Videofuzzis weltweit unterwegs: Madagaskar!

Plötzlich dreht sich bei mir alles um das unbekannte Afrika, aber eigentlich ist es dort so, wie man es hätte erwarten können. Oder doch ganz anders? Was habe ich denn erwartet, und was hätte ich erwarten sollen? Im Nachhinein bekam ich dann zufällig ein Buch in die Finger, das genau zum Thema passt und uns allen alles erklärt, und dann noch erklärt, wie wir Erklärungen zu verstehen haben. Das klingt so, als sei dieses Buch von einem totalen Schlaumeier geschrieben worden, und das ist es auch. Trotzdem oder gerade deswegen teile ich viele seiner Einschätzungen und außerdem ist der Autor von „factfulness“ Hans Rosling ein Gutmensch und Arzt, so wie meine netten Reisebegleiter, deren Einsatz in Afrika ich begleitete.

FactFul_Beschriftet
Die Bücherei bestand auf eine neues Exemplar und ich bekam das alte.

Fangen wir von vorne an: Franks Schwester ist mit einem Arzt verheiratet und dieser Arzt fährt mit anderen Ärzten und Pflegekräften jedes Jahr für zwei Wochen nach Madagaskar, um dort humanitäre Hilfe für arme, kranke Menschen zu leisten. Frank ist gelernter Fotograf, arbeitet jetzt als Webdesigner. Ganz früher (80-er Jahre) haben wir gemeinsam Super-8-Filme gedreht. Als Frank gefragt wurde, ob er nicht mal mit nach Madagaskar kommen möchte, um ein paar tolle Fotos von der tollen humanitären Hilfe zu schießen, fragte er mich, ob ich ihn nicht begleite, damit wir neben den Fotos auch einen tollen Film drehen. Da wir aus unserer humanitären Grundhaltung heraus auf ein Honorar verzichteten und den Großteil der Reisekosten selbst bezahlten, wurde nicht lang verhandelt, sondern es ging los. Ins richtige Afrika, wo man jede Menge Impfungen braucht, wo die Natur hübsch, aber gefährlich und die Menschen entweder korrupt oder arm sind und wo die heilsbringenden Segnungen der industrialisierten Welt nie ankommen werden. Oder sind das nur unsere veralteten Vorurteile? Die heilsbringende WWW-Informationstechnologie war auf jeden Fall schon vorhanden und in jedem Restaurant wurde vor dem Blick in die Speisekarte erst mal nach dem Wifi-Passwort gefragt, damit die aktuellen Schnappschüsse nach Hause zu den lieben Familien geschickt werden konnten. Die madagassischen Ureinwohner hingegen waren meist nur mit ollen Taschentelefonen ausgerüstet, aber die Buschtrommel musste offensichtlich niemand mehr bedienen. Auffällig schien mir das starke Wohlstandsgefälle von der Hauptstadt (Antananarivo, wo wir mit dem AirFrance-Flieger ankamen) zur Provinzstadt (Fort Dauphin/Talarogno, wurde mit einem Turboprob-Inlandsflug erreicht) und zum  Dorf (Manambaro, noch mal eine gute Stunde Autofahrt auf einer löchrigen Piste).

TeamHospital
Glückliche, geheilte Patienten (links) und das deutsch-afrikanische Ärzte-Pfleger-Team (rechts).

Im Dorf lebten die meisten Menschen in Holzbuden und Wellblechhütten, Autos waren kaum zu sehen, aber immerhin gab es eine gemauerte Kirche und das von Missionaren errichtete Hospital. Das Ärzteteam quartierte sich im Gästehaus des Hospitals ein, in dem es kein fließendes Wasser gab, weil der Brunnen versandet war. Aber davon ließen sich die Ärzte nicht abschrecken und operierten fleißig eine Woche lang so viel sie konnten und kostenlos dazu, was für die Landbevölkerung ein Segen ist. Die normale, madagassische Krankenbehandlung im Hospital kostet Geld, wer keines hat, bleibt eben krank.

Ralf_OP
Beim Filmen im OP

Im Gegensatz zu vielen Konsumspäßen, die unsere Überflussgesellschaft zu bieten hat, ist eine medizinische Versorgung eben eine elementare Notwendigkeit und so konnten sich die Ärzte richtig nützlich machen. Die mediale Wertschöpfung,  die wir Kameramänner beisteuerten, war hingegen relativ schnell erledigt und wir fuhren zurück in die Provinzstadt, wo wir in einer Touristen-tauglichen Bungalow-Anlage wohnten und uns daran erfreuten, dass hier der Wohlstand in Form von Restaurants, flächendeckender Elektrizitätsversorgung, geteerten Straßen und einer Tröpfel-Dusche gegenüber dem Dorf bereits deutlich gesteigert war. Aber auch wenn es in der Provinzstadt mehr Autos als auf dem Dorf gab, wurde hier eine beachtliche Menge des Transportvolumens mit Fahrrädern und Karren bewältigt, während in der Hauptstadt die Autos bereits deutlich die Oberhand gewonnen hatten.

 

FahrradTransport
Transport landwirtschaftlicher Produkte und Holzkohle auf dem Fahrrad, Baustahl auf dem Karren. Ist das das Auto-freie Öko-Paradies, das ich mir wünsche? CO2-Emmisonen ok! Noch!

Ähnlich wie mit der Mischung zwischen motorisierten und mit Körperkraft betriebenen Transportmitteln war auch die Bebauung. In der Provinzstadt mischten sich die Holzbuden und Steinhäuser, während  in Antananarivo die Steinhäuser deutlich dominierten. Da man ja schnell in Versuchung kommt, vor allem die außergewöhnlichen Dinge zu fotografieren, sind auf normalen Urlaubsfotos Paläste und Bruchbuden stark überrepräsentiert. Wenn ich dann versuche, ein „normales“ also mittelmäßiges Haus aufzunehmen, gerate ich über diese Aufgabe schier in Verzweiflung, ich laufe herum und kein Haus ist mittelmäßig genug. Mache ich dann eine Aufnahme von einer traurigen kleinen Hütte, weil sie eben so schön fotogen ist, denke ich dabei, ich muss zur Wahrung der Ausgewogenheit auch noch eines der anderen Häuser fotografieren, damit meine Darstellung nicht einseitige ist. Die Aussagekraft von Fotos, speziell von guten Fotos, ist immer subjektiv und kann extrem manipulativ sein. Video erst recht. Hans Rosling empfiehlt als Gegenmittel gegen derartige selektive Information und die Einseitigkeit der Massenmedien den Informationswert von Statistiken, damit wir endlich die Welt verstehen und sie richtig beurteilen. Ich gebe ihm Recht geben und gemeinsam  bedauern wir, dass viele Menschen Statistiken nicht lesen wollen oder können oder sie auch nicht in den richtigen Kontext zu setzen wissen. Wir können das schon (Hans Rosling und ich),  wobei er als Fachmann zu Afrika und Fragen der Weltgesundheit viel mehr weiß, schließlich war er Arzt und hatte auch Statistik studiert. Viele Jahr seines Lebens arbeitete er in Afrika, war Berater für die Weltgesundheitsorganisation, hatte eine Professur in Schweden und mit Bill Gates hat er sich wohl auch angefreundet. Also Fachmann , Gutmensch und Schlaumeier! In seinem Buch Factfulness (posthum erschienen 2018, denn er starb mit nur 69 Jahren an Krebs) will er einerseits eine Anleitung geben, wie wir unter all den tendenziösen, medial überhöhten und veralteten  Horrormeldungen eine realistische Einschätzung der Lage gewinnen können und andererseits ist sein Buch auch ein Überblick über die „medizinische“ und allgemeine Entwicklung der Welt, angereichert mit Anektoden seines bewegten Lebens. Wenn ich sage „medizinische“ Entwicklung der Welt, dann meint das nicht die Forschung an High-tech-Medizin, die der reichsten Milliarde Menschen zur Verfügung steht, sondern es meint den Prozess, wie die Verfügbarkeit von sauberen Wasser, Information und medizinischer Basisdienste das Leben der restlichen sechs Milliarden Menschen verbessern. Und er berichtet auch viel über die wirklich arme Milliarde, zu der wohl auch ein Teil  der Landbevölkerung im Süden Madagaskars gehört. Diejenigen, die im Fall einer Krankheit ein Jahr lang warten und bangen müssen, ob das Freiwilligenteam aus Deutschland tatsächlich kommt und hilft.

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Schulspeisung in einer von Spendern unterstützten Schule: Links wird der Reis gekocht, rechts verteilt, dazu gabs dann noch ein paar Bohnen. Aber dieses bescheidene Essen bekommen auch die armen Schüler, die nicht bezahlen können.

Das erfreuliche, von dem Hans Rosling berichtet, ist: Es hat sich tatsächlich ganz viel getan in den letzten Jahrzehnten, aber kaum jemand hat´s bemerkt, weil alle nur wie das Kaninchen auf die Schlange starren, bzw. auf die bedeutungsschwangere Visage von Klaus Kleber und anderen Anchormänner, die uns in einer Tour von Katastrophen und Krisen erzählen,  aber nicht von den vielen kleinen Fortschritten, die in ihrer Summe längst das alte Rollenklischee der Industrie- und „Entwicklungs“-Länder hinfällig gemacht haben.

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Auch in armen Ländern gehen inzwischen fast alle Jungs und Mädchen in die Schule, weltweit!

Rosling beginnt sein Buch mit einem Multiple Choice-Test, mit dem er das Wissen seiner Leser zu testen vorgibt, aber eigentlich führt er sie aufs Glatteis. Diesen Test macht er wohl im Rahmen seiner Vorträge schon seit Jahren auf allen Kontinenten und auch bei hochgebildetem Publikum liegen die Antworten sehr falsch. Die Fragen sind durchweg so konstruiert, dass nur wirkliche Fachleute des Weltgesundheitswesens und der Entwicklungspolitik die konkreten Fakten parat haben. Also muss man sich die Antwort aus dem vagen Allgemeinwissen zusammenreimen und dieses Allgemeinwissen wurde bei vielen in den  sechziger oder siebziger Jahren geprägt, als Fortschritt und Technologie noch sehr punktuell auf der Welt verteilt waren. Die richtigen Antworten sind immer (mit einer Ausnahme) die positivsten. (z.B.: Wie viele einjährige Kinder sind weltweit geimpft? 20%, 50% oder 80% und 80% ist richtig). Da wir durch die Medien auf Bad News geeicht und von den anderen Multiple Choice Tests darauf konditioniert sind, dass die richtige Antwort mal im oberen und mal im unteren Bereich des Entscheidungsbereiches liegt,  (das gibt es nämlich nur im Werbe-Gewinnspiel, dass immer die gleiche Tendenz der Antwort die richtige ist), erreicht die Mehrheit der Menschheit beim Hans-Rosling-Weltgesundheits-Fragespiel nur sehr schlechte Ergebnisse, signifikant schlechter als die statische Erfolgsquote von 33%, die man erzielen sollte, wenn man gar nicht nachdenkt, sondern alle Antworten willkürlich gibt. So wie Schimpansen, die man befragt, indem man Bananen mit den Antworten kennzeichnet und diejenige, die der Affe zuerst nimmt, einträgt. Das mit den Schimpansen ist ein total doofes Beispiel, finde ich, aber Hans Rosling strapaziert dieses Beispiel bis zum Ermüdung und da ging er mir mit seiner Schlaumeierei echt auf die Nerven. Immer wieder erzählt er von irgendwelchen Kongressen, wo er seine Fragen gestellt hätte, und auch dort seien die Menschen dümmer als die Affen gewesen. Und damit auch niemand auf die Idee kommt, er gehöre zu einer Nation, die es mit der geballten Intelligenz von Hans Rosling aufnehmen könne, sind im Anhang tatsächlich zu jeder Frage Balkendiagramme, die zeigen, wie diese Frage in 13 unterschiedlichen Ländern beantwortet wurden. Es versteht sich von selbst, dass die meisten Länder der Welt schlechter abschnitten als Affen und niemand so schlau (und so optimistisch) ist, wie Hans Rosling selbst. Aber wenn man die Ausführungen zur Affen- und Menschheitsintelligenz überstanden hat, bietet das Buch einerseits erstaunliche und erfreuliche Einsichten, andererseits einfache Anleitungen, wie man im Fakten- und Meinungsdurcheinander zurechtkommen kann. Es wäre schön, wenn die vermeintlich gebildete mitteleuropäische Menschheit Roslings Erklärungen, wie Statistiken zu interpretieren sind, nicht brauchen würde, denn eigentlich ist das nur angewandter, gesunder Menschenverstand und mathematisches Schulwissen, aber daran hapert es leider oft genug und so wie Rosling es zusammenfast und erläutert, ist es unterhaltsam und hilfreich zum Verständnis und zur Bewertung der Welt.

Autokauf
Diese starken Männer haben sich schon eine Auto gekauft, aber sie müssen es noch zusammenbauen, bevor sie fahren können

Natürlich ist es auch erfrischend, wenn jemand mal zusammenträgt, wo die Menschheit sehr erfreuliche Fortschritte erreicht hat, welche gigantischen Umwälzungen die Welt gerade erfährt, und dass da auch viel tolles passiert. Ich als Pessimist und Bedenkenträger vermisste über die langanhaltenden Erfolgsmeldungen zum Gesundheitswesen hinweg die kritischen Worte zum Problemfeld des Klimawandels, aber das spart sich Rosling für die letzten Abschnitte seines Buches auf und geht nicht allzu tief darauf ein, schließlich muss er da seine positive Grundstimmung etwas zurücknehmen. Einer weiteren seiner Kernaussagen, wird man vielleicht nicht uneingeschränkt zustimmen, aber man muss sie auf jeden Fall zu Kenntnis nehmen. Er stellt die These auf, dass die Menschen dieser Welt nicht entsprechend ihren Kultur und ihrer Tradition sortiert sind, sondern entsprechend ihrer Einkommensverhältnisse.
Geburtenrate, Familienverhältnisse, Wohnzimmerschrank und Mobilität werden nicht vom Papst, dem Iman oder Thilo Sarrazin vorgeschrieben, sondern durch den Kontostand geprägt. Klar geht der eine in die Kirche und der andere in die Moschee, aber ist das ein Kriterium? Ist das Konsumverhalten nicht viel relevanter?

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In dem Häuschen links wird die Wäsche von Hand gewaschen, auf dem Land machen es die Frauen im Bach. Aber nicht mehr lange, dann kommt die Waschmaschine, sagt Hans Rosling

Hier und in vielem anderen stimme ich Hans Rosling zu, zumal ich mir auch schon vor der Lektüre seines Buches oft gewünscht habe, dass wir mehr mit guten statistische Fakten versorgt werden. Die Medien berichten in der Regel über Einzelschicksale (darauf sind Journalisten getrimmt), aber oft sind diese gar nicht aussagekräftig und können alles Mögliche belegen, sowohl den Durchschnitt, als auch Extremfälle. Und ich stehe dann immer noch in Fort Dauphin und rätsle herum, welches Haus ich fotografieren soll, um zuhause zu zeigen, wie es den Menschen hier geht. Vielleicht fotografiere ich einfach alles?

Kreuzung
Zwei Seiten der gleichen Straßenkreuzung mit starken Wohlstandsgefälle
HuettenPalaeste
Gepflegte Innenstadt-Hüttenidylle mit postmodernem Bürogebäude: Konsens, Fortschritt oder Widerspruch?

Unseren Film findet Ihr unter Freunde in Manambaro und auf dem Reiseblog meines Begleiters Frank Paul gibt es dann wirklich noch sehr viele, schöne Bilder:  http://madagaskar.ants-and-butterflies.de/

1 Anmerkung zu “Videofuzzis weltweit unterwegs: Madagaskar!

  1. Anonymous

    Der Crux Of The Biscuit schon erstaunlich nahe und das bereits nach Deinem ersten Einsatz. Selten so geschmunzelt. Wie geht es weiter?

    Dr. med. Frankenstein

    Antworten

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