mir das Bier auf dem Tisch gestellt wurde, verschwand sie hinter dem Schornstein der gegenüberliegenden Häuserzeile. Schon beim ersten Schluck fröstelte es mich. Ich hätte schon längst zu Hause sein können, sagte ich mir, obwohl ich keine Idee hatte, was ich an dem angefangenen Abend allein tun sollte. Außer müßigen Gedanken über Marianne nachzugehen und mich zu langweilen. Im Biergarten langweilte ich mich nicht nur, ich fror auch noch.
Aber dann, als mein Bier fast leer war, kam tatsächlich einer der Moderatoren der Poetry Slams vorbei, sah mich und freute sich offensichtlich. Er sprach mich gleich an, denn er wollte am nächsten Mittwoch in einer neuen Bar eine neue Performancereihe eröffnen. Ich sei genau der Richtige, den er jetzt noch brauche, zumal ein anderer Performer, den ich noch nie leiden konnte, unerwartet auf eine Festgage bestand, und die könne er, der Moderator, nicht garantieren. Er hoffe aber auf üppige Einnahmen, weil die Bar ganz gut im Geschäft sei. Er habe schon längst vorgehabt, mich wegen der Teilnahme am Slam zu fragen, allerdings bisher versäumt, es tatsächlich zu tun. Besonders gut würde es ihm gefallen, wenn ich tatsächlich Filmprojektion mit Poetry verbinden würde. Das mache ja keiner außer mir, und das sei wirklich cool.
Er brauchte mich gar nicht zu überzeugen, ich war sowieso scharf darauf, aufzutreten, es gab nur das Problem, dass wir an diesem Mittwoch einen Drehtag hatten und niemand wusste, was der große Regisseur da aufnehmen wollte und wie lange es dauern würde, bis er alle seine Vorstellungen in digitale Videobilder umgesetzt hätte. Die Performance sollte um zehn Uhr abends losgehen. Wenn ich erst nach der Pause auftreten würde, wäre es ausreichend, um elf einzutreffen, wobei vorher der Projektor aufgebaut werden müsste, aber von wem? Diese Aktion würde mir eventuell eine Menge Stress und Scherereien einbringen, aber ich konnte nicht nein sagen, weil es mir ein Bedürfnis war, mitzumachen. Ich verabschiedete mich vom Moderator, um nach Hause zu gehen, denn jetzt wusste ich, wie ich den Abend verbringen wollte. Ich würde den Text für Mittwoch überarbeiten und proben.
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Dienstag erlebten wir einen großartigen Sonnenuntergang irgendwo am Müggelsee. Rosa Schäfchenwolken vor einem sanften blauen Himmel und am Horizont rote Schlieren, zwischen denen immer wieder die Sonne hervorblitzte. Das passte ganz gut zur Handlung, denn die beiden Hauptrollen sollten sich gerade auf romantische Weise näherkommen. Aber dieser Sonnenuntergang sei zu viel, viel zu viel, sagte der große Regisseur, dieser Sonnenuntergang würde passen, wenn wir schon am Ende des Films angekommen wären. Das romantisches Zwischenhoch in der Mitte des Filmes müsse flach gehalten werden.
Bin ich denn richtig verliebt in ihn? fragte die Schauspielerin, aber der Regisseur gab ihr keine klare Antwort, sondern fragte zurück, was für sie ein geeigneter Anlass wäre, den Schalter umzulegen. Welchen Schalter? fragte sie verwirrt. Den Schalter zwischen Verliebtsein und Nichtverliebtsein, oder gäbe es so etwas bei ihr nicht? Die Schauspielerin wollte anscheinend der Diskussion aus dem Weg gehen und meinte recht patzig, dass sie sowohl das Verliebt-, als auch das Nichtverliebtsein spielen könne. Da kam der Regisseur wieder mit seiner Standardargumentation zum Thema gemeinschaftlicher Kreativität. Er wünsche sich, dass sie das nicht spiele, sondern empfinde. Sie sei aber leider Schauspielerin und nicht Schau-Empfinderin, warf sie dem Regisseur ziemlich grob und trotzig an den Kopf, woraufhin er ihr erklärte, dass er ihr durchaus sagen könne, was sie zu tun habe, aber das Überstülpen einer komplett durchkonstruierten Rolle wolle er nach Möglichkeit vermeiden. Die Schauspielerin war an dem Tag nicht gut auf den Regisseur zu sprechen, das merkte man. Auch der Schauspieler für die männliche Hauptrolle schaute immer nur griesgrämig in den Sonnenuntergang und sagte gar nichts.
Dann sollte es plötzlich losgehen, wir müssen uns beeilen, rief der Regisseur, die Sonne geht weg, alle auf Anfang. Beide Schauspieler verschwanden hinter einem Schuppen, weil das ihre Anfangsposition war, und der Regisseur griff sich die Kamera, die unter dem harten Gegenlicht des Sonnenuntergangs ein Bild lieferte, dass er gemeinsam mit Eddi erst diskutieren und optimieren musste Im Kopfhörer hörte ich unterdessen über die Funkmikrofone den Schauspieler tuscheln. Der Regisseur gehe ihm auf die Nerven, dieses permanente Pendeln zwischen Anbiederung und Bevormundung sei das Letzte, das halte er nicht mehr lange aus. Die Schauspielerin flüsterte, dass sie vor lauter Ärger keine Ahnung mehr habe, ob sie nun verliebt spielen solle oder nicht.
Dann waren Eddi und der Regisseur endlich fertig, die Klappe wurde geschlagen, auf Kommando kamen die Schauspieler hinter dem Schuppen hervor. Sie lieferten einen ziemlich unambitionierten Dialog über ihre Befindlichkeit beim Anblick des Sonnenunterganges, bis der Regisseur Stopp rief und ausgesprochen sachlich erklärte, dass er die Schauspielleistung beider Darsteller in dieser Einstellung als eine große Scheiße einstufen würde, das könne man nicht mit ihm machen. So lasch, wie die Schauspieler agiert hätten, grenze das an Arbeitsverweigerung. Aber er habe es nicht nötig, sich mit ihnen zu streiten, das würden wir morgen Abend noch mal machen und dann richtig und mit einem Sonnenuntergang, der hoffentlich weniger pathetisch sein werde.
Ich schreckte aus meiner Teilnahmslosigkeit auf, denn nach dem aktuellen Stand sollte mittwochs nur vormittags gedreht werden, was mir prima in den Kram passte, da ich ja abends zum Poetry Slam wollte. Dem Schauspieler ging es ähnlich. Er fuhr aus der Haut, man habe ihm zugesichert, dass er am Mittwoch nach Köln fliegen könne und das werde er auch tun, egal, was der Regisseur sich jetzt an spontanem Schikanen einfallen lasse, er habe da ein Vorsprechen für eine richtige Rolle, in einem richtigen Film, die auch richtig bezahlt werde, was er dringend brauche, weil dieses pseudointellektuelle Kindergarten-Liebesdrama ja hoffentlich bald ein Ende finde und er von der Schauspielerei leben müsse, was bei unserer Produktion nicht möglich sei. Der Regisseur wurde auch etwas lauter, aber ich hatte das Gefühl, die Vorwürfe trafen ihn nicht richtig, weil er das alles schon wusste und mit Absicht provoziert hatte. So einfach sei es ja auch nicht, dass jeder gehen könne, wann er wolle, und natürlich habe er dem Schauspieler zugesagt, dass er mittwochs frei haben könne, aber nur unter dem Vorbehalt, dass an den anderen Tagen der Drehplan eingehalten werde. Das sei ja wohl nicht der Fall. Was für ein Drehplan? grunzte der Schauspieler, es gehe doch sowieso immer nur nach den Tageslaunen des Regisseurs. Der Regisseur blieb cool und sagte, na los, dann geht ihr jetzt hinter den Schuppen und spielt die Szene mit verkürztem Dialog, die Schauspielerin solle ihren Text darauf beschränken, dass sie am Wochenende zu ihrer Mutter aufs Land fahre und deshalb keine Zeit habe, und der Wessi fügt dann dieser Aussage ein arrogantes „In die Provinz?“ hinzu, das Ganze im Gegenlicht an der Kamera vorbei, kapiert?
Ich atmete auf und hörte auch das Aufatmen der Schauspieler im Kopfhörer. Sie verschwanden gleich hinter dem Schuppen, wo beide sofort flüsternd über den Regisseur abkotzten. Diesmal war die Klappe schon geschlagen, Kamera und mein DAT-Rekorder liefen, während wir warteten, bis das Geräusch eines davonfahrenden Mopeds verschwunden war. Ich nahm das Geschimpfe der Schauspieler auf. Arrogantes Arschloch und blöde Sau, sagten sie ganz deutlich und meinten zweifellos den Regisseur, aber ich konnte die Aufnahme nicht ausschalten, weil sonst die Synchronität zum Teufel gegangen wäre. Vermutlich würde der Regisseur es erst Monate später am Schnittplatz hören, denn die Tonaufzeichnungen überprüfte ausschließlich ich selbst und nur in Stichproben. Der Regisseur sichtete gemeinsam mit Eddi die Videobänder, auf denen der Ton des Kameramikros zu hören war, da würde er nichts von dem vertraulichen Geflüster in den Funkmikrofonen hören. Im letzten Licht des Sonnenuntergangs machten wir dann zwei Takes mit dem verkürzten Dialog und mir schien es, als hätte der Regisseur mit der Streiterei nur die Zeit überbrücken wollen, bis das Licht des Sonnenuntergangs seinen Vorstellungen entsprach. Aber die Schauspieler waren inzwischen so genervt, dass sie sich weigerten, mit dem Regisseur gemeinsam im gleichen Auto zu fahren und deshalb saß auf der Rückfahrt die Schauspielerin bei mir.
Seit Monaten verbrachten wir viel Zeit gemeinsam an den Drehorten und hatten trotzdem immer nur über Banalitäten geredet, über die Tonangel, die ich ihr so oft über den Kopf hielt, oder das Funkmikrofon, das ich in ihrem Jackenkragen versteckte. Unser Standarddialog begann mit meiner Frage, in welche Richtung sie reden würde, und seit einigen Wochen gab sie sich keine Mühe mehr, mir darauf zu antworten, sondern meinte zunehmend ironisch, dass das nur der Regisseur wisse. Ansonsten hatten wir uns bisher nichts zu sagen gehabt. Stillschweigend bewunderte ich sie, weil sie eine sanfte, aber trotzdem volle Stimme hatte. Wenn ich sie in dem guten Kopfhörer hörte, als sei sie ganz nah, bereitete mir das ein unmittelbares akustisches Vergnügen. Vermutlich war sie gut zehn Jahre älter als ich. Es war mir zu peinlich, sie zu fragen, was sie sonst noch für Filme gemacht hatte, das erschien mir unhöflich, schließlich sollte ich das wissen. Es macht mich nervöser, als mir lieb war, mit ihr allein im Auto zu sitzen, dabei war sie wegen des Streits mit dem Regisseur selbst gerade sehr angreifbar, was sie dann auch ganz unerwartet erzählte. Wir Techniker hätten es doch immer viel leichter, weil wir ja nur die technischen Probleme lösen müssten, die einfacher seien als die persönlichen. Und Probleme mit Leuten wie dem großen Regisseur seien vorprogrammiert, aber das wisse man jedes Mal erst hinterher. Sie sei auch gar nicht scharf darauf gewesen, mitzuspielen, aber es habe sich eben ergeben, und jetzt habe sie die Quälerei durchzustehen. Dem männlichen Hauptdarsteller gehe es allerdings schlechter als ihr. Der müsse seine arbeitslose Freundin und zwei Kinder durchfüttern, während sie selbst keine finanziellen Probleme habe, grundsätzlich nicht. Trotzdem sei das ziemlich belastend, wenn man nach einem Drittel der Drehzeit merke, dass eigentlich nichts zusammenpasse, dass der Regisseur ihre Art zu schauspielern nicht zu würdigen wisse, dass sie inzwischen weder den Schauspieler noch seine Rolle inspirierend finde, was ihr dann das Spielen des Verliebtseins erschwere und der Schauspieler habe auch schon gemerkt, dass in dem Team alles auseinanderstrebe und deshalb dieser Film auf keinen Fall ein Sprungbrett für seine Karriere sein werde. Von diesen unliebsamen Gegebenheiten entmutigt, kreisten die Gedanken des Hauptdarstellers nur darum, wie er an Nachfolgeprojekte rankommen und damit seine Haushaltskasse sanieren könne. Also alles ziemlich verkorkst, aber nun müsse man eben ein paar Wochen durchstehen, und da sei mit noch einigen Streitereien zu rechnen. Ob sie denn im Auto rauchen dürfe, fragte sie mich, was reine Höflichkeit war, denn der überquellende Aschenbecher war nicht zu übersehen. Sie hatte allerdings keine Zigaretten. Vermutlich war sie eine von diesen reinen Stressraucherinnen. Es dauerte einige rote Ampeln lang, bis ich während der Fahrt eine Zigarette gedreht hatte und ihr anbieten konnte. Die nahm sie, steckte sie in den Mund, spielte mit dem Feuerzeug und warf sie dann plötzlich unangezündet aus dem Fenster. Sie werde jetzt doch nicht rauchen! Bloß, weil der Regisseur so ein frustrierter Neurotiker sei, brauche sie sich nicht auch frustrieren lassen und einen Rückfall in die Nikotinabhängigkeit riskieren. Lieber Alkohol, da sei der Entzug sowieso erst noch in Planung. So schleppend, wie sich der Verkehr durch die überlasteten Einfallstraßen quälte, würden wir noch mindestens eine halbe Stunde bis ins Büro brauchen. Ich sagte der Schauspielerin, dass diese halbe Stunde durch Büchsenbier auch für mich deutlich an Lebensqualität gewinnen könne. An einer Tankstelle hielten wir an, sie holte vier kleine Dosen, eine davon war schon für mich geöffnet. Als ich mich wieder in die vierspurige Straße einfädelte, merkte ich, wie die Schauspielerin an irgendetwas herumfummelte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und warf eine frische Schachtel DDR-Zigaretten auf die Ablage. Konsequent inkonsequent, sagte sie, aber bisher sei sie damit immer gut durchgekommen, im Osten und im Westen.
Auf den großen Regisseur! Auf dass er sich mit unserem Filmprojekt ausgiebig befriedige. Dabei hielt sie mir ihre Büchse hin, um mit mir anzustoßen. Mit der anderen Hand hielt sie sehr cool die Zigarette. Ein Großteil des Tabaks verglimmte von alleine, denn während sie weiterredete, nahm sie nur einzelne Züge. Diese selbstverliebte Art des großen Regisseurs beim Inszenieren kenne sie schon, meist vom Theater. Beim Film gehe das normalerweise nicht, weil da irgendwo ein Produzent sitze, der zwar einerseits an sein Geld, aber eben andererseits auch an die Zuschauer denke. Denn von denen möchte er sein Geld letztendlich zurückbekommen. Produzenten seien erklärte Feinde der Regisseurs-Onanie. Das heiße dann aber nicht, dass da immer was Tolles bei rauskomme, wenn der Produzent die Regisseurs-Onanie abwürge, das gehe auch oft genug schief und gefalle dann überhaut niemandem.
Ich ließ mir von ihr eine Zigarette anzünden und nahm einen großen Schluck Bier. Die Schauspielerin hatte stets einen kleinen, feinsinnigen Schuss Erotik in ihren Gesten und in der Betonung ihrer Worte, ganz zu schweigen von ihrer schönen Stimme und der anzüglichen Art, mit der sie die Arbeit des großen Regisseurs runtermachte. Das gefiel mir alles sehr gut, so gut, dass ich gar nicht wusste, was ich sagen sollte. Das störte nicht weiter, denn sie redete genug: Der Regisseur habe natürlich längst bemerkt, dass es nicht so laufe, wie er es sich erhofft habe, aber was soll er machen? Inzwischen seien alle so gereizt, dass sie bei jeder Kleinigkeit überreagierten. Das werde so ein Hickhack bleiben, wo jeder aus Böswilligkeit dem anderen nichts gönne, jede Bevormundung werde mit einer Widerspenstigkeit quittiert, jede missliebige Äußerung mit einer Retourkutsche und wenn jemand sich die Blöße gebe und Entgegenkommen signalisiere, werde es ausgenutzt. Wenn schließlich irgendwann die Premiere stattfinde, werden aber alle sagen, dass es ein tolles, ein supertolles Team gewesen sei.
Du übertreibst, sagte ich, und sie gab mir Recht. Das sei alles Polemik, aber sie sei gerade in der Laune, die Polemik als Wahrheit zu sehen, ihre Wahrheit, die sie sich jetzt zum Feierabend gönne, so wie der Regisseur sich seine, und er habe auch noch den Anspruch, diese durch den Film zu manifestieren. Theater, Film, Fernsehen, und dann auch noch die Werbung, alles Tummelplätze für unterschiedliche Wahrheiten, manchmal mit riesigem Aufwand inszeniert, um ihr Gewicht und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Wahrheit ihrer kleinen Feierabendpolemik sei dagegen banal und harmlos, aber sie habe keine Lust, die echte Wahrheit zu entschlüsseln, denn dazu müsse sie Verständnis für den armen großen Regisseur aufbringen, schließlich wolle der auch nur einen guten Film machen, aber habe sich eben in den Schauspielern vergriffen, deshalb werde man nicht, wie erhofft, einen gemeinsamen Nenner finden, und nun sei es ihr gemeinsames Problem, mit dem sie sich gegenseitig auf den Nerven rumtrampelten.
Morgen früh gehe sie wieder total objektiv an die Sache ran, dann werde die nächste Szene in den Kasten gesteckt, gedreht oder digital hineingesaugt. Das machen wir dann noch einen Monat lang, bis wir fertig sind. Danach suche ich mir den nächsten neurotischen Regisseur, der gerade eine mittelalte, mittelerfolgreiche Schauspielerin mit Mittelscheitel braucht. Ich schaute sie an. Du hast doch gar keinen Mittelscheitel, sagte ich. Sie könne sich jederzeit einen Mittelscheitel machen, dann sehe sie wirklich aus wie die typische, widerspenstige Ostlerin, die der Regisseur sowieso schon in ihr entdeckt habe, sie könne sich aber auch blondieren, dann sei sie im Nu eine West-Tussi vom Ku’damm. Sie mache ja sowieso alles Mögliche, um den dämlichen Ideen der Regisseure, Filmemacher und Casting-Agenten gerecht zu werden. Außerdem sei sie gar nicht mittelberühmt, sondern ziemlich bedeutungslos. Nur mittelalt, das stimme. Ich habe es mit meiner Tonangel wirklich viel einfacher.
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Die Prognose der Schauspielerin stimmte nur teilweise. Zwar zeigte sie sich wie angekündigt am nächsten Morgen sehr kooperativ gegenüber dem großen Regisseur, aber in Bezug auf den Zeitplan lag sie ziemlich falsch. Die restlichen Dreharbeiten dauerten nicht einen Monat, sondern es vergingen drei, und trotzdem waren wir immer noch nicht ganz fertig. Aber der Hauptdarsteller hatte tatsächlich in Köln eine langfristige Rolle in einer Krankenhausserie bekommen, was künstlerisch zweifellos noch fragwürdiger war als unser Projekt, aber optimale Bedingungen bot, um die Familie zu ernähren. Eddi sollte erstmal beim Abschlussfilm eines überambitionierten Filmhochschulregiestudenten Kamera machen, vierzehn Drehtage ohne Pause und dann noch ein Wochenende auf der Zugspitze. Auch andere Personen des Teams hatten zu dem Zeitpunkt schon neue Verpflichtungen.
Die restlichen zwei bis drei Drehtage sollten kurzfristig an Sonntagen eingeschoben werden, darauf hatten sich alle geeinigt. Um das Projekt nicht zu kippen, erklärten wir uns auch bereit, auf die uns tariflich zustehenden Sonntagszuschläge zu verzichten. Bei mir würde es immer passen, ich hatte keine Verpflichtungen, das war der große Mist. Zuvor hatte ich sogar einige gutbezahlte Tageseinsätze ausgeschlagen, aus Rücksicht auf den großen Regisseur.
Aber zunächst durfte ich am Mittwoch beim Poetry Slam in der angeblich extrem coolen und total angesagten Bar mitmachen. Die Bar lag in Schöneberg und dieser Stadtteil rutschte damals auf dem Trendbarometer gerade in den Keller. Trotzdem war der Typ an der Bar, von dem ich zunächst nicht wusste, ob es sich um den Besitzer handelte oder nur um einen von diesen selbstgefälligen Cocktailschwenkern, extrem arrogant und fand unzählige Gründe, weshalb unser Poetry Slam die Leute davon abhalten könnte, Getränke zu bestellen. Dass ich einen Projektor in den Gastraum stellen wollte, bezeichnete er als ungemütlich und faselte dann auch noch was Kritisches von wegen Elektrosmog. Es wunderte mich nicht, dass er nicht wusste, wie er einzelne Lampen ausschalten konnte, um das Licht für die Filmvorführung zu dämpfen. Wie nicht anders zu erwarten, gab er das nicht zu, sondern behaupte, dass er die Lampen nicht ausschalten wollte.
Der Moderator war schon ganz verzweifelt, weil er befürchtete, dass die Backstage-Stimmung in seiner neuen, tollen Location durch so einen zickigen Barkeeper versaut würde. Und dann sollten wir auch schon um neun anfangen, denn, so der Barkeeper, um elf müssten wir fertig sein, um elf sei die Bude voll mit Gästen, die Cocktails wollten, da habe Schluss zu sein mit der Poetry, damit sein ultracooler Acid Jazz laufen könne. Bei so viel Anteilnahme verflog die Vorfreude, und es machte mir überhaupt keinen Spaß, die Technik hinzustellen und zu verkabeln. Die anderen Slammer, die erst später eintrafen, weil sie weder einen Projektor schleppen noch aufbauen mussten, waren unverschämt gut gelaunt und bekamen von den vielen Vorbehalten des Barkeepers gar nichts mehr ab. Stattdessen kümmerte sich plötzlich eine vorlaute Thekenschlampe um uns, die das genaue Gegenteil von ihrem Kollegen war. Sie sagte, es sei toll, dass endlich mal was los sei in dem langweiligen Schuppen und wir sollten nicht zu früh anfangen. Dass es eine Filmprojektion gab, fand sie prima. Dieser Stimmungsumschwung war zwar gut für unsere Motivation, das Publikum kam aber trotzdem nur sehr zögerlich. Erst trudelten ein paar dubiose Gestalten ein, denen weder Interesse an Poetry, noch an ultracoolem Acid Jazz anzumerken war, dann zwei Pärchen, die sich nur unterhalten wollten und schließlich doch noch ungefähr zehn Gäste, die tatsächlich wegen unserer literarischen Darbietungen gekommen zu sein schienen. Denen gefiel es dann aber so gut, dass wir problemlos bis Mitternacht vortragen konnten, zumal die 23-Uhr-Cocktail-Trinker ausblieben, obwohl sie angeblich sonst immer da seien. So entpuppte sich die Ankündigung der üppigen Gage als Wunschdenken und es blieb nur eine Möglichkeit, das Aufwand-Nutzen-Verhältnis des Abends zu verbessern: sich unter der liebevollen Betreuung der Thekenschlampe gemeinsam mit einem der anderen Poetry Slammer volllaufen zu lassen. Er fand meinen Film gut und ich seinen Text. Ich hatte zum Film übersteigerte apokalyptische Visionen vorgelesen, er eine minimalistische Percussion auf Bierflaschen und Gläsern hingelegt, die nicht nur zu seinen Pointen über das Herumhängen in Bars passte, sondern auch dazu, wie wir gemeinsam am Tresen saßen und mit der Thekenschlampe Witze rissen.
Allerdings war ich schließlich so betrunken, dass ich meinen Filmprojektor nicht bis nach Hause bekam. Irgendwo ließ ich ihn einfach stehen. Ich konnte mich vage erinnern, dass ich tatsächlich in irgendeiner U-Bahnstation laut mit dem Projektor geredet und ihm vorgeworfen hatte, er sei viel zu schwer und eine aussterbende Technologie, deshalb lange es mir endgültig, ihn herumzuschleppen. Gekostet habe er mich auch nichts, was ein weiteres Indiz für seine Nutzlosigkeit sei. Deshalb werde er jetzt sofort entsorgt, und mit diesen Worten verabschiedete ich mich von diesem bewährten Produkt der tschechischen optischen Industrie, das lange Zeit in einer Ecke des Hinterhofprogrammkinos verstaubt war, bis es mir der Hinterhofprogrammkinodirektor geschenkt hatte. Nun war der Projektor weg und der größte Teil der Rückfahrt verschwand in einer tiefen Gedächtnislücke.
Am folgenden Tag spielte ich mit dem Gedanken, einige U-Bahnstationen oder gar das Fundbüro aufzusuchen, aber ich war zu schwach und ließ mich wieder ins Bett fallen. Dass ich den Projektor leichtfertig im Vollrausch zurückgelassen hatte, bescherte mir nun selbstquälerische Fragen, was das alles denn mit mir und meiner wahren Mitte zu tun haben könnte. Beim Tragen hing dieser scheißschwere Projektor an mir wie die Eisenkugel am Sträfling, aber war das nicht die notwenige Masse zur Stabilisierung meines Standpunktes? Welcher Standpunkt überhaupt? Und der Stapel von Filmdosen in meinem Arbeitszimmerregal, war das mein ICH? Vom Lokalfernsehen über die Seifenoper bis zum Neurosenregisseur hatte ich meine wertvolle Energie für einen Spottpreis hergegeben, und mir schien, als sei sie dabei verpufft, im großen Rauschen des medialen Universums verschwunden. Sollte ich mich nicht glücklich schätzen, in Form des scheißschweren Projektors und der Filmdosen mit den Filmen, den Negativen und den Tonmischungsmagnetbändern etwas zu haben, das ich anfassen konnte und das trotzdem von der kosmischen Leichtigkeit eines künstlerischen Werkes durchdrungen war? Etwas, das durch die ausreichende Masse an mir klebte und gleichzeitig als kreative Idee das Universum füllte? Oder war dieses Bedürfnis, ETWAS anfassen zu wollen nur ein Verhaltensmuster, das ich mir schleunigst abgewöhnen sollte, wenn ich in meiner Branche mit der technischen Entwicklung Schritt halten wollte? In den wenigen Jahren, während denen ich dabei war, hatte sich schon so vieles umgekrempelt und alles wurde ständig fortentwickelt, schlichtweg unglaublich und beeindruckend! Nein, es war vermutlich nur eine romantische Vergangenheitsverklärung, wenn ich dachte, der scheißschwere Projektor könnte mir Stabilität verleihen. Nochmals versuchte ich aufzustehen, schwankte in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Kniete dann im Klo vor der Schüssel und versuchte vergebens, mich zu übergeben. Den anderen Projektor aus dem Gehöft von Tinas Opa hatte ich ja auch noch, deshalb schmiss ich mich wieder ins Bett und verließ es erst am Abend.
Es folgten einige Tage Dreharbeiten mit dem großen Regisseur, jeweils mit zusätzlichen Schauspielern, was zur Beruhigung der Gemüter beitrug und ohne emotionale Verwerfungen über die Bühne ging. Als ich wieder einen Tag frei hatte, putzte ich halbherzig die Wohnung, klaubte schwermütig ein trockenes Blatt des Gummibaums vom Boden und bevor ich anfing, in der Küche mit dem Schrubber Unheil zu stiften, ging ich lieber spazieren. Ich lenkte den Schritt in die Richtung von Achims Wohnung, aß unterwegs einen Döner und trotz bemühter Langsamkeit war es erst halb vier, als ich ankam. Ich klingelte und wurde eingelassen.
Die Wohnungstür war angelehnt, drinnen in der Wohnung herrschte Stille, nicht das übliche Klackern der Tastatur. Marianne war allein, saß zurückgelehnt vor ihrem Laptop und ließ die Arme merkwürdig lasch nach unten hängen. Eine Haltung, die ich an ihr noch nie gesehen hatte. Als ich mit einem fragenden Hallo um die Ecke bog, schien sie Erleichterung zu verspüren, atmete tief aus und meinte, jetzt sei sie beruhigt, dass ich es sei und nicht Achim. Ob Achim keinen Schlüssel habe? fragte ich. Doch, den habe er, allerdings sei er derzeit völlig unberechenbar. Eben, kaum zehn Minuten zuvor, habe er die Tür, auf deren Schwelle ich gerade stünde, zugeknallt, von außen laut zugeknallt und damit den Streit beendet, in dessen Verlauf er ihr die Freundschaft gekündigt habe. Sie habe während der letzten Tage gemerkt, wie Achim eine ganz allmählich zunehmende Skepsis entwickelt habe. Zunächst bezog sich diese Skepsis nur auf einen Running Gag, der direkt mit ihm zu tun hatte: Jede Szene ihres Theaterstücks beginne damit, dass der Protagonist seinen Kollegen erkläre, er habe eine neue Anfangsszene für sein großartiges Drehbuch. Zunächst habe Achim diese Anspielung lustig gefunden, schließlich ging es um seine ABM-Erfahrungen. Erfahrungen, die er Marianne aus freien Stücken anvertraut hatte. Die übelsten Schoten und Zoten seien ihm am Anfang noch nicht schockierend genug gewesen, um die Sinnlosigkeit der Angelegenheit sowie die Borniertheit ihrer behördlichen Durchführung zu entlarven.
Aber all die Anekdoten, die er lieferte, so Marianne, seien lediglich Schildbürgerstreiche der Teilnehmer gewesen und das habe sich schließlich auch in ihrer Bearbeitung niedergeschlagen, sie sei ja nicht der Bund der Steuerzahler, sondern eine Schriftstellerin und müsse mit dem Material arbeiten, das er ihr anbiete. Da sei Achim wohl im Laufe der letzten Tage zur Erkenntnis gekommen, dass er mit seiner schonungslosen Offenheit seinen Kollegen keinen Dienst erwiesen habe, sondern dass sie in die Pfanne gehauen würden, nicht von ihm, aber von Marianne.
In Achims Augen, wie könne es auch anders sein, sei Marianne schuld daran, dass die Angelegenheit aus dem Ruder laufe, sie hätte seine Schilderungen falsch interpretiert. In den Tagen zuvor seien es nur skeptische Zwischenfragen und zynische Bemerkungen gewesen, aber dann sei es plötzlich aus ihm herausgeplatzt, er habe ihr vorgeworfen, sie mache sich über die Arbeitslosen lustig und gebe sie der Lächerlichkeit preis. Was sie aus seinen Schilderungen gemacht habe, sei eine Perversion seiner ursprünglichen Absichten und ein Schlag in das Gesicht derer, die sowieso von der Gesellschaft um die Würde einer sinnhaften sozialen Position beschissen würden. Achim hätte Marianne vorgeworfen, dass ihr Text mit voller Absicht genau das Gegenteil von dem ausdrücke, was er habe mitteilen wollen.
Mariannes Rechtfertigungsversuche hätten ihn noch weiter in Rage gebracht, bis er sich schließlich von ihrem gemeinsamen Projekt distanziert, oder sie vielmehr angeschrien habe, dass sie sein großes Thema doch gefälligst verschonen solle, sie könne sich ihre reaktionären und sexistischen Phantasien, ihr schmieriges Geschreibe einrahmen oder in den Reißwolf stopfen, er jedenfalls wolle nichts mehr damit zu tun haben. Damit basta, Türzuknallen und das wäre es gewesen. Sie habe ihn noch nie so aufgebracht gesehen, obwohl er sich ja oft in Erregung rede. Nach ihrer Einschätzung werde er sich nicht einfach wieder beruhigen. Darüber hinaus sei fraglich, ob er sein Urteil zu ihrem Theaterstück jemals revidieren werde.
Da gab ich ihr Recht, Achims Sturheit sei bekannt und unerschütterlich. Also müsse SIE nachgeben. Da schaute sie mich an, als hätte ich ihr gesagt, sie solle sich aus dem Fenster stürzen. Das gehe nicht, sie habe es doch geschrieben, meinte sie mit spürbarer Ergriffenheit, und ich überlegte, ob dieses Argument überhaupt eine Berechtigung hatte. Ich bekomme dafür das Stipendium, ich muss das Stück abgeben, ich bin davon überzeugt, ich will das nicht ändern, ich muss das fertig machen. So wie es ist.
Angesichts dieser Ich-Bezogenheit der Begründung reizte es mich, Marianne zu widersprechen, auch wenn ich überhaupt nicht einschätzen konnte, ob das Stück, wie Achim behauptet hatte, wirklich moralisch fragwürdig war. Vermutlich war seine Begründung ebenfalls total Ich-bezogen. Er hatte sich ideologisch immer weiter von uns entfernt, aber nicht, weil er sich bewegte, sondern weil er stehen geblieben war. War er standhaft oder borniert? Und wir? Oder ich? Angepasst oder flexibel oder beides? Irgendwie kann man immer begründen, dass das, was man macht richtig ist, oder zumindest notwendig, oder unvermeidbar oder der Hochverrat an fast vergessenen pubertären Weltverbesserungsphantasien. Wie transformiere ich meine Ideologie in die Wirklichkeit? Noch vor kurzem hatte ich in meinem verkaterten Delirium den scheißschweren Projektor als Standpunkt angesehen und die Erinnerung daran ließ mich jetzt sein Gewicht am Arm fühlen, dieses Gezerre, ihn durch lange U-Bahnverbindungsgänge zu schleppen. Natürlich konnte ich mir eine schöne gerechte Welt vorstellen, in der die Menschen nicht vom Kapitalismus gehetzt werden, sondern der Kreativität huldigen, aber ich hatte nie herausgefunden, wo ich diese Welt einschalten kann, und auch nicht, wer in dieser Welt verstopfte Kloröhren repariert. Aber diese Gedanken nutzten gerade gar nichts. Schließlich fragte ich Marianne nach den Gründen für ihre Geheimniskrämerei mir gegenüber. Erst tat sie so, als wisse sie nicht, was ich meine. Aber das stimmte nicht, das war mir klar. Ich bohrte weiter, bis sie zugab, dass Achim mich als Opportunisten bezeichnet habe und es sei Achim durchaus bewusst, wie wenig ich ihn ernst nähme, dass ihn auch die anderen nicht erst nehme würden, und dass er wiederum diese Anbiederei an Wichtigtuer wie den großen Regisseur und Typen wie Schleimspur-Eddi nicht aushalten könne, überhaupt sei es ihm zuwider, wie sich all die alternativen Geistesmenschen in ihrer vermeintlichen Künstlerselbstverwirklichung gegeneinander ausspielen lassen. Was sie davon halte, fragte ich und Marianne gab zu, dass sie Achims Einschätzung nur mit Einschränkungen teile, aber ernst nähme. Auch wenn jetzt das gegenseitige Vertrauen im Eimer sei, immerhin habe sie auf seine Meinung so viel gegeben, dass sie das Theaterstück gemeinsam mit ihm begonnen habe, so ganz könne sie sich seiner Gedankenwelt nicht entziehen. Immerhin sei er sehr konsequent.
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Den Vorwurf, ich sei ein Opportunist wollte ich zwar nicht auf mir sitzen lassen, aber mit Achim darüber zu diskutieren kam auch nicht in Frage. Mit Marianne schon eher, zumal es mich interessierte, ob es Neuigkeiten gab. Nach einigen Tagen schaute ich vormittags bei ihr vorbei, doch es öffnete niemand. An Achims ramponiertem Briefkasten prangte in großen, roten Buchstaben die Aufforderung: Hier keine Post für Wurststock einwerfen, unbekannt verzogen. Diese totale Ablehnung passte zu Achim. Es sah also ganz danach aus, als sei der Streit noch nicht geschlichtet und Marianne aus der Wohnung verschwunden. Ob sie auch aus Berlin verschwunden war, konnte ich nicht herausfinden, denn alle Telefonnummern, die ich von ihr kannte, blieben stumm. Das Bedürfnis, zwischen den beiden als Vermittler aufzutreten, verspürte ich in keiner Weise.
Weitere turbulente Drehtage für den digitalen Spielfilm folgten, nebenbei arbeitete ich an einem Trickfilm, der sich mit der Frage beschäftigte, wie lange es dauern würde, bis alle dreieinhalb Millionen Bewohner Berlins, vom Fernsehturm hinuntergesprungen wären, sofern es ihnen in den Sinn käme, kollektiv Suizid zu begehen. Vielleicht deutete sich in dieser Filmidee bereits meine aufkeimende Berlinverdrossenheit an. Meine Rechnung beruhte auf einigen Annahmen und Näherungen, aber vor allem auf der Erkenntnis, dass wohl vor allem die Transportkapazität der Fernsehturmlifte der geschwindigkeitsbestimmende Faktor des Prozesses sein würde und so errechnete ich, dass das Ganze auf jeden Fall mehr als 68 Tage und Nächte in Anspruch nehmen würde. Anschließend berechnete ich noch die Größe des Leichenhaufens am Fuß des Fernsehturms. Die Hauptdarstellerin des digitalen Spielfilms sprach den kurzen erklärenden Text mit ihrer schönen Stimme während einer Drehpause ein und so ergab es sich, dass ich mit sehr wenig Aufwand meinen bis dahin erfolgreichsten Animationsfilm sehr schnell fertig stellen konnte, nur ein paar einfache Skizzen, Fotokopien des Fernsehturms und einige mathematische Formeln. Durch einen glücklichen Zufall gelang es mir sogar, das Werk mit dem Titel „Einige Zahlen über die Bevölkerung Berlins“ im Fernsehen unterzubringen, später sollte er auf einer DVD mit anderen Filmen über Berlin erscheinen.
Als der Herbst begann, widerlich und verregnet, ließen die Dreharbeiten am digitalen Spielfilm ein Ende erahnen. Alle redeten tagelang vom gefürchteten Berliner Winter, was in seiner kollektiven Hysterie viel schlimmer war als das Wetter an sich. Gleichzeitig trafen in unregelmäßigen Abständen Postkarten von sonnendurchfluteten australischen Stränden bei mir ein und hielten mich erfolgreich davon ab, mich an andere Frauen ranzuschmeißen. Ansonsten verursachten die Postkarten eher Neid, als dass sie Trost gespendet hätten. Dem Gummibaum fielen noch einige Blätter zu Boden und ich ergatterte hin und wieder interessante Kamerajobs, die mir wenig Spaß machten, obwohl sie gar nicht so schlecht bezahlt waren. Je näher der Jahreswechsel kam, desto verunsicherter fühlte ich mich. Vor allem, als die Postkarte mit dem Hai, der gerade eine Blondine fressen will, eintraf und Tina darauf verkündete, dass genau jetzt ihr Geld alle sei, aber sie auf jeden Fall noch bis zum März bleiben wolle, um sich den deutschen Winter zu ersparen und mir die Gelegenheit zu geben, noch ein bisschen ihre Wohnung zu bewohnen. Ihr Rückflug sei für den 25.3. gebucht, einem Samstag.
Am Ende der Nachricht wies sie explizit darauf hin, dass sie mich liebe. Das las sich gut, stimmte mich allerdings misstrauisch. Ich hatte keinen Anlass für Verdächtigungen, steigerte mich aber dennoch in die Wahnidee hinein, dass sie das nur schreibe, um mich in Sicherheit zu wiegen. In Verbindung mit meiner zu dem Zeitpunkt unklaren Berufsperspektive, dem unglücklichen Abgang von Marianne und Achim, ganz zu schweigen von der Wohnungssuche, die sowohl lustlos als auch unergiebig war, sah ich mich einmal mehr als Spielball widriger Umstände. Eigentlich zweifelte ich weniger an Tinas Treue als an der Notwendigkeit, ihre Wohnung zu verlassen, aber es gab da ein Restrisiko: Was wäre, wenn sie doch mit einem neuen Freund zurückkäme? Ulrich und Henry hatten sich zur gleichen Zeit plötzlich dazu entschlossen, jeweils eine Einzimmerwohnung zu beziehen, Ulrich in Charlottenburg, Henry in Mitte. Beide hüllten sich über den Grund dieser Entscheidung in Schweigen, aber der Rückweg in die WG war versperrt. Blieb nur die Flucht nach vorne, in die ostdeutsche Provinz. Das sei auch eine Lösung, sagte ich zur allgemeinen Überraschung meiner Mitmenschen. Irgendwann hatte ich mich auf die Stellenanzeige einer der kleinen Universitäten in den neuen Bundesländern beworben. Daraufhin lud man mich tatsächlich zu einem Bewerbungsgespräch ein und hatte dann monatelang nichts von sich hören lassen. Als ich schon längst nicht mehr damit rechnete, traf plötzlich ein Brief ein, dass ich den Job haben könnte. Eine unbedeutende Stelle mit zuverlässiger Bezahlung. Die brauchten dort jemanden, der sich unter den Bedingungen des öffentlichen Dienstes um Video, Fotografie und alle anderen medialen Möglichkeiten kümmern sollte.
Ulrich meinte, das sei ja noch schlimmer als Charlottenburg und Henry argumentierte genauso blödsinnig. Er sagte, ich müsse ja nicht unbedingt in Mitte wohnen, so wie er, aber in die Provinz abzuhauen, das sei sehr uncool. Er wusste, dass ich nicht uncool sein wollte. Aber ich war es. Dass ich dazu fähig war, mit verschiedenen Kurzzeitjobs genügend Geld zum Überleben zusammenzukratzen, hatte ich bewiesen. Und jetzt, da sich eine Alternative bot, erschien mir mein Berliner Arbeitsalltag sowieso überhaupt nicht mehr cool, sondern anstrengend, unergiebig und total überbewertet. Martin war einer der wenigen, der mich darin bestärkte, in die Provinz zu gehen. Oder war es seine Angst, ich könnte wieder versuchen, bei ihm zu wohnen, falls Tina mich nach ihrer Rückkehr vor die Tür setzen würde?
Ich verbrachte einen Abend mit ihm in der Kunstakademie, irgendwelche tollen Klangskulpturen mussten bestaunt werden. Einer von Martins Studienkollegen habe ebenfalls an einer Provinzuni, gearbeitet, wo ihm eine Disketten-Kamera in die Hände gefallen sei, ein merkwürdiges Ding, das Fotos direkt auf eine 3,5-Zoll-Diskette schreibe. Martin hatte sich in den Kopf gesetzt, damit einen Film zu drehen, und ich solle den Job annehmen, wenn es diese Kamera dort an der Uni gebe. Wenn es sie nicht gebe, dann solle ich sie kaufen, möglichst schnell, denn das Ding sei sehr praktisch, aber voraussichtlich schon bald veraltet.
Martin verzichtete auf eine Vertiefung der technischen Details, weil er unter den vielen staunenden und lauschenden Gästen des Klangkunstfestivals eine Frau entdeckt hatte, die er offensichtlich unbedingt ansprechen wollte. So eine lange, dünne, die sehr kulturbeflissen wirkte und sich in Begleitung einer etwas dicklichen Rothaarigen befand. Wenn die Unternehmung erfolgreich sein sollte, dann müsste ich mitmachen, zumindest am Anfang. Die dünne Blondine stellte sich jedoch als ziemlich spröde und humorlos heraus, während die kleine Rothaarige total auf mich abfuhr. Leider fand ich sie nicht richtig hübsch. Der übliche Berliner Kultur-Chic, elegant im schwarzen Kleidchen und sorgsam bemalte dunkelrote Lippen, aber mit den ausgewogenen Proportionen von Tina konnte sie bei weitem nicht mithalten, sie hatte eben ein Pfannkuchengesicht. Allerdings wanderte mein Blick allzu oft weiter nach unten und fand dort ausreichend Nahrung, um meine Gedanken dann doch in eine quälende Ambivalenz hineinzumanövrieren.
Martin verwickelte die beiden Frauen ziemlich geschickt in ein lockeres Gespräch, wobei er sich wie nebenbei als erfolgreicher Geschäftsführer seiner Internetkonzeptions- und -realisierungsfirma darstellte, die zu diesem Zeitpunkt noch mit vielen Anfangsschwierigkeiten kämpfte. Andererseits brachte er über meine kuriosen Filmprojekte künstlerischen Anspruch ins Spiel. Von der Diskettenkamera wollten wir jetzt beide nicht mehr reden, sondern lieber über völlig veraltete Technik, Oldtimerromantik der Medientechnologie, die Nummer mit dem 16-mm-Film kam immer gut an, wir durften sie schließlich nicht überfordern. Unsere Mischung aus Kreativität, Nonkonformismus und Geschäftstüchtigkeit sollte genügen, um erst einmal herauszufinden, auf welches dieser drei Wettbewerbsangebote die Frauen anspringen würden. Ansonsten Sekt spendieren, ohne allzu aufdringlich zu wirken.
In der Tat ließen sie sich dazu bewegen, mit uns im Taxi zu einer Bar zu fahren, die Martin als Geheimtipp pries. Ihr Vorteil bestand aber vor allem darin, dass Martin im Nachbarhaus wohnte und er später, mit oder ohne Blondine, zu Fuß nach Hause gehen könnte. Im Taxi verriet die Blondine, dass sie in der Bank arbeite, während die Rothaarige in irgendeiner Umweltbehörde gegen die Anfeindungen diverser Chemieunternehmen zu kämpfen hätte. Das beeindruckte mich, aber sie wollte nichts von ihrer Arbeit erzählen. Unter dem Einfluss weiterer Drinks geriet ich immer weiter in den Bann ihrer üppigen Oberweite, die sich mir, vor allem wenn sie sich zu mir beugte, um zu wiederholen, was ich wegen des hohen Lärmpegels in der vollen Bar nicht verstanden hatte, unter dem enganliegenden Stoff ihres Kleides prall entgegenstreckte. Als sie aufs Klo ging, folgte ich ihr. Da ich mit dem Pinkeln schneller fertig war, erwischte ich sie, als sie aus der Damentoilette heraus in den Flur trat.
Ich betrachtete die Plakate an, die in beeindruckend großer Anzahl in mehreren Schichten übereinander die Wände vollständig bedeckten. Tatsächlich fand ich sogar drei Plakate meiner Filmvorführungen, zwei davon waren nur als kleiner Ausschnitt einer bereits überklebten Schicht zu erkennen. Diese wuchernden Plakatwände, die ja auch eine Art Archiv kultureller Ereignisse waren und die es damals in fast allen Toilettenvorräumen gab, liebte ich. Speziell dann natürlich, wenn auch ich einen Beitrag dazu geleistet hatte, wobei es vermutlich Martin gewesen war, der dafür gesorgt hatte, dass die Plakate in seiner Nachbarschaftskneipe aufgehängt wurden. Stolz wies ich die Rothaarige auf meine fotokopierten kulturellen Duftmarken hin und konnte es nicht lassen, ihr dabei an den Hintern zu fassen. Das war wohl genau das, was sie nicht wollte, oder noch nicht, oder nicht im Toilettenvorraum. Sie schob meine Hand weg, deutete auf das Plakat einer Tangotanzveranstaltung und berichtete mir, dass sie dort gewesen sei und es sei ja so schön gewesen. Für Tango interessierte ich mich nun überhaupt nicht, schlimmer noch: Ich konnte Leute, die sich für Tango interessierten, nicht leiden. Ohne weiteren Meinungsaustausch gingen wir zurück an den Tisch, wo Martin mit der Blondine erfolgreich zu flirten schien. Das hätte mich ermuntern können, stattdessen fühlte ich mich mit einem Mal völlig entmutigt, die Luft war raus. Mir fiel nichts mehr ein, obwohl die Rothaarige mich immer wieder groß anschaute. So quälte ich mich mit Smalltalk und versuchte dann nochmals eine Berührung, indem ich meine Hand auf ihrem Bein platzierte. Da küsste sie mich ganz energisch auf den Mund und erklärte anschließend, sie verabscheue One-Night-Stands. Sie nahm mich mit auf die Straße, um dort mit mir zu knutschen, ging dann zurück und unterhielt sich mit ihrer Freundin, während ich an der Bar Getränke holte. Den Sekt, den ich ihr hinstellte, verschüttete sie, vielleicht sogar mit Absicht. Dann lachte sie plötzlich ohne erkennbaren Grund laut auf und beschloss von einer auf die andere Sekunde, sich ein Taxi zu nehmen, ich solle mich nicht bemühen, sie nach draußen zu bringen, sie kenne den Weg. Als ich ihr dennoch folgte, fiel sie mir wieder um den Hals, küsste mich leidenschaftlich, wollte wissen, ob ich sie liebe und weil ich mit meiner Antwort länger als drei Sekunden zögerte, beschimpfte sie mich, ich sei so, wie alle anderen Schwanzmenschen auch, triebgesteuert und rücksichtslos. Sie scheuchte mich davon, ich solle wieder rein gehen. Als ich über die Schwelle trat, hörte ich ein seufzendes Klagen und glaubte zu verstehen, wie sie sich halblaut darüber beschwerte, dass ich ja tatsächlich mache, was sie von mir verlange.
Martin und die Blondine waren allerdings inzwischen verschwunden und deshalb trank ich an der Bar allein einen Whiskey. Dabei versuchte ich möglichst emotionslos zu wirken, während mir die Vorwürfe der Rothaarigen weiter in den Ohren klangen. Am nächsten Tag schrieb ich gleich nach dem Aufstehen einen knappen Brief an die Personalstelle der Provinzuni, um mitzuteilen, dass sie mit mir rechnen konnten. Zum angegebenen Termin würde ich die Stelle antreten.