Medialismus, Teil 3 (16mm)

18

Der Winter kam und das Leben wurde anstrengender. Mit dem Fahrrad zwischen Stadt, Bahnhof und Dorf hin und her zu fahren machte bei Kälte keinen Spaß und wenn ich dann nach Hause kam, war es ungemütlich, weil unser Gehöft nur in der guten Stube und in der Küche ordentlich zu beheizen war. Obwohl die Arbeit den Reiz des Neuen inzwischen verloren hatte, empfand ich es als spannende Herausforderung, die reale Welt mit der Kamera so einzufangen, dass ich dies als ästhetische Aufwertung sah. Also, vereinfacht gesagt: Wenn meine Bilder schöner waren, als die Realität, dann war ich zufrieden. Das ist Jahrzehnte später immer noch die gleiche Problemstellung und es bleibt eine anspruchsvolle Aufgabe, an der man sich beweisen kann und die mich immer noch beschäftigt. Aber zum Glück nicht in der Fließbandarbeitsweise wie damals beim Lokalfernsehen, wo ein Termin den nächsten jagte. Wo die Mitarbeiter ständig wechselten. Wo man es kaum schaffte, eine private Verabredung einzuhalten, weil so oft unerwartete Termine dazwischenkamen.

In unserer Scheune war immer noch kein Kulturzentrum entstanden, aber ein notdürftig eingerichteter Proberaum, in dem Gitarren-Hans mit Tina und einigen anderen Musikern eifrig übte. Die Akustikgitarre hatte Hans an den sprichwörtlichen Nagel gehängt, er sang jetzt in Englisch und Tinas Brumm-Synthie passte nicht so richtig zum restlichen Sound. Da gab es dann immer wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden, was aber bestimmt nicht nur am Sound lag, sondern vermutlich an der ungeklärten Hierarchie, wer diesen Sound zu bestimmen habe. Wenn eine Beziehungskrise angesagt war, kam Tina abends zu mir und wir unterhielten uns über die Welt und andere Banalitäten. Wenn es hingegen gut mit den beiden lief, sah ich sie oft tagelang gar nicht. Als es im Januar und Februar noch kälter wurde, wollte niemand mehr in der Scheune proben, und Tina blieb oft mehrere Tage lang in der Wohnung von Gitarren-Hans. In der Szenekneipe lies ich mich mit beginnendem Frühling nicht mehr blicken, weil die blonde Bedienung die Nase voll von meiner Unverbindlichkeit hatte. Sie fragte mich an einem Abend ganz unerwartet, was ich von ihr will und weil mir keine romantische Antwort einfiel, schwieg ich. Daraufhin holte sie sich ihre Zahnbürste aus dem Bad und ging. Vielleicht schlief sie jetzt mit einem anderen oder verzichtete erst einmal auf Sex. Ich verbrachte also viele Abende allein in unserem Gehöft.

Wenn ich mich an die Schreibmaschine setzte, um etwas Geistreiches oder Konzeptionelles zu schreiben, fielen mir meist nur unzusammenhängende Kleinigkeiten ein, es fehlte entweder an Konzentration oder an Inspiration. Darum zeichnete ich viel, zeichnete Blatt für Blatt eines kritzeligen Animationsfilmes. Das war nach der anstrengenden Arbeit beim Lokalfernsehen eine gute Entspannung. Beim Zeichnen musste ich ab und zu eine neue Szene entwerfen, das war der anstrengende Teil, aber danach vergingen etliche Stunden oder Tage mit der routinehaften Ausarbeitung. Ich zeichnete mit Füller und verwendete Schreibmaschinendurchschlagpapier, das damals noch überall billig zu haben war. Weil das Papier so dünn war, wuchs der Stapel mit den fertigen Bildern sehr langsam.

Nebenbei hatte es geklappt, einige Filmabende mit Lesung zu organisieren, also eine Mischung aus meinen Filmen und Texten. Die Idee dazu war mir gekommen, weil mir der „Falsche Film“ fehlte. Das Filmprogramm mit denjenigen Filmen, die mir gefielen und gut zusammenpassten, war zu kurz. Dann stellte sich heraus, dass meine Kurzgeschichte, die sich mit dem unrühmlichen Ende des Filmes beschäftigte und die Auszüge aus dem Drehbuch, die ich vortrug, viel besser beim Publikum ankamen als der Film selbst.

Durch Zufälle ergab es sich, dass ein Kontakt nach Berlin zustande kam, genau zu jenem Hinterhofkinoprogrammdirektor, der in Martins Anwesenheit den Verlust des falschen Filmes mit Krokodilstränen beweint hatte. Ich lernte seine Schwester bei einer meiner Lesungen mit Filmvorführung in Süddeutschland kennen. Wir unterhielten uns nach meinem Programm angeregt über meine, und dann über die damals angesagten intellektuellen Filme, die ich zum größten Teil nicht gesehen hatte, über die ich aber trotzdem genügend wusste, um mitreden zu können. Schließlich versuchte ich das Gespräch so zu lenken, dass sie mir ihre Telefonnummer geben würde, aber dann erwähnte sie das Hinterhofkino ihres Bruders in Berlin und letztendlich kam ich in beiderlei Hinsicht voran: mit ihr traf ich mich danach immer wieder in unserem ambitionierten Kleinstadtkino und gleichzeitig vermittelte sie mir den Kontakt zu ihrem Bruder, was bewirkte, dass wir einen Filmabend an einem Samstag im Sommer organsierten. Als der Termin festgelegt war, ging ich gleich zum Chef und sagte, dass ich an dem Wochenende auf keinem Fall arbeiten könne, irgendwann muss man auch mal Urlaub haben. Er nickte nur und tat so, als würden wir doch sowieso frei über unsere Zeit verfügen. Inzwischen war ich seit fast einem Jahr dabei, hatte noch eine zweite Lohnerhöhung bekommen und gehörte wegen der hohen Fluktuation tatsächlich schon zum angestammten Personal.

Diesmal wollte ich mit dem Zug nach Berlin fahren, denn die Autobahnstrecke durch die neuen Bundesländer entwickelte sich gerade zur Endlosbaustelle und Trampen verlor zunehmend an Sozialprestige, was mich nicht weiter gestört hätte, aber da ich gleich am Freitag nach der Arbeit los wollte, bot es sich an, mit dem Bummelzug zu starten und dann in einen Nachtzug umzusteigen, der von München nach Berlin fuhr. Damals gab es in den sogenannten D-Zügen sechssitzige Abteile, die man zu einer großen Liegewiese zusammenschieben und dann die Vorhänge zuziehen konnte. Wenn man eines der Abteile ergattert hatte, war das Reisen sehr komfortabel. Aber zunächst standen Tina und ich ratlos im Flur. Wir zogen einige Türen auf, aber in jedem Abteil kauerten entweder südeuropäisch wirkende Großfamilien oder bunt zusammengewürfelte Reisegruppen. Platz gab es für uns anscheinend keinen. Schließlich setzten wir uns in den Flur auf die Klappsitze und rauchten erst einmal.

Tina Entschluss, mich zu begleiten, war schnell und spontan gefasst worden. Am Mittwoch hatte sie mich gefragt, was ich am Wochenende tun wolle, am Donnerstag sagte sie mir, dass sie mitkomme. Sie werde bei einer alten Freundin übernachten und gemeinsam mit der Freundin wolle sie zu meiner Filmvorführung kommen, da sie nur ein paar Straßenecken entfernt vom Hinterhofkino wohne und selbst auch einen Film zu drehen beabsichtige. Dann soll sie es versuchen, sagte ich mit leichter Boshaftigkeit. Womöglich war es eine von denen, die glaubten, sie müssten die Kamera nur in die Hand nehmen und könnten dann alles besser. Nein, das würde ihre alte Freundin bestimmt nicht denken, sie wisse ja nicht mal, wie die Kamera funktioniere, und Tina solle mich mitbringen, weil sie erstmal herausbekommen müsse, was da für Filme rein gehörten. Oh Gott, die weiß also gar nichts, da muss sie sehr hübsch oder sehr nett sein, damit ich sie in die Geheimnisse des filmischen Filmens einweihe. Das ist sie, beteuerte Tina, ohne auf meine Provokation einzugehen, und sie, Tina, würde dann ja Kamera führen, wenn ich herausgefunden hätte, was für ein Format es sei. Aha, und wann soll das alles stattfinden, vor allem wo, und mit wem?

Mal sehen, sagte Tina, dann musste sie aufstehen, ein schlaksiger junger Kerl mit wirren Locken und einem riesigen Rucksack wollte an uns vorbei. Hinter ihm seine kleine Freundin, die den größeren ihrer beiden Rucksäcke auf dem Rücken und den kleineren vor dem Bauch trug, außerdem noch eine Jutetasche in der Hand. Obwohl sie kaum durch den engen Gang passte, schaffte sie es dann doch, sich an uns vorbeizuquetschen. Tina wollte sich schon wieder auf den Klappsitz fallen lassen, aber erst einmal mussten wir prüfen, wo die beiden herkamen. In der Tat stellte sich heraus, dass sie ein ganzes Abteil für sich alleine gehabt hatten, alle Sitze zusammengeschoben, die Gardinen zugezogen. Wir sprangen schnell rein. Als der Zug am Bahnhof hielt, lagen wir unter unseren Schlafsäcken und taten so, als seien wir schon seit Stunden im Tiefschlaf. Es stiegen nur wenige Reisende ein, niemand interessierte sich für unser Abteil und so blieben wir allein.

Wir hätten die besten Bedingungen gehabt, gut zu schlafen, ohne Aufpreis und ohne Reservierung, aber wir taten es nicht, stattdessen beschwerte sich Tina darüber, dass unser Leben auf dem Land langweilig sei, dass sie keine Lust mehr hätte, an der Theke meiner ehemaligen Lieblingskneipe zu stehen und den völlig verblödeten Trinkern, die dort allabendlich herumlungerten, ihre traurigen Dorfalltagsneurosen zu therapieren, dass ihr auch Gitarren-Hans eigentlich am Arsch vorbeiginge. Seine selbstgefällige Weltverbesserungsinszenierung diene nur seinem auf Dur und Moll getrimmten Ego, aber sie würde sich ja immer in die falschen Typen verlieben, die falschen Freunde haben, Freunde, die entweder teilnahmslos und antriebsschwach wären, oder angepasste Spießer und eigentlich sei ich es doch gewesen, auf den sie immer ihre Hoffnung gesetzt hätte, ich und meine Filme, da wäre doch so viel Wahrheit drin gewesen, in den Dialogen, wenn man genau hinhöre und sie verstehe. Vieles sei ja einfach nur Unfug und witzig, aber sie habe die Filme schon so oft gesehen, sie wisse, dass da mehr drinstecke als eine billige Aneinanderreihung von Gags, das sei nicht nur Komikerhandwerk, wie es die Unterhaltungs- und Fernsehbranche tagtäglich ausspucke. Die Filmemacher, die Filme fürs Fernsehen oder fürs Kino machten, seien ja, mit wenigen Ausnahmen, nur Handwerker, die ihr Handwerk dazu benutzten, den emotionalen Gaumen der Zuschauer im richtigen Rhythmus zu kitzeln, eine Prise Humor, ein bisschen Gesellschaftskritik und ein fetter Batzen Spannung, oder, noch schlimmer, „Action“, das sei doch alles nur eine industrielle Instrumentalisierung unserer Gefühle, um uns dann ein Happy End überzustülpen wie wärmende Filzpantoffeln.

Sie habe es so sehr genossen, als Martin in der „Rückbesinnung“ den schönen Satz: „Was ich nicht bemerke, gibt es nicht.“ gesagt habe. Das werde mich vielleicht wundern, dass gerade dieser Satz solch eine Wirkung auf sie gehabt habe, aber es sei nicht der einzige gewesen, viele Sätze in meinen Filmen schienen ihr wie eine Öffnung aus der Scheinwelt, in der wir behütet und ruhiggestellt vor uns hinlebten, hinein in eine andere Welt, die eine Essenz dessen sei, was wir fühlten, was wir liebten, was uns in den Wahnsinn treibe, diese Gefühlsverwirrung, die wir für das einzig Erstrebenswerte hielten. Lieber ein vergeblicher kreativer Kampf, als diese Konsumendlosschleife, in die wir langsam aber sicher hineindriften, unauffällig aber ungebremst. Wir müssen die Reißleine ziehen! Wie soll denn das gehen, das ist doch völlig irreal, das ist doch esoterisch, warf ich ein, doch sie war nicht zu bremsen, das muss gehen, mit echter Emotionalität! Das muss es gar nicht! Sie widersprach hartnäckig. Sie glaube nicht, dass ich nicht daran glauben würde. Oder hast du schon alles vergessen? Was sollte ich vergessen haben? Ich wusste es nicht, ich wusste gar nicht, was ich glaubte, und was nicht. Aber Tina brach die Diskussion ab, drückte ihren Körper an meinen und küsste mich.

Unsere Zungen umschlangen sich, als könnten sie die mangelnde Übereinstimmung unserer Gedanken wieder wettmachen, die Hände schoben sich unter die Unterhemden, in die Unterhosen. Tina hatte einen unvorstellbar sanften Hintern, der sich fantastisch anfühlte. Sie küsste mich immer noch leidenschaftlich und ich dachte mir, dass wir jetzt miteinander schlafen müssten, denn es könnte sein, dass sich nie wieder im ganzen Leben die Gelegenheit bieten würde, im Zug Sex zu haben und alle davorliegenden Gelegenheiten, es waren ganz wenige, hatte ich ungenutzt verstreichen lassen. Das dachte ich damals, obwohl ich gar nicht wissen konnte, dass sich der Schienenverkehr immer mehr zu individualisiertem Reisen in Großraumabteilen entwickeln würde, wo alle nur noch in ihre mitgebrachten Laptops und Tablets hineinschauen. Was Tina dachte und wollte, versuchte ich zu verstehen, doch ich kam zu keinem Ergebnis. War es Sehnsucht? Ihre Sehnsucht, der bösen Realitätswelt zu entkommen, die sie in meine Arme trieb? Waren es meine Vorurteile und mein mangelndes Einfühlungsvermögen, die mir die Vermutung nahelegten, Tina beginge gerade den fatalen Fehler, dass sie Liebe als Handlungsoption sah, um der schlechten Welt zu entkommen und dann, wiederum falsch, Sex mit Liebe gleichsetzte? Auch die Liebenden bleiben in der schlechten Welt drin, müssen drinbleiben, es gibt kein Entkommen. Vielleicht leiden sie sogar noch mehr? Aber das waren nur wirre Gedankenfetzen, während ich zur Kenntnis nahm, dass sich nun tatsächlich Sex im Zug anbahnte, der dann etwas fahrig, aber weitgehend ruhig vollzogen wurde. Als sich der Zug verlangsamte und verdächtig viele Lichter vor dem Fenster vorbeihuschten, zog ich mir meine Unterhose wieder an. Das musste mal sein, sagte Tina, und ich rätselte: Musste es mal mit mir oder musste es mal im Zug sein?

19

Weil unser Zug früh um sieben ankam, und ich Martin, den notorischen Langschläfer nicht wecken wollte, begleitete ich Tina zu ihrer „alten“ Freundin, die auffallend klein und ein paar Jahre jünger war als wir. Sie hieß ebenfalls Tina. Die beiden kannten sich aus irgendeinem gemeinsamen Urlaub und durch die danach geführte Brieffreundschaft. Die kleine Tina öffnete uns die Tür mit betont müdem Blick, bekleidet nur mit einem riesigen Schlaf-T-Shirt. Gleich beim Kaffeetrinken kamen wir auf die Kamera zu sprechen. Die kleine Tina verschwand kurz in ihrem Zimmer. Als sie zurückkam, brachte sie eine Ledertasche mit, die unten flach, aber oben halbkreisförmig abgerundet war und ausgesprochen elegant aussah. Jetzt hatte sie sich eine schwarze Strumpfhose angezogen, im Schneidersitz saß sie auf dem Stuhl, die Tasche auf ihrem Schoß. Sie gehörte zu den Frauen, die in der Küche nicht auf dem Stuhl sitzen, sondern kauern, also immer mindestens ein Bein auf der Sitzfläche ablegen, aber meistens beide.

Sie öffnete die Tasche mit einem breiten Grinsen, das uns auf die Überraschung vorbereiten sollte und sagte, was sie gerade tat. Also: Ich öffne jetzt die geheimnisvolle Ledertasche. Ihr könnt aber nichts sehen, denn die geheimnisvolle Kamera ist in einem schwarzen, samtenen Tuch eingeschlagen. Dann holte sie die eingeschlagene Kamera heraus und faltete feierlich das Tuch zurück, immer noch mit Erklärungen wie im Kindertheater. Dann hob sie die letzte Ecke des Tuches und vor uns blitzte eine Beaulieu-Kamera im Licht der Küchenlampe. Die Kamera sah so funkelniegelnagelneu aus, dass die große Tina und ich wirklich staunten, zumal das fremdartige, französische 60er-Jahre-Design den totalen Gegensatz zu meinen beiden eckigen Super-8-Kameras, aber auch zu allen anderen Geräten und Dingen darstellte.

Darf ich? fragte ich nach einer angemessenen Bewunderungspause, streckte die Hand aus, nahm ihr die Kamera ab. Sie war ganz schön schwer. Das bestätigte meinen Verdacht. Und was muss da nun rein? Normal oder Super? Nichts von beiden! Noch zweifelte ich an meiner Vermutung, weil ich mich mit den französischen Kameras nicht auskannte, aber dann öffnete ich vorsichtig den Deckel und sah die Spule und die Perforationsgreifer vor mir. Das war weder Super- noch Normal-8, sondern eine 16-mm-Kamera. Beim genauem Hinsehen konnte man ja auch lesen, dass die mit elegant geschwungenen Plastikbuchstaben angebrachte Bezeichnung der Kamera Beaulieu 16R hieß.

Was bedeutet das? fragte Tina etwas verzagt, offensichtlich eingeschüchtert von meinem bedeutungsschwangeren Tonfall. Ist das gut oder schlecht? Sie zog beide Knie vor die Brust, zündete eine Zigarette an, ihr Blick pendelte zwischen mir und der Kamera hin- und her. Das ist toll! sagte ich, da kann man eine viel bessere Qualität erzielen als mit Super-8. Dabei betastete ich die schönen, blitzenden Transporträder des Kameralaufwerkes. Tinas Großonkel, aus dessen Nachlass die Kamera stammte, hatte sie offensichtlich so gut wie nie benutzt. Die simple, aber präzise Mechanik versetzte mich in Euphorie, zumal ich mich an den schmerzlichen Totalverlust meines falschen Filmes erinnerte. Super-8-Material ist Umkehrfilm, so wie eine Dia, erklärte ich. Wobei die Bezeichnung Umkehrfilm irreführend ist, denn im Umkehrfilm ist nichts umgekehrt, sondern alles ist richtig herum, umgekehrt wird nur das Negativ. Die kleine Tina stülpte ihr T-Shirt über die Beine und zog die Arme durch die Ärmel an den Körper, so dass sie unter ihrem großen Schlaf-T-Shirt wie unter eine Plane versteckt war. Ich überlegte, wie ich meine Erklärungen beginnen sollte, damit die beiden Tinas verstehen könnten, worauf ich hinauswollte. Deshalb versuchte ich es nochmal ganz langsam: Wenn man einen sogenannten „normalen“ Film entwickelt, dann erhält man das Negativ und das Negativ ist der Film, der tatsächlich in der Kamera drin war. Von diesem Negativ macht man Abzüge, die wiederum negativ zum Negativ sind, also positiv. Beide Tinas nickten. Beim sogenannten Umkehrfilm wird ein anderer chemischer Entwicklungsprozess angewandt, der das Material, das in der Kamera war, direkt zum Positiv entwickelt. Der Super-8-Film, der zunächst in der Kamera belichtet wird ist derselbe, der später im Projektor an die Wand geworfen wird. Ein Unikat, und deshalb hat man gar nichts mehr, wenn der Film verlorengegangen ist, nur die Erinnerung.

Für die kleine Tina erzählte ich ausführlich die Geschichte von Martin, dem die Tüte mit meinem falschen Film in Berlin verlorengegangen war, wobei Martin vermutlich sogar direkt vor Tinas Haus vorbeigekommen sein musste, da sich das Hinterhofkino nur ein paar Blocks weiter befand und natürlich, so erzählte die kleine Tina, schaue sie dort immer wieder absonderliche Filme, die sonst nirgendwo zu sehen seien. Mit betroffenem Gesicht hörte sie sich an, dass mein Film rückstandslos für immer verschwunden sei. Dann stand sie auf, nahm sich die Strickjacke aus dicker Wolle vom Haken an der Küchentür, zog sie an und verschwand fast darin. Ich blickte wieder auf die 16-mm-Kamera, die ich immer noch geöffnet auf den Oberschenkeln liegen hatte, spielte mit dem kleinen Türchen für die Bildfensterabdeckung, zeigte den beiden Frauen diesen Mechanismus, was sie in Staunen versetzte und die Stimmlage meiner Erklärungen wurde wieder euphorisch. Mit 16 mm wäre der Totalverlust nicht passiert! Zwar gibt es auch 16mm-Umkehrfilme, aber die werden selten benutzt. Als Filmemacher dreht man auf Negativfilm. Der fertige Film, der vorgeführt wird, ist dann nur ein Abzug des geschnittenen Negativs und wenn er verlorengeht, dann zieht man eine neue Kopie in der gleichen, hohen Qualität. Je länger ich redete und gleichzeitig mit spitzen Fingern die Mechanik der Kamera befühlte, die verschiedenen Knöpfe und Regler untersuchte, desto mehr reizte es mich, mit dieser Kamera zu arbeiten und Schluss zu machen mit dem popeligen Herumgefingere an diesen winzigen Super-8-Bilderchen.

Schon als ich die Projektion mit der 16-mm-Filmschleife im Hof vorbereitet hatte, faszinierte mich, dass die einzelnen Bilder bei 16 mm groß genug waren, um sie mit dem bloßen Auge gut zu erkennen, während das Hantieren mit Super-8 immer etwas Grenzwertiges hatte, das Gefühl vermittelte, mit einer Notlösung, mit einer Minimalanforderungstechnologie zu arbeiten. Der Projektor auf unserem Gehöft war eine alte, verstaubte Kiste gewesen, als wir ihn fanden. Trotzdem hatte es mich begeistert, das Surren des Motors und das Klackern der Mechanik zu hören. Aber die blitzende Kamera, die ich jetzt in der Hand hielt, faszinierte mich noch viel mehr.

Rückblickend muss ich sagen, dass ich die beiden Tinas im Überschwang auf geradezu unverschämte Weise zutextete und das nicht einmal uneigennützig. Der gesamte Produktionsprozess in 16 mm sei aufwändig, begann ich meine Erläuterungen, denn vom Negativmaterial werde eine sogenannte Arbeitskopie gezogen, das sei eine billige Kopie ohne Helligkeits- oder Lichtkorrektur, die Arbeitskopie sei für den Cutter, an ihr werde rumgeschnitten, und zwar nicht nur weggeschnitten wie bei Super-8, da könne man dann auch wieder was hinschneiden und einen schlechten Schnitt rückgängig machen, was bei Super-8 de facto nicht gehe, aber eine riesige Unzulänglichkeit sei. Habe man dann die Arbeitskopie zu einer Sequenz zusammengeschnitten, die der eigenen Vorstellung vom Film entspreche, dann werde das Negativ von Spezialisten im Kopierwerk genauso geschnitten, wie es die Arbeitskopie vorgebe. Von dem geschnittenen Negativ könne man eine Kopie ziehen, die aus einem Stück bestehe. Wenn genug Budget vorhanden sei, mit Farbkorrektur. Farbkorrektur bedeute, dass im Kopierprozess vom Negativ zur Vorführkopie Farbfolien eingeschoben würden, die die Farbigkeit veränderten, also könne man zum Beispiel das Bild wärmer machen, womit man ein eher rötliches Bild meine, oder kälter, das bedeute bläulich. Auch die Helligkeit des Bildes sei bei der Kopie beeinflussbar. Negativmaterial sei sehr tolerant und habe viele Reserven, was die Belichtung angehe, sagte ich mit Begeisterung, obwohl ich es zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht ausprobiert hatte, sondern nur aus Büchern kannte.

Trotzdem steigerte ich mich in eine redselige Techniklobpreisung hinein, während die kleine Tina feststellte, dass sie sich wohl verkühlt hatte und ein Tuch um ihren Hals wickelte. Dann schnäuzte sie sich und fragte, wo sie denn nun so einen Film kaufen könne und wo sie dann damit hingehen müsse, wenn sie diesen Negativschnitt und die Farbkorrektur und all das, was ich da eben erzählt hätte, haben wolle. Und was das dann koste. Während ich großspurig eine umfangreiche Kalkulation für einen Zehnminüter runterspulte, bei dem sich etliche Kostenpunkte im dreistelligen Bereich bewegten, da verschwand die kleine Tina endgültig in ihrer großen Strickjacke und machte sich nur durch gelegentliches Schnäuzen ins Papiertaschentuch bemerkbar.

Ich kam dann auf eine Endsumme von über tausend DM, reine Materialkosten, betonte immer wieder, dass das sehr knapp kalkuliert sei, aber vermutlich hörte Tina gar nicht mehr richtig zu. Schließlich fragte sie, wo an der Kamera eigentlich das Mikro sei. Da konnte ich nochmal mit meinem Fachwissen aufdrehen: Mikro? Das gebe es da nicht, das sei doch bekannt, dass chemische Filmaufzeichnungsverfahren „stumm“ seien, wie die Fachleute sagen. Für den Ton sei eine völlig separate Aufzeichnung notwendig, aber da diese äußerst schöne Beaulieu den großen Vorteil habe, dass die Bildgeschwindigkeit stufenlos sei, was sowohl Zeitraffer als auch Zeitlupe ermöglichen würde, sei sie leider nicht „gequarzt“ und Filmaufnahmen, die von Kameras mit ungequartzem Motor stammten, könne man ja gar nicht ordentlich mit dem Liveton synchronisieren. Was den Ton anginge, stünde man mit der Beaulieu 16R genauso schlecht da wie beim Super-8-Film, man müsse alles komplett nachvertonen.

Während mir selbst klar wurde, dass ich in unmittelbarer Zukunft unbedingt auf 16 mm drehen musste und zwar genau mit dieser Kamera, war für die kleine Tina der Traum vom eigenen Film mit der eigenen Kamera erst einmal geplatzt. Ich gab ihr noch einen kleinen Abriss, wie teuer das gleiche Filmprojekt in Super-8 sein würde. Auch da staunte sie, aber natürlich konnte sie es sich eher vorstellen, zweihundert Mark auszugeben als eineinhalbtausend. Sie gab sogar zu, dass sie eineinhalbtausend Mark bereit liegen habe, weil sie nach Indien fliegen wolle, für vier Wochen, und wenn sie wählen müsse zwischen Indien und einem zehnminütigen Film, da sei doch alles klar, da gäbe es keine Zweifel, da fliege sie nach Indien. Ich nicht, sagte ich!

Nachdem sie sich eine weitere Packung Papiertaschentücher geholt hatte, traute ich mich, die gewagte Frage zu stellen: Ob sie nicht einfach die Kamera mit mir tauschen wolle, ich gäbe ihr eine von meinen Super-8-Kameras, lege noch einen Stapel Filmkassetten dazu, genug, um das Projekt durchzuziehen und ich bekomme die Beaulieu. Wobei ich noch testen müsse, ob die Beaulieu wirklich funktioniere. Auch wenn sie funkele, sei nicht klar, ob Motor und Akkus noch in Schuss seien. Die große Tina schaute mich skeptisch von der Seite an, während die kleine Tina zu glauben schien, was ich ihr eingeredet hatte: dass meine alte, praktische Super-8-Kamera genau das richtige Rettungsboot sei, mit dem sie ihre ambitionierten Nachwuchsfilmemacherinnenpläne ins Trockene bringen konnte. Außerdem kennt sich Tina mit meiner Kamera aus, sagte ich, und das bestätigte die große Tina, so dass die kleine Tina weich wurde und einwilligte. Ich gratulierte ihr herzlich zu dieser Entscheidung und sang noch ein kurzes Loblied auf Super-8. Inzwischen war der Vormittag fast vorbei.

Ich hängte mir die elegante Kameratasche mit ihrem wertvollen Inhalt über die Schulter, bedankte mich bei der kleinen und umarmte die große Tina, dann ging ich nach draußen, wo ein paar schräge Kreuzberger Gestalten meinen Weg kreuzten. Dann eine türkische Familie. Und zwei Frauen über 30, mit asymmetrischen Frisuren, die typischen schwarzen Klamotten, schick, aber nicht sexy, die sahen aus, als ob sie im Kreativbereich arbeiteten würden. Vielleicht wussten sie, was es bedeutet, eine 16-mm-Kamera in der Tasche bei sich zu tragen. Hoffte ich im Stillen, während ich durch die Straße lief und dabei darüber nachdachte, wieso man mich, speziell mich, toll finden könnte. Meine Phantasie lieferte zu diesem Thema viele sehr exotische Lösungen. So eine Kamera war, verglichen mit dem, was mir sonst einfiel, eine geradezu realistische Erklärungsoption für meine genialische Besonderheit.

Da ich sowieso nur noch eine Häuserecke vom Hinterhofkino entfernt war, ging ich hin. Wie erhofft, war der Hinterhofprogrammdirektor gerade da, er musste putzen und aufräumen. Ich stellte mich vor und band ihm sofort auf die Nase, dass ich gerade ein Schnäppchen gemacht hatte. Ihn konnte ich mit der Kamera richtig beeindrucken. Auch er befühlte die blitzende Mechanik der Transportrollen und des Bildfenstertürchens. Aus dem Nachlass des Großonkels der Freundin einer Freundin, sagte ich. Verschwieg, dass ich die Kamera der Besitzerin abgeschwatzt hatte. Dann tranken wir Kaffee und redeten über den bevorstehenden Abend. Telefonisch wollte ich Martin meine Ankunft anmelden, der aber beschloss, direkt ins Kino zu kommen, da er in der Nähe zu tun habe.

Während ich mit dem Hinterhofkinoprogrammdirektor das Kino für den Abend vorbereitete, was letztendlich nur darin bestand, dass wir einen Tisch mit Leselampe vor die Leinwand rückten, kam auch schon Achim an. Er begrüßte mich, wie ich es nicht anders erwartet hätte, überschwänglich und mit dick aufgetragenem übertriebenem Lob. Der wichtigste Filmemacher des Untergrunds sei endlich da, wo er hingehöre, in Berlin, sagte er, machte dann aber auch gleich noch die Bemerkung, dass drüben, auf der anderen Seite der Spree, im Osten, alles viel spannender und aufregender sei als hier, wo der Subkulturbetrieb von spießig gewordenen Kriegsgewinnlern des Häuserkampfes oder verbohrten Linksideologen gerade zu Grabe getragen würde. Von der eigenen Polemik erheitert lachte Achim laut, während der Hinterhofkinoprogrammdirektor überlegte, ob er sich angegriffen fühlen sollte. Inzwischen hätten sich die Hausbesetzer in Hausbesitzer verwandelt, damals vom Sozialismus geredet und jetzt verdienten sie sich eine goldene Nase mit Seminarräumen und Computerpools, die sie für vom Arbeitsamt finanzierte Umschulungen vermieteten. Achim war gleich voll in Fahrt, aber hatte ich nicht anders erwartet. Später erfuhr ich, dass seine Wohnung auch einem Vermieter dieser Kategorie gehörte und weil Achim immer seine eigene Meinung durchsetzen zu müssen glaubte, war er mit ihm heillos zerstritten, tat aber so, als läge das ausnahmslos an den charakterlichen Defiziten des Vermieters. Die Kunst, pointiert über alles und alle herzuziehen, über das Establishment, über das alternative Establishment, über die Hochkultur und die Subkultur, über Bürokratie und Funktionäre, beherrschte Achim meisterhaft, so dass ich seine Schimpftiraden über die Berliner Verhältnisse sehr genoss, zumal er oft genug unvermittelt in maßlose Anpreisungen meiner kulturellen filmischen Leistungen wechselte.

Ich hatte einen Teil meines Gepäcks im Hinterhofkino gelassen und wir spazierten durch eine wunderbar sommerliche Stadt zur Brücke, um in die sensationelle Ruinenlandschaft des kollabierten Sozialistenterritoriums, wie Achim es bezeichnete, zu gelangen. Martin hatte Achim zu mir ins Hinterhofkino geschickt, weil er selbst gleich zu einer gerade zugänglichen Industrieruine fahren wollte. Dort sollten wir uns treffen. So krochen Achim und ich zwischen baufälligen Gemäuer herum, über ein paar kaputte Zäune, dann durch ein kaputtes Fenster in die Halle, die voller riesiger Maschinen stand. Dort machte Martin mit Stefan und zwei Blondinen in Arbeitsoveralls Videoaufnahmen. Ein Projekt für ihre Kunstakademie und ich bekam auch einen Overall, wurde auf einem rostigen Laufsteg hoch oben über den Kesseln gefilmt, wo sich außer mir keiner hoch traute. Eine erkennbare Handlung schien der Film nicht zu haben, aber er war ästhetisch sehr ambitioniert. Da in den folgenden 15 Jahren jeder Nachwuchsregisseur mindestens einen existenzialistischen Kurzfilm in einer DDR-Industrieruine drehte, kann man nicht unbedingt von einer originellen Idee sprechen, trotzdem machten uns die Dreharbeiten viel Spaß.

Dann packten wir die Technik zusammen, fuhren mit Stefans Auto wieder in den Westen, weil man ja an den Imbissbuden im Osten noch nichts Vernünftiges zu essen bekäme und letztendlich saßen wir den Rest des Nachmittags mit Falafel und Schawarma beim angeblich besten Araber der Stadt. Wir waren in super Laune und freudiger Erwartung des Abends. Ich verspürte gegenüber Martin keinerlei Ärger mehr wegen des verlorengegangenen Films, vielmehr gebrauchte ich sogar die Formulierung, dass er mich von dem falschen Film befreit habe, wofür ich ihm dankbar sein könne. Martin fand diese Antwort befremdlich, schließlich hatte ihm der Film sehr gut gefallen. Dann begeisterte ich mich an den unausgegorenen Ideen, die ich mit der 16-mm-Beaulieu-Kamera realisieren könnte. Martin und Stefan hielten mit ihren Akademieprojekten dagegen und Achim schmiss noch ein paar witzige verbale Attacken gegen das Kulturestablishment in die Runde. Schließlich waren wir alle davon überzeugt, dass unsere Aktivitäten zwangsläufig in die richtige Richtung führen würden.

20

Die beiden Blondinen, die beim Videodreh in der Maschinenhalle dabei gewesen waren, kicherten während meiner Filmvorführung ziemlich oft. Achim fiel mal wieder durch sein polterndes Lachen und Zwischenrufe auf. Die große und die kleine Tina saßen ganz vorn, so dass ich sie gut sehen konnte, aber sie hörten ehrfürchtig zu und ließen sich keine Gemütsregung anmerken. Dahinter eine Gruppe von jungen Männern, von denen ich glaubte, dass sie zu Martin und Stefan und der digitalen Akademie für digitale Künste gehörten. Dann noch einige junge Unbekannte, die gemeinsam saßen und Unbekannte, die schon viel älter waren und einzeln oder zu zweit auf die Sitzreihen verteilt waren.

Wenige Sekunden, bevor ich die Veranstaltung startete, als es im Raum schon dunkel war und ich im Schein meiner Leselampe am Tisch vor der Leinwand saß, huschte noch eine Gestalt zur Tür herein und setzte sich weit hinten hin, dort, wo ich Achim vermutete und nur wenig erkennen konnte. Es blieb bei einer Vermutung, denn es war zu dunkel, als dass ich mir hätte sicher sein können. Egal, ich musste anfangen, las meine erste Kurzgeschichte, löschte dann die Lampe. Das war für den Mann in der Vorführkabine das Signal, den ersten Film zu starten. So ging es immer abwechselnd: Ein Film, eine Geschichte, wobei sich die meisten Kurzgeschichten um Anekdoten rankten, die mit dem Filmemachen zu tun hatten. Der falsche Film wurde mehrmals thematisiert: als Konzept, dann durch Drehbuchauszüge und schließlich durch die traurige Tatsache, dass er verlorengegangen sei. Achims Zwischenrufe sorgten für zusätzliche Lacher.

Gegen Ende brach ich das starre Schema auf, es lief eine Version des Films der vergessenen Dinge, zu der ich einen tiefsinnigen, eher poetischen Text vortrug, der zunehmend in meditative Wiederholungen überging, und dazu mischte sich Tinas Stimme, die von der Tonspur des Films stammte. Schließlich sah man die nutzlosen Dinge gar nicht mehr, sondern nur noch ihre Schatten, bewegte Schatten, verzerrte Schatten, unscharfe Schatten. Es entstanden und zerfielen permanent abstrakte Muster aus schwarzen und weißen Flächen. Ich widerholte in der Schlusssequenz immer wieder den Satz: Das Ende der Dinge ist der Anfang der Gedanken und Tinas Stimme, verstärkt und unterstützt durch einen Halleffekt, sagte: Du kannst dich nicht lösen von dem, was die Welt ist, ohne zu verschwinden. Deshalb verschwinde ich! Jetzt!

Beim letzten Wort ging der Film schlagartig in schwarz über und ich löschte gleichzeitig die Taschenlampe, mit der ich meinen Textzettel spärlich beleuchtet hatte. Es war stockdunkel und still im Raum. Alle waren irritiert, ob ich fertig sei, oder ob noch etwas passieren sollte. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich die Leselampe erst einschalten würde, wenn der Applaus begann, und fast wäre ich von meinem Vorsatz abgewichen, denn die Stille erschien mir schrecklich lang, aber schließlich begann das Publikum zu klatschen und da schaltete ich das Licht an und verbeugte mich. Der Applaus war herzlich, aber nicht euphorisch. Mir schien es genug, um es als Aufforderung für eine Zugabe zu aufzufassen. Deshalb las ich eine kurze Geschichte und gab dann dem Vorführer das Zeichen, den dafür vorgesehenen Film abzuspielen, „Sulos Tod“, das Original auf Super 8, jener Film, in dem ich eine Mülltonne mit der großen Axt kaputthaue. Die erste Version, die schon zu Beginn meines Studiums entstand, lange bevor ich mich mit Videokameras beschäftigte. Als der Film startete, schlüpfte ich zwischen den Vorhängen hindurch in einen kleinen Backstageraum, von dem aus ich ins Foyer des Kinos gelangte. Sulos Tod war damals aus einer einzelnen Spule Film entstanden, also knapp drei Minuten lang. Als er zu Ende war, schaltete der Vorführer das Licht im Kino an.

Am Tresen der kleinen Bar lehnend, beobachtete ich, wie die Zuschauer herauskamen. Zuerst einer von den älteren Unbekannten, dann trat Sabine ins Foyer. Sie war der letzte Gast gewesen, also doch. Ihr lautes Lachen, an dem ich sie hätte erkennen können, bekam ich erst nach der Vorführung im Foyer zu hören, als ich ihr auf die Schnelle einige meiner Abenteuer beim Lokalfernsehen erzählte. Die Lesung habe ihr gut gefallen, meinte sie, durch die Texte sei ihr aber auch bewusstgeworden, dass die Filme ernster seinen, als ihr das zunächst schien, damals, als wir uns in unserer Universitätsstadt ausgetauscht hätten. Martin und Achim kamen mit Bierflaschen in den Händen zu uns, Anstoßen, Flaschenklappern, Martin und Sabine umarmten sich zur Begrüßung, aber sehr emotionslos, dann gaben die Männer ihre Kommentare ab, vor allem zum letzten Teil meiner Lesung, der Performance mit Tinas Stimme und den nutzlosen Gegenständen aus unserer Scheune. Sie fanden das alle sehr beeindruckend, aber zur Begeisterung fehlte noch ein bisschen. Sabine mischte sich wieder ins Gespräch und meinte, das Ende des Stückes sei noch zu schwach, es passe zwar zum Text, aber trotzdem müsse noch ein Knalleffekt hin, auch wenn ich das Wort Knalleffekt hassen würde, bräuchte ich ihn trotzdem, zur Not solle ich einfach den Zugabenfilm direkt danach abspielen, den Applaus nicht aussitzen, sondern ihm zuvorkommen. Wir konnten nicht darüber diskutieren, weil ein älterer Zuschauer dazu trat und fragte, ob es die Filme auf Videokassette gäbe, was ich verneinen musste, dann kam der Hinterhofkinoprogrammdirektor und klopfte mir auf die Schulter, Martin und Achim verabschiedeten sich von der Clique, die ich für die Studenten der digitalen Akademie hielt und dann besprachen sie, in welcher Bar man sich später treffen könnte.

Endlich hatte ich die Gelegenheit, mit Sabine alleine zu reden. Da konnte ich ihr von meinem Leben auf dem Land erzählen, brachte sie zum Lachen, aber ich merkte, dass sie weg wollte. Und du? fragte ich, um das Gespräch herumzureißen, aber damit gab ich ihr erst recht die Gelegenheit, den Abschied einzuleiten, denn unerwartet heiter erklärte sie mir, dass sie schwanger sei und deshalb dürfe sie ja weder trinken noch rauchen, da sei ihr der Aufenthalt in solchen angenehmen Lokalitäten wie dem Hinterhofkino leider völlig verleidet und die Schwangerschaft sei ein echter Unfall gewesen, der Mann schon über alle Berge, wieder in Afrika, ja, ein Schwarzer, ein toller Typ, aber als Familienvater völlig undenkbar, das müsse sie jetzt alleine durchstehen, wovor sie keine Angst hätte, ihr Masterplan für das Studium sei allerdings total über den Haufen geworfen, zumal das in Berlin doch viel komplizierter sei und nicht so, wie sie es erwartet hätte. Beim Erzählen lachte sie die ganze Zeit, das fand sie alles komisch, als wäre es nur ein Spiel. Mit nicht nachvollziehbarer Heiterkeit erklärte sie mir, dass sie viel besser beraten gewesen wäre, in Süddeutschland schnell fertig zu machen und dann in Berlin einen Doktor dranzuhängen. Nach Möglichkeit eine Dissertation mit Assistentenstelle. Oder in Berlin zu wohnen und sich an einer der vielen Unis in den neuen Bundesländern einen Arbeitsvertrag unter den Nagel zu reißen und sich dann erst schwängern zu lassen. Aber so sei es nun mal nicht gekommen. Tschüss, schönen Abend, ein Küsschen und zu guter Letzt sagte sie noch: Komm doch auch nach Berlin. Sie rauschte davon und ich verbrachte den Rest des Abends mit Martin und seinen Freunden.

Mit dem typisch großstädtischen Selbstverständnis, dass nur das Außergewöhnliche gut genug sei, gingen wir in eine Bar, in der die Studienkollegen von Martin schon warten würden. In der Tat erwies sich die Bar als recht kurios, denn wir stiegen auf einem unbebauten Grundstück durch ein Loch in der Mauer hinein in den Keller eines Altbaus und tranken dort in einem muffigen Raum mit rohen Backsteinwänden an einer zusammengezimmerten Bar einige Flaschen tschechischen Biers. Als wir irgendwann mitten in der Nacht bei Martin ankamen, wollte er mir unbedingt etwas am Computer zeigen, fand es aber nicht, und weil der Computer sowieso schon eingeschaltet war, startete er das Spiel mit der Schlange, die durch ein Labyrinth kriecht, ein Spiel, das wir später immer wieder mal spielten. Als ich es zum ersten Mal in den zweiten Level schaffte, wurde es draußen schon hell. Da immer nur einer von uns spielte, weil wir uns abwechselten, konnte der andere viel erzählen.

Ich glaube, in jener Nacht hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Internet“. Weil es mich nicht sonderlich interessierte, konnte ich mir nicht merken, um was es eigentlich ging. Es war eben wieder eine von Martins digitalen Aktivitäten und er benutzte zu viele unbekannte Worte, diese Nerd-Sprache, wobei ich damals noch nicht einmal gewusst hätte, was ein Nerd ist. Wenn ich nüchtern gewesen wäre, hätte ich gefragt, was das alles soll, doch betrunken, mit der Schlange vor mir, die im Labyrinth immer länger wird und bei der man höllisch aufpassen muss, dass sie sich nicht in den Schwanz beißt, nahm ich nur zur Kenntnis, dass Martin etwas über Hyperlinks erzählte, die von irgendwo nach irgendwo führen würden und ich musste dabei an Science Fiction-Groschenromane denken. Dort verschwinden die Raumschiffe in den Hyperraum, um die Begrenzung der Lichtgeschwindigkeit zu überwinden. Es wird nur die Information übermittelt, beteuerte Martin, keine Raumschiffe und dann scheiterte ich an der entscheidenden Kurve im Labyrinth und die Schlange biss sich mal wieder in den Schwanz. Also wechselten wir, Martin übernahm das Spiel. Weil er besser war als ich, schaffte er drei Levels. Das gab mir Zeit, Anekdoten aus unserem Fernsehsender zu erzählen, dann spielte wieder ich und Martin attackierte mich mit den Begriffen Host, Modem und HTML, Computersprache, die ich mit Widerwillen zur Kenntnis nahm. Martin erklärte mir zwar all diese Begriffe, aber leider mit Worten, die ich auch nicht verstand.

Das kommt mir vor wie im Krankenhaus, sagte ich und überlegte danach, was ich damit überhaupt ausdrücken wollte. Martin sagte nichts, sondern schickte die Schlange um die richtige Kurve und hüpfte dadurch in den nächsten Level. Ich plapperte vor mich hin: Wie eine Intensivstation, künstliche Beatmung mit Kommunikation, Dateninfusion und soziale Quarantäne. Darauf läuft das doch hinaus. Martin verneinte entschieden, aber ohne Begründung, denn er musste sich auf die Steuerung der Schlange konzentrieren. Mir fiel nichts mehr ein. Ich schaute schweigend zu, wie er nochmals einen höheren Level erreichte, dann stand ich auf und rollte den Schlafsack aus. Einmal muss ich es noch probieren, antwortete Martin und startete die Schlange, als ich ihm Gute Nacht wünschte. Er verbrachte wohl noch zwei oder drei Stunden vor dem Bildschirm, aber ich schlief tief und fest.

21

Kaum war ich wieder zurück aus Berlin und für das Lokalfernsehen unterwegs, musste ich ins Rechenzentrum der Universität, weil man dort einen neuen Großrechner einweihte. Die vielen Redner benutzten auffällig oft das Wort Internet und auch die anderen Fachbegriffe, mit denen Martin trotz Betrunkenheit so lässig um sich geworfen hatte, führten die Grußwortredner vom Wissenschaftsministerium ständig auf den Lippen, wobei ihnen diese Anglizismen sichtlich Mühe beim Formulieren bereiteten. Man merkte ihnen an, dass sie gerade Neuland betraten. Nur der Informatikprofessor, der die Rechenmaschine für ein paar Millionen gekauft hatte, schaffte es, eine flirrende Kaskade von Spezialbegriffen mit extremer Selbstverständlichkeit von sich zu geben. Die wichtigen Fremdworte, die mehrmals auftauchten, zogen eine lange Fahne anderer Spezialbegriffe nach sich, was den anwesenden Medienvertretern den Schweiß auf die Stirn trieb. Wie sollten sie das ihren Lesern oder Zuschauern und Zuhörern begreiflich machen? Zumal sie es selbst erst mal verstehen mussten. Auch mir blieb die Einsicht verwehrt, welchen Zweck der Professor mit dem neuen Computer verfolgte.

Wenn ich Martin wieder treffen würde, war eine Fachdiskussion im nüchternen Zustand dringend notwendig, sagte ich mir, aber bis dahin hatte ich genug damit zu tun, die reale Welt mit meiner Fernsehkamera Tag für Tag zu durchstreifen, videografisch zu dokumentieren und damit das große Regal, das in unserem kleinen Sender als Archiv diente, immer weiter zu füllen. Inzwischen stapelten wir die Videobänder auf dem obersten Brett. Ambitionen, ein zweites Regal aufzustellen, verspürte ich nicht. Nicht mehr. Das Wochenende in Berlin hatte seine Spuren hinterlassen, die Welt auf dem Dorf war für mich nicht mehr so wie zuvor. Die Lage zwischen Tina und Gitarren-Hans spitzte sich weiter zu. Vielleicht hing das mit der Sängerin zusammen, die inzwischen in die Band eingestiegen war. Ihr Gesang war eigenwillig, aber sie bewegte auf sehr beeindruckende Weise, wirklich klasse. Tina dagegen stand ja immer nur emotionslos hinter ihrem knatternden Synthesizer, drehte an den Potentiometern oder wartete auf den Einsatz. Nach der Probe stritt sie sich oft mit Gitarren-Hans, da war sie überhaupt nicht emotionslos.

Tinas und mein Entschluss, unsere ländliche Einöde in Richtung Metropole zu verlassen, reifte vermutlich zur gleichen Zeit, aber unabhängig voneinander. Weil wir uns oft tagelang gar nicht sahen oder nicht allein waren, oder dachten, es sei gerade der falsche Zeitpunkt, war es bereits Ende Oktober, als ich ihr sagte, dass ich zum Jahreswechsel abhauen, den Job beim Fernsehen hinschmeißen und nach Berlin ziehen werde. Aber anstatt mir Vorwürfe zu machen, war Tina erleichtert, denn sie hatte bereits mit dem Onkel vereinbart, dass sie im Lauf des folgenden Jahres das Gehöft räumen würde, was sie mir nur aus Mangel an einer geeigneten Gelegenheit noch nicht mitgeteilt hätte, aber jetzt sei ja alles geklärt. Damit brachen die letzten beiden Monate an. Um eine unproduktive Wartezeit zu vermeiden, nahm ich mir vor, meinen ersten 16-mm-Film umgehend zu beginnen, damit nicht nur die vergessenen Dinge, sondern auch unser Dorf, die Landschaft und der Hof festgehalten würden.

Die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors sollte mir helfen. Bisher verstrickte sie mich nur in hochintellektuelle Diskussionen über kulturell hochwertige Filme, wobei sie auch vor hochprozentigen Getränken nicht zurückschreckte. Darum sagte ich ihr, es sei höchste Zeit, um von der Theorie zur Praxis überzugehen und zwar sofort! Natürlich könne man das auch im November tun, Grenzerfahrungen mit schlechtem Wetter seien ein Grund, aber kein Hindernis, zumal sie, die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors, für mich eine sehr herbstliche Persönlichkeit sei, die genau die richtige Stimmung für den Abschied von den traurigen, abgeernteten Äckern und Wiesen versinnbildlichen könne. Da schaute sie mich sehr entsetzt an, so dass ich schon befürchtete, sie sei beleidigt, aber als ich fortfuhr und ihr erklärte, dass sie vermutlich Fellini mehr als Tarkowski schätzen würde und deshalb nicht empfänglich sei für das Kompliment, das in dieser Charakterisierung stecke, hatte ich sie wieder auf meiner Seite. Mit einigen Verweisen zu Buñuel fanden wir wieder den Konsens in der Diskussion, verwarfen zunächst alle vorherigen Konzepte und entwickelten an einem Wochenende ein neues, und zwar an der Bar unseres gemeinsamen Lieblingskinos. Für mich war alles geklärt, aber sie fragte immer wieder, wann wir am Konzept weiterarbeiten. Das weckte in mir den Verdacht, dass sie wohl nur übers Filmemachen reden wollte. Vielleicht dachte sie ja auch, ich hätte sie nur ins Projekt hineingezogen hatte, weil ich mit ihr schlafen wollte und spekulierte darauf, dass es eine Abkürzung ohne Filmaufnahmen geben könnte. Daraus wurde nichts, ich sagte, wir müssten loslegen und der Film solle „Mein Land im Herbst“ heißen, was später gar nicht stimmte, aber als Argument war es hilfreich. Wir müssen drehen, bevor der Winter da ist, bestimmte ich und legte den zweiten Advent als Drehtermin fest, ein fürchterlicher Tag. Es hatte schon tagelang geregnet und nieselte immer noch. Die Feldwege waren voller Pfützen und die Äcker aufgeweicht. Gitarren-Hans hatte das Glück, dass er in seinen Wanderstiefeln spielen durfte, während die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors in ihren coolen Stoffturnschuhen durch den Matsch laufen musste. Bei uns allen bildeten sich Batzen von Dreck an den Füßen, mit jedem Schritt klebte noch mehr feuchter Ackerboden an den Sohlen. Ich wollte ja nur, dass die beiden mit einem Musikinstrument, also sie mit einem Geigen- und er mit einem Gitarrenkoffer, einsam über die Felder wandern, in einer verlassenen Landschaft, die müden Körper nach Möglichkeit über dem Horizont. Diese eigentlich einfachen Aufnahmen erwiesen sich bei den gegebenen Wetterbedingungen als extrem kräftezehrend. Meine beiden Darsteller sahen nicht nur müde aus, sondern total mitgenommen. Es wehte ein Wind, der die feuchten Haare zerzauste, die Klamotten flatterten, die Matschfüße bekamen sie beide kaum noch hoch und ich musste mich, um eine Untersicht hinzukriegen, auf die Knie begeben. Da spürte ich sofort die kalte Feuchtigkeit des Bodens durch die Jeans hindurch, aber die Position war nicht tief genug, also legte ich mich hin, hinein in den Matsch und ich musste dabei aufpassen, die Hände nicht schmutzig zu machen, damit die Kamera sauber blieb. Also stützte ich mich beim Hinlegen und Aufstehen immer mit den Ellenbogen ab, die dabei weit in den Boden einsanken.

Mir gelang eine phantastische Einstellung wie sich die beiden Schauspieler kraftlos näherten und dann, ohne sich zu beachten, aneinander vorbeigingen. Gitarren-Hans, der ja ungemein dürr war, wirkte wie ein Gespenst und die Schwester des Hinterhofkinodirektors war mit den flatternden Haaren und dem wehendem Rock für mich der Inbegriff des Trotzes, dieser „Ich muss das tun“-Haltung, eine Überzeugungstäterin, die dann kläglich im Nichts einer grauen Herbstlandschaft verschwindet. Für die letzte Einstellung wollte ich beide Schauspieler ganz weit weg von der Kamera am Horizont gehen sehen, aber das schafften wir nicht mehr, ich trickste den Abgang mit einem billigen Rückzoom, eine filmästhetisch schäbige Notlösung, trotzdem blieb mir keine Wahl. Beim echten Film hätte man drei Wohnmobile auf den Acker gestellt, damit sich die Schauspieler aufwärmen können, und einen Hubschrauber, der sie zum Horizont fliegt. Das hatten wir alles nicht, wir standen zu dritt verfroren im Nieselregen und dann steckte auch noch das Auto von Gitarren-Hans im Schlamm fest. Die Schwester vom Hinterhofkinoprogrammdirektor musste ans Steuer und wir beiden Männer versuchten, die Karre aus dem Dreck zu schieben. Als wir es geschafft hatten, waren wir von oben bis unten verschlammt und schlotterten wegen der Kälte. Zum Glück war Tina an dem Abend zu Hause geblieben und hatte ordentlich eingeheizt. Trotzdem hüllten wir uns nach dem Dreh verfroren in Decken, tranken Tee und Rotwein. Als ich begann, die Kamera zu putzen, die ein paar Spritzer abbekommen hatte, öffnete Gitarren-Hans den Koffer und spielte seit langem mal wieder auf der akustischen Gitarre. Die aufgelösten Akkorde seines gleichmäßig tröpfelnden Fingerpickings wirkten sofort, das war das Gefühl, zu Hause zu sein und sich wohl zu fühlen. Was er spielte, schien bekannt, klang nach Klischee, aber das machte die Musik nicht banal, sondern es gab ihr sogar eine gewisse Erhabenheit. Als würde diese Musik schon immer durchs Weltall schweben, und Hans hätte sie sich nicht ausgedacht, sondern eingefangen. Die perfekte Musik, um den Film zu vertonen, aber ich hatte kein Tonaufnahmegerät zu Hause und selbst wenn ich eins gehabt hätte, wäre ich nach den anstrengenden Dreharbeiten vermutlich zu faul gewesen, Technik zu suchen oder aufzubauen.

Daran musste ich denken, als ich ein paar Monate später in Berlin saß und wieder fror. Vor mir flimmerten die Filmaufnahmen unseres anstrengenden Drehs. Den Filmtitel „Mein Land im Herbst“ hatte ich inzwischen verworfen, das Werk sollte lieber „Kein Abschied ohne Begegnung“ heißen. Außer dieser Umbenennung war mit dem Material so gut wie nichts passiert. Ich saß an einem 16-mm-6-Teller-Schneidetisch, das ist ein mehrere hundert Kilo schweres mechanisches Monstrum. Oder Wunderwerk. Je nachdem, ob die persönlichen Vorlieben eher den elektronischen und zu den mechanischen Lösungen gelten, wird man einen Schneidetisch unterschiedlich bewerten. Für Menschen wie mich, die sich an den Umlenkrollen mit Perforationszahnrädern erfreuen können, ist ein Schneidetisch eine Sensation. Die ganze Tischplatte ist voll mit diesen Umlenkrollen, symmetrisch angeordnet und in verschiedenen Gruppen zusammengefasst. Der Riesenaufwand dient dazu, den Film so an der Projektionsoptik vorbeizuführen, dass man ihn sowohl schnell, als auch langsam, vorwärts und rückwärts ansehen und direkt auf dem Bild mit einem speziellen weißen Stift Markierungen machen kann oder ihn gleich an der richtigen Stelle auseinanderschneidet, zusammenklebt und so weiter. Außerdem können zwei Rollen mit perforiertem Tonband parallel zum Film eingelegt werden und wenn der Film sich gemeinsam mit den zwei Tonspuren bewegt und all diese vielen Rädchen auf dem Schneidetisch miteinander gekoppelt sind, gleichzeitig starten oder stoppen, dann ist es ein Vergnügen zuzusehen. Doch die Zeit der mechanischen Filmtechnik ist längst vorbei. Sie war damals voll entwickelt, aber am Aussterben. Im Fernsehgeschäft, wo der Produktionsablauf billig und schnell sein sollte, hatte man die Filmschneidetische schon längst durch Videoschnittplätze ersetzt. Der Schneidetisch, an dem ich saß, gehörte einigen Liebhabern, die vom No-Budget-Gedanken beseelt waren und ihre betagte Schnitttechnik für lächerlich niedrige Geldbeträge an andere Liebhaber, Filmemacher und Künstler wie mich vermieteten. Auch das Budget für die Briketts schien knapp zu sein, denn sie waren alle und der Kachelofen kalt. So saß ich mit Strickjacke vor dem Schneidetisch und sortierte das Material. Um die passenden Takes zu einem ersten, groben Entwurf zusammenzuschneiden, brauchte ich etwas mehr als eine Stunde, danach war ich so durchgefroren, dass ich mich zwingen musste, aufzuräumen, also meine restlichen Filmschnipsel zusammenzurollen und mitzunehmen. Das wichtigste war die kleine Spule mit dem geschnittenen Material. Ich brauchte noch die passende Musik, aber Gitarren-Hans war weit weg. Den Schlüssel für den Schnittraum warf ich in den vorgesehenen Briefkasten, dann trat ich auf die winterliche Straße. Draußen war es noch viel kälter und der eklige Geruch von Kohleverbrennung hing in der Luft. Vor meinem geistigen Auge sah ich Gitarren-Hans vor dem grauen Filmhorizont, doch ich selbst lief durch eine lange Straße an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg. Irgendwann nach der soundsovielten Kreuzung sollte die richtige U-Bahnstation kommen. Ich dachte beim Gehen an den letzten Abend im Dorf. Die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors hatte mich beim Abschied geküsst. Tina auch, aber nur ganz kurz und dann sagte sie, diesmal könne ja ich mich um die günstige Wohngelegenheit kümmern, bald käme sie nach.

22

Ich hatte mich bei Martin eingenistet, der eine von diesen typischen Zweizimmer-Altbauwohnungen im Hinterhaus bewohnte, wie ich sie in verschiedenen Variationen immer wieder zu Gesicht bekam. Wobei die meisten Berliner, die in so einer schäbigen Bude hausen, keineswegs scharf darauf sind, Freunde zu sich einzuladen, vielmehr ging es oft genug darum, sich dort zu treffen, wo man es besonders cool fand. Wegen unserer langjährigen Freundschaft konnte Martin nicht Nein sagen, als ich einzog, obwohl der Platz ohnehin knapp und die Raumaufteilung mit dem Durchgangszimmer ziemlich ungünstig war. Ich sagte, ich suche mir einen Job und ich suche mir eine Wohnung! Leider passierte monatelang so gut wie nichts. Ich sagte auch noch, dass ich hochmotiviert sei. Abends hatte ich in der Tat viele Ideen, wen ich ansprechen könnte, der eventuell jemanden kennt, der wiederum jemanden anderen kennt, der dann ein kleines Türchen öffnet, durch das ich hineinschlüpfe. Dort hinein, wo man mich brauchen könnte. Tagsüber kümmerte ich mich dann aber doch nicht darum. Immerhin fand ich die No-Budget-Liebhaber und ihren kleinen Laden, so dass ich mich ein bisschen um den Schnitt des 16-mm-Films kümmern konnte. Ab und zu sortierte und ergänzte ich das, was ich für eine Bewerbungsmappe hielt. Wesentlich öfter spielte ich das Spiel mit der Schlange im Labyrinth auf Martins Computer und außerdem zeichnete ich manchmal stundenlang an Trickfilmsequenzen.

Natürlich durchstreifte ich auch die Stadt. In Mitte und Prenzlauer Berg eröffneten viele Bars und in Friedrichshain tobte der Kampf um besetzte Häuser. Die Ruinenromantik im Osten der Stadt hatte etwas Faszinierendes, aber da Martins Wohnung ganz im Westen, in Charlottenburg, lag und das Hinterhofkino und das Büro der No-Budget-Liebhaber in Kreuzberg, verbrachte ich die meiste Zeit dort, wo man von den Umwälzungen gar nicht viel mitbekam. Das störte mich nicht, denn ich wollte auf keinen Fall als Trendnutte gelten. Meine Ausflüge in den Osten waren quasi Exkursionen, damit ich auf dem Laufenden blieb. Die Begründung, dass ich in Berlin sei, weil ich den Anblick von abblätterndem Putz und krummem Straßenpflaster als geiles Lebensgefühl empfinden würde, wies ich stets weit von mir. Der viele Müll, den das große Experiment Sozialismus hinterlassen hatte, machte mich traurig und träge. Vielleicht war das ja auch gar kein Müll, sondern wurde nur von den Rechthabern der Geschichte zu Müll erklärt. Letztendlich waren aber nicht nur viele Exkursionen zur Erforschung der kulturellen Aktivitäten nötig, immer wieder schlich ich auch um neu entstandene Medienzentren oder Niederlassungen der Fernsehsender herum, die sich im Osten eingenistet hatten, um Hinweise darauf zu bekommen, wer mir beim Broterwerb behilflich sein könnte.

Neben meiner Matratze lagen der Stadtplan, die Gelben Seiten und das beliebte Buch über die Kunst des Drehbuchschreibens. Laut Achim gab es dieses Buch sowieso in jedem zweiten Berliner Single-Haushalt, warum also nicht auch bei mir. Leider fand ich niemanden, den ich von meinen Drehbuchschreiberqualitäten hätte überzeugen können. In der Fachabteilung des Arbeitsamtes, wo sie speziell die Künstler und Medienschaffenden betreuten, fragte man mich ganz unverhohlen, wieso ich denn ausgerechnet nach Berlin gekommen sei; damals war Berlin trotz seiner Größe nur ein zweitrangiger Medienstandort, arbeitslose Fernseh-Ossis und Künstler, die mit ihrer Kunst nichts verdienten, drängten in den Arbeitsmarkt. Je weiter westlich, desto besser, meinte der Sachbearbeiter. Ansonsten fiel ihm nichts zu meinen dürftigen Bewerbungsunterlagen ein. Arbeitslosengeld bekam ich sowieso nicht, weil ich beim Lokalfernsehen die meiste Zeit ohne Sozialabgaben als Praktikant gearbeitet hatte. Insofern war die Ausbeute meines Termins beim Arbeitsamt sowohl an hilfreichen Tipps als auch an finanziellen Hilfen unergiebig und demotivierte mich für ein paar Wochen, in denen ich gar nichts tat, was mit Bewerbungen zu tun hatte. Dann ergab sich ein Termin, in den ich viel zu viel Bedeutung hineinphantasiert hatte. Ein älterer Kollege aus dem Lokalfernsehen, eigentlich schon Rentner, der Zeit seines Arbeitslebens große Sachen beim großen Fernsehen in Berlin gemacht hatte, drückte mir zum Abschied ein Empfehlungsschreiben für seinen alten Kumpel die Hand, der irgendwo in den oberen Etagen des Berliner öffentlich-rechtlichen Fernsehens sitzen würde. Allerdings saß der zu weit oben in der Hierarchie, direkt unterhalb des Intendanten und war ein großer Chef von irgendeiner wichtigen Abteilung. Ich rätselte ausführlich darüber, was mein Empfehlungsschreiben wert sein könnte, was ich sonst noch für Bewerbungsunterlagen brauchen könnte und am liebsten hätte ich das Treffen immer weiter vor mir hergeschoben, aber irgendwann hatte ich die Sekretärin des großen Chefs angerufen, die mir ein Datum nannte, das wiederum gut einen Monat nach dem Telefonat lag. Ich wurde zwar empfangen, doch der große Chef wusste auch nicht, was er mit mir anfangen sollte, vielleicht erinnerte er sich gar nicht mehr an den Fernsehrentner, dessen persönliche Empfehlung ich ihm in die Hand drückte und außerdem sei ich ja eigentlich in der falschen Abteilung, um mich vorzustellen und was ich über die öffentlich-rechtlichen Anstalten eh schon wusste, dass sie sich zu fein für Quereinsteiger waren, bestätigte er im Lauf des Gespräches. Letztendlich verabschiedete er mich nach fünfzehn Minuten und er hatte mir keinen anderen konkreten Ansprechpartner genannt, was zweifellos bedeutete, dass ich mich getrost verpissen konnte. Das Stimmungsbarometer blieb daraufhin noch eine Weile im Keller, es schwankte zwischen schlechter und ganz schlechter Laune. Immer wieder blätterte ich die Gelben Seiten durch, wo unter dem Stichwort Film- und Fernsehproduktion eine Menge Einträge zu finden waren, da hätte ich überall eine Bewerbung hinschreiben können. Habe ich aber nicht, mein Einfallsreichtum war schier unerschöpflich, wenn es darum ging, Gründe zu finden, weshalb jede einzelne dieser vielen Firmen speziell für mich unpassend sei, so unpassend, dass eine Bewerbung nicht nur wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, sondern sogar eine Anmaßung sei, oder ein Fettnäpfchen, wenn nicht gar ein Skandal.

23

Aber mit einem Mal veränderte sich die Lage schlagartig, denn Ulrich traf in Berlin ein. Der Chef vom Lokalfernsehen hatte ihn nach einem Streit rausgeworfen, unterwegs war ihm das Auto liegen geblieben und mit Rucksack und zwei Plastiktüten, in die er seine Habseligkeiten aus dem Auto gestopft hatte, kam er per Anhalter in Berlin an. Seine Übernachtungsbekanntschaft, die ihn einen Tag vorher erwartet hatte, war nicht mehr erreichbar und so musste er auch noch bei Martin einquartiert werden. Es war nur eine Nacht, dann brach er schon wieder auf, um die Verschrottung seines Autos, das irgendwo in den neuen Bundesländern auf einem Autobahnrastplatz stand, zu organisieren. Und ich sollte gefälligst sofort die Wohnung klar machen, sagte er mir beim Abschied. Denn zwei Tage vor Ulrichs Ankunft hatte ich Sabine und ihre drei Monate alte Tochter auf einen Kaffee besucht. Ihr war gerade eine gute Wohnung in einer der abgefucktesten Gegenden der Stadt angeboten worden. Sie hatte abgelehnt, denn nach kurzem Abwägen bevorzugte sie, mit dem Kind lieber in einer Anliegerwohnung in der Villa ihrer Eltern einzuziehen, irgendwo dort, wo nur wohlhabende Menschen wohnen. Das Wohl des Kindes war ihr vermutlich wichtiger als die soziale Tarnung in einem Proletenstadtteil. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, dass Sabines Unnahbarkeit durch ihre großbürgerliche Herkunft zu erklären sei, die sie nur zögernd preisgab. Inzwischen hatte ich auch erfahren, dass der Vater des Kindes aus diplomatischen Kreisen stammte, aber ich konnte es mir nicht merken, zu welchem der vielen afrikanischen Staaten er gehörte. Die Wohnung in Neukölln, die sie abgelehnt hatte und nun mir anbot, schien mir zunächst zu groß und zu teuer, ich wollte keinen Mietvertrag am Hals haben, solange kein Job in Aussicht war. Aber als Ulrich auftauchte, der davon redete, dass auch noch ein Design-Kollege nachkommen könnte, überzeugte er mich, dass wir sofort zu dritt diese Wohnung nehmen sollten, um uns dann kompromisslos auf die Jobsuche zu konzentrieren. So kam es, dass Martin nach einem quälend langen halben Jahr endlich wieder seine Wohnung für sich allein hatte.

Ich brachte meine Matratze, die Transportkisten und die Schallplattensammlung mit einem gemieteten Kleintransporter in die neue Wohnung und noch bevor ich mir Regale und ein Bett besorgen konnte, zwang mich Ulrich, gemeinsam mit ihm loszuziehen, zu den vielen Film- und Fernsehproduktionsfirmen, deren Namen ich immer nur in den Gelben Seiten angeglotzt hatte. Immer noch fand ich bei jeder einzelnen meine Gründe, weshalb ein Erfolg unwahrscheinlich oder aussichtlos sei, doch Ulrich ließ keine Ausreden gelten, wir fuhren mit der U-Bahn durch die Stadt und gingen leibhaftig zu jeder der vielen Adressen, eine nach der anderen. Hallo, wir sind neu in Berlin, er ist Kameramann, ich arbeite als Cutter, könnt ihr uns brauchen? Schon nach ein paar Tagen gab es die ersten heißen Spuren. Ulrich knüpfte verschiedene Kontakte, bei denen er abwechselnd Tagelöhnerdienste ableistete, was bei Cuttern weit verbreitet war. Ich fing einige Wochen nach dem Umzug tatsächlich in einer kleinen Videofirma an.

Mein Privatleben wurde nun wie mit einem Schalter ausgeknipst, ein dreiviertel Jahr lang war ich ständig unterwegs. Wir drehten billige Kurzbeiträge, Feuilletonistisches aus den neuen Bundesländern, die irgendwo im Privatfernsehen gesendet wurden. Damit sich das bei unserem niedrigen Minutenpreis für die fertiggestellten Reportagen lohnte, musste jeder Beitrag an einem, oder bestenfalls an anderthalb Tagen komplett abgedreht werden. Früh um sieben in Berlin losfahren, um zehn kamen wir dann in Rostock, Halle, Cottbus oder sonst einer medial unterversorgten Stadt an und dann hielt ich drauf, bis alles im Kasten war. Abends, zu unbestimmter Zeit, kamen wir zurück, steckten die Akkus ins Ladegerät und am nächsten Morgen fuhren wir wieder los. Ab und zu drehte auch der Chef, ein lässiger Selfmademan, der angeblich als Kameramann im Balkankrieg zu Geld gekommen war. Ich war der allzeit verfügbare Kameramann für seine sechs bis acht Reporterinnen, alles attraktive Frauen, die mit einer eher theoretischen Ausbildung direkt von der Uni kamen und die sich dann für ein bescheidenes Pauschalhonorar um alles kümmern mussten: Thema finden, Kontaktpersonen recherchieren, Drehtermine ausmachen und letztendlich mit mir und einem Praktikanten hinfahren, filmen, interviewen, zurückfahren, schneiden, texten.

Den Schnitt machten sie mit dem Chef oder einem Tagelöhner, aber da war ich ja schon wieder auf der nächsten Tour, filmte Ostalgietreffen, Pantoffelwerkstätten, Erfindermessen, Puppendoktoren, Wendeverlierer und alles, was den gelangweilten Fernsehzuschauer auf harmlose Weise unterhalten könnte. Beim Lokalfernsehen hatte ich das auch gemacht, aber nun waren die Auftraggeber pingeliger, die Reporterinnen ambitionierter und die Drehorte lagen teilweise Hunderte von Kilometern entfernt. Unzählige Staus, die sich an den Baustellen des Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ bildeten, mussten wir überwinden, um dorthin zu gelangen, wo wir das Wesen der geschundenen Ossi-Seele zu ergründen suchten. Solange wir uns als Team gut verstanden, waren unsere Touren spannende Ausflüge mit Kamera, aber nach einem halben Jahr schwirrte mir der Kopf und wenn man mich fragte, wo ich zwei Wochen zuvor gewesen war, dann fiel es mir schon nicht mehr ein, ein klarer Fall von Reizüberflutung. Aber es fragte mich niemand, da ich mich meistens nur mit den Leuten unterhielt, die bei der Arbeit mit mir im Auto saßen.

Ab und zu traf ich mich zum Bier trinken und lästern mit Achim. Mein Mitbewohner Ulrich war inzwischen auch ganz gut im Geschäft. Bei ihm häuften sich die Spätschichten, denn er war ein richtiger Nachtmensch. Auch Wochenendschichten übernahm er gern, da sie besser bezahlt wurden, was dazu führte, dass wir uns in der Wohnung oft Tagelang überhaupt nicht sahen. Dann zog Henry ein, von dem ich später erfuhr, dass er gar nicht Henry hieß, sondern eigentlich Herbert, aber das war ihm zu altmodisch. Mit großem Hallo begrüßte er mich, obwohl wir uns noch nie gesehen hatten. Er behauptete, Ulrich hätte viel von mir erzählt und meine Filme kannte er angeblich auch. Er musste also in einer meiner Filmvorführungen gewesen sein. Henry kam am gleichen Tag, an dem auch Achim plötzlich mit der Theaterstückeschreiberin vor der Tür stand. Seit Wochen oder Monaten war kein Besuch bei uns vorbeigekommen und dann plötzlich so viele. Henry saß, als ich nach Hause kam, in dem kleinen Zimmer, das Ulrich und ich nur für den Wäscheständer benutzten, auf einem großen aufblasbaren Ball an einem ganz kleinen Tisch, vermutlich ein Klapptisch und auf dem kleinen Tisch stand einer von diesen kleinen Macs mit dem 7-Zoll-Bildschirm. Neben dem Computer lagen ein kleines Notizheft und ein sauber angespitzter Bleistift. Er sei heute Nachmittag eingezogen, Ulrich hätte ihn hereingelassen, sagte er. Alles sei prima und er schon fertig mit dem Einräumen, da er nichts besitzen würde außer der Matratze und einem Koffer mit ein paar Klamotten. Beim Reden deutete er auf die Dinge, von denen er gerade sprach und ansonsten hätte er ja nur den „Kleinen“, wobei er den Mac tätschelte. Im Kühlschrank sei Bier und er habe Chili con Carne gekocht. Als er das sagte, fiel mir auf, dass ich mich beim Betreten der Wohnung über den Essensgeruch gewundert hatte. Unser größter Topf war bis oben voll, damit es sich lohnen würde und Chili con Carne könne man ja drei Tage lang problemlos aufwärmen. Das war gut, denn ich hatte Hunger.

Kaum saßen wir in der Küche, die Bierflaschen gerade geöffnet, klingelte es und Achim mit der Theaterstückeschreiberin, die ich ja noch nie gesehen hatte, standen vor der Tür. Kein Wunder, erklärte Achim, sie sei gerade erst nach Berlin gekommen, irgendeinen Nachwuchstheaterschreibepreis hätte sie schon eingeheimst und jetzt würde sie ganz in der Nähe wohnen, weil er, Achim, ihr eine günstige Wohnung besorgt hätte und da Theater eine dem Untergang geweihte Kunst sei, wolle er sie mit mir bekanntmachen. In seiner überheblichen Art fügte er hinzu, dass 99 Prozent der Theater zurecht untergehen würden, weil sie quasi mit Absicht und vollsubventioniert von unfähigen Theaterleuten an die Wand gefahren würden, aber es gäbe ja noch diese eine Prozent von guten Leuten, von Theatermachern, die tatsächlich auch mal eine originelle Idee hätten und da würde die Theaterstückeschreiberin, obwohl sie noch blutjung sei, dazugehören. Jetzt stellte sich für Achim allerdings die Frage, ob er das zu lassen dürfe, ob es sich lohnen würde, der Theaterstückeschreiberin dabei zu helfen, sich gegen die 99 Prozent der unfähigen, aber in hochbezahlten Intendanten- Regie- und Dramaturgenpöstchen verschanzten Theaterkunstverderber aufzulehnen, oder ob es nicht sinnvoller sei, sie von ihrem Theaterstückschreibewillen zu exorzieren und der Filmkunst zuzuführen.

Ich will keine Filme machen, das machen doch alle, sagte die Theaterstückeschreiberin. Jetzt bemerkte ich, dass sie, wenn sie sich erregte, in ein deutliches Sächseln verfiel. Filmkultur ist Leitkultur, proklamierte Achim und Henry fügte hinzu: im Guten wie im Schlechten. Denn es sei doch der Film einerseits vom Mainstreamwillen, vom Blockbusterwahn, von der selbstgewählten Einschaltquotenhörigkeit völlig korrumpiert, aber andererseits sei der Film, also genaugenommen der Kinofilm, auch das Medium, das ernstgenommen werde, in dem die Weltkultur stattfinde. Der Film sei DIE Kunstform des 20 Jahrhunderts. Das war Wasser auf Achims Mühlen, da zog er sogleich über die Theatermacher her, die ja angeblich immer noch nicht kapiert hätten, dass sie all das, was der Film sowieso viel besser könne, nicht mehr zu tun bräuchten, aber unbeirrt würden sie in zwangsneurotischer Symbiose mit ihrem vergreisten Bildungsbürgerspießerpublikum an dem festhalten, was nicht mehr zu retten sei. Und Henry: Die Filmfestivaltouristen von heute sind die Bildungsbürgerspießer von morgen. Ich stellte unterdessen fest, dass das Chili con Carne wirklich gut schmeckte, wollte auch mal was sagen: Die Avantgarde kann nichts dafür, wenn sie irgendwann bei den Spießern ankommt. Dafür dürfen wir sie nicht verachten, ganz im Gegenteil. Wenn ihr niemand folgt, dann verdient sie ihren Namen gar nicht. Das ist banal, entgegnete die Theaterstückeschreiberin, obwohl ich damit für sie Partei ergreifen wollte und Henry musste mir auch noch widersprechen: Die vermeintlichen Spießer, die der Avantgarde folgen, sind keine Spießer, Spießer sind die, die zurückbleiben. Achim wiederum: Inzwischen sind doch die, die sich unreflektiert an den neuesten technischen Errungenschaften aufgeilen, die wahren Reaktionäre, das sähe man an dem allgegenwärtigen Videodreck. Damit meinte er wohl pauschal das Privatfernsehen, oder etwa Videokünstler? Achim hatte, so kannte ich ihn, das Bedürfnis, immer noch etwas deftiger zu schimpfen als die anderen. Henry hingegen war der kritische Kulturfeingeist, ein Designer eben, der überall auf der Suche nach der feinen Trennlinie zwischen dem Geschmacklosen/Schlechten, und dem Edlen/Guten war.

Die hübsche Theaterstückeschreiberin, der wir alle drei imponieren wollten, saß zwischen uns und vermied es, irgendjemandem zuzustimmen. Auch nicht mir, obwohl ich versuchte, mit meiner Argumentation weit und poetisch auszuholen, was mir in der hitzigen Diskussion nur gelang, weil Achim sich gerade Chili con Carne auf den Teller schaufelte, und Henry, dadurch abgelenkt, kurze Erläuterungen zur Zubereitung gab. Das kollektive Menschheitsbewusstsein werde sich durch die geistige Entwicklung verändern. Und vermutlich sei die Veränderungsgeschwindigkeit relativ konstant, da jeder einzelne Mensch seine Zeit brauche, um sich an neue Lebensbedingungen anzupassen, und gleichzeitig finde der Austausch der Menschen durch das Wegsterben der Alten und das Nachwachsen der Jungen ebenfalls in einer konstanten, oder sogar sinkenden, Geschwindigkeit statt. Die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung sei allerdings keineswegs konstant, sie habe sich in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten drastisch beschleunigt. So wie beim Überschallknall, der dann auftrete, wenn die Geschwindigkeit der Schallquelle höher sei als die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schalles, gebe es auch bei der Menschheitsbewusstseinsentwicklungsgeschwindigkeit einen kritischen Wert, der dadurch definiert werde, dass die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts die Entwicklungsgeschwindigkeit der mentalen Auffassungsgabe überhole. Dann befänden wir uns im kritischen mentalen Überschallbereich, den man vielleicht als „Entwicklungshypergeschwindigkeit“ bezeichnen könnte.

Das sagt mein Opa auch, kommentierte Henry und Achim lobte das Chili con Carne. Wo ist denn der Flaschenöffner? fragte die Theaterstückeschreiberin, die tatsächlich schon ihr erstes Bier leer hatte. Dann kam auch noch Ulrich nach Hause, der sich ebenfalls auf das Bier und das Chili con Carne stürzte und dabei ein paar Sätze mit Henry austauschte, ob er in dem kleinen Zimmer zurechtkommen würde. Während das restliche Gespräch begann, sich um WG- und Lebensumstände zu drehen, schaute Ulrich die Theaterstückeschreiberin immer wieder verwirrt an, bis er plötzlich mit der völlig unvermittelten Frage herausplatzte, ob sie denn gerade im Rahmen eines Stipendiums an einem Theaterstück über eine Doppelkopf spielende Männerrunde schreiben würde, und die Doppelkopfspieler seien eigentlich eine linke Spaß-Guerilla, die Aktionen gegen die Treuhandanstalt plane. Diese Frage ließ uns alle aufhorchen, erst recht, als die Theaterstückeschreiberin sie bejahte. Da war Ulrich plötzlich aus dem Häuschen, denn das sei ja der Wahnsinn, vor einer Stunde habe er noch am Schnittplatz gesessen, denn er schneide gerade einen längeren Bericht, eine umfangreiche Reportage, über Künstler, die sich mit den Verfehlungen und Missständen der Wiedervereinigung auseinandersetzten. Er sei leider nur der Cutter und er habe nicht einmal alles geschnitten, aber heute, gerade heute, sei es darum gegangen, ein Interview mit der jungen, gerade mit einem Preis und einem Stipendium geehrten Theaterstückeschreiberin zusammenzukürzen. Deshalb habe er sie gerade eben auf dem Monitor gesehen und jetzt säße sie in seiner Küche, das sei ein Zufall, der ihn völlig verwirre, erklärte Ulrich und in der Tat war er sichtlich durcheinander.

Er erzählte begeistert, dass der Reporter gesagt habe, die Schriftstellerin sei noch jung und auch nicht so wichtig, da dürften wir auf keinen Fall von ihr mehr Sekunden drin haben als von dem altehrwürdigen DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden, der an ach so vielen runden Tischen gesessen habe, dessen Interview aber leider stinklangweilig und unambitioniert gewesen sei, weil, so vermutete der Reporter, er Hunger gehabt habe, aber der quasi verbeamtete öffentlich-rechtliche Kameramann habe nicht länger warten wollen, wegen der Überstunden, und da habe man das Interview mit dem DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden überstürzt vor dem Bankett machen müssen, obwohl es danach bestimmt viel besser geworden wäre. Deshalb hätten sie am Schneidetisch aus dem tollen Interview mit der jungen Theaterstückeschreiberin schnell eines der vielen guten Statements herausgeholt und sich dann lange damit gequält, das verschnarchte Genuschel des DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden durch eine geschickte Montage interessant wirken zu lassen. Die Reportage wäre besser und stringenter, wenn man den DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden komplett rausgelassen hätte, aber, so die Logik der Programmmacher und Redakteure, viele Leute würden es sich dann gar nicht anschauen, sie bräuchten immer einen bekannten Namen. Wenn da nur No-Names vorkämen, auch wenn sie tolle Nachwuchspersönlichkeiten seien, dann schaue sich das der Normalzuschauer NICHT an, dann wisse man als Redakteur gar nicht, wie man den Zuschauern im Programmheft und im Infotext den Beitrag schmackhaft machen solle. Allerdings, und dann machte er eine Pause, um die Theaterstückeschreiberin groß anzuschauen und uns schaute er auch groß an, erst dann rückte er mit seiner Frage raus: Ob sie denn wirklich Marianne Wurststock heiße? Oder ob das ein Künstlername sei?

Natürlich heiße ich so, antwortete sie und dann ging die Diskussion erst so richtig los. Die Designer, Ulrich und Henry, waren davon überzeugt, dass dieser Name auf keinen Fall beibehalten werden dürfe, es sei denn, sie wolle Heimatromane oder Kochbücher schreiben, ich wiederum pochte immer wieder auf die Originalität und Bedeutungsschwere, die diesem Name innewohne, aber Achim versteifte sich darauf, Authentizität als moralische Notwendigkeit zu definieren. Schriftsteller seien in einer symbiotischen Beziehung mit der Wahrheit verstrickt, da sei die Abkehr vom eigenen Namen ein eklatanter Sündenfall. Nur die Groschenheftschreiberlinge verwendeten Pseudonyme. Henry ging gar nicht auf Achims Moralappell ein, dazu sei, seiner Meinung nach, die Lage zu ernst. Sie müsse schnell handeln, forderte er, denn das Einzige, was noch schlimmer als ein untauglicher „Produktname“ sei, sei ein Wechsel des Produktnamens, wenn sich dieser bereits im Bewusstsein der Kunden verfestigt habe. Ulrich bot sogar an, bei einer sofortigen Umbenennung der Theaterstückeschreiberin könne er dafür sorgen, dass sie in der wichtigen Fernsehreportage, die gerade im Entstehen sei, bereits mit dem neuen Namen genannt werde. Dagegen lief Achim Sturm, ihn bringe ja schon allein die Wortwahl zur Weißglut, „Produktname“ und „Kundenbewusstsein“es gehe doch hier um Marianne und ihre Schriftstellerei, was eine persönliche, intellektuelle und künstlerische Position sei und kein Schokoriegel. Dann holte er zu einer weitgespannten Anklage aus, die darin gipfelte, dass Designer und die mit ihnen verbündeten Werbefuzzis die Steigbügelhalter des Kapitalismus seien und sowieso nur die Absicht hätten, die Kultur und Kunst entweder für ihre niederen Ziele zu instrumentalisieren oder, sofern ihnen das nicht gelänge, in den Schmutz zu treten. Seine Argumentation war so überzogen pathetisch, dass wir uns alle prächtig amüsierten und unter großer Erheiterung nicht nur die nächste Runde Bierflaschen geöffnet wurde, sondern auch eine Flasche Wodka auf den Tisch kam. Ich forderte Achim auf, die Diskussion damit zu beenden, dass er einen Toast auf die echte und einzige Marianne Wurststock aussprechen solle, was er mit der nötigen Ernsthaftigkeit tat. Ins Bett gingen wir erst, als das Bier und der Wodka alle waren.

24

Auch wenn Marianne Achims Vorschlag, dass sie zum Film konvertieren solle, ablehnte, half sie mir bei einigen Projekten. Zum Glück, denn seit ich in Berlin lebte, waren meine künstlerischen Aktivitäten weitgehend eingeschlafen. Am Anfang deprimiert und motivationslos, dann überarbeitet. Doch inzwischen steckte die kleine Firma, die mich Tag für Tag auf Trab gehalten hatte, offensichtlich in Zahlungsschwierigkeiten. Das Geld wurde Monat für Monat mit größer werdender Verspätung auf mein Konto überwiesen und den Chef sah man kaum noch. Die Aufträge gerieten ins Stocken, was mir sehr gelegen kam, den nun hatte ich auch unter der Woche manchmal einen Tag frei oder nur einen kurzen Arbeitstag. Während ich anfing, mir wieder Gedanken zu machen, wie ich meine begonnenen Filme zu Ende bekäme und was ich danach versuchen könnte, schauten sich meine Reporter-Kolleginnen nach anderen Jobs um und dadurch entstanden Beziehungen, über die auch ich ab und zu bei neuen Auftraggebern einen Einsatz als Kameratagelöhner bekam. Es sah also schon viel besser aus als bei meiner Ankunft in Berlin, ich hatte einen Fuß drin im Geschäft. Nachdem mich Achim mit Marianne bekannt gemacht hatte, konnte es endlich wieder damit losgehen, dass ich Geld verdiente UND eigene Filme machte.

Die 16-mm-Aufnahmen, die ich unter großen Mühen im Dezember auf dem Land inszeniert hatte, waren jetzt, über ein Jahr später, immer noch nicht fertig vertont. Marianne bestärkte mich darin, einen poetischen Text zu schreiben, den sie mit ihrer weichen Stimme völlig dialektfrei einsprach. Der Film machte dort weiter, wo meine Liveperformance mit den vergessenen Dingen aufgehört hatte. Einen Knalleffekt gab es wieder nicht, aber ich fand die Atmosphäre dicht genug, den Schnitt präzise, den Text perfekt. Marianne hatte ein paar Änderungen daran vorgenommen, gegen die ich mich zunächst sträubte, aber rückblickend musste ich neidisch feststellen, dass sie ganz schnell und ganz genau bemerkt hatte, wo meine Formulierungen zu lasch und zu beliebig waren.

Bereits vorher hatte Tina mir per Post eine Audiokassette mit Aufnahmen von ihrer Band geschickt. Die Band habe sich aufgelöst, aber trotzdem käme sie selbst erst einmal nicht nach Berlin, es sei, wie sie sich ausdrückte, für sie noch etwas zu erledigen. Bestimmt eine neue Affäre, sagte ich mir, denn wenn Tina sich in Schweigen hüllte, steckte meist eine Liebschaft hinter ihrer Geheimnistuerei. Auf der Rückseite der Kassette gab es ein wunderbares Gezupfe von Hans auf der akustischen Gitarre, unterlegt mit einem minimalistischen Bass und einem dezenten Gezirpe von Tinas Synthesizer. Das passte hervorragend zum Film. Die Gitarre zur spröden Schlechtwetterlandschaft und das Gezirpe zu den Kratzern, die ich in das Material geritzt hatte. Die Besonderheit des Filmes bestand inzwischen darin, dass ich in wochenlanger Kleinarbeit in jedes einzelne Bild mit einer Nadel tiefe Kratzer eingefügt hatte. Einen Strahlenkranz um den Kopf der Hinterhofkinoprogrammdirektorenschwester oder zuckende Blitze in die Hände von Gitarren-Hans. Das sah gut aus, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in dem Film nicht viel passierte. Deshalb brauchte ich zusätzlich den Text, der mir aber erst einfiel, nachdem ich die Theaterstückeschreiberin kennengelernt hatte.

Sie kam mit in den Schnittraum der No-Budget-Liebhaber, wo wir die Audiokassetten mit ihrer Stimme und mit der Musik von Tinas Band auf ein perforiertes Magnetband überspielten, wozu ein mannsgroßes Perfobandaufnahme- und Abspielgerät, ein sogenannter Perfoläufer, nötig war. Das perforierte Magnetband ließ sich in den Schneidetisch mit den vielen Rollen und Zahnrädern einlegen und entweder passte man den Ton an das Bild oder das Bild an den Ton an. Jeweils mit Schere und Klebelade. Die Länge des Musikstückes stimmte, da gab es nicht viel zu tun, aber der Text war kürzer als der Film. Damit die Textpassagen an die richtige Stelle gelangten, musste Stille eingefügt werden, wofür es ein spezielles blaues Plastikband gab, das allerdings gerade nicht zu finden war. Einer von den No-Budget-Liebhabern, der im Hinterzimmer an einem tschechischen Projektor herumschraubte, rief mir zu, das Blauband sei im Regal. Das war ein sehr vager Tipp, denn das Regal nahm die gesamte Längswand des schmalen Raumes von oben bis unten ein, vollgestapelt mit nützlichen und nutzlosen Geräten, die eventuell irgendwann einmal zum Filmemachen gedient hatten oder dienen könnten. Marianne stieg auf die Leiter und suchte ganz oben, wo sie eine Filmklappe fand, mit der sie ein paar Mal freudig klappte: die erste, die zweite und die dritte. Ich durchsuchte mehrere Koffer, in denen Baustrahler und Kabeltrommeln verpackt waren, Ersatzmagazine für eine 35-mm-Kamera, Stative in den unterschiedlichsten Qualitäten für Kameras und Lampen, jede Menge Kartons mit Ersatzteilen für optische Geräte, noch mehr Kabeltrommeln und Mehrfachsteckdosen, alles Mögliche, nur kein Blauband. In einer unauffälligen Reisetasche entdeckte Marianne eine aufblasbare Fickgummipuppe, was uns amüsierte. Unser Gelächter sorgte dafür, dass der No-Budget-Liebhaber aus dem Nebenzimmer kam, eine Rolle Blauband in der Hand, und uns erklärte, dass Gummipuppen für Stunts, vor allem für Stürze von Gebäuden, die einfachste Lösung seien. Man müsse sie natürlich entsprechend anziehen, aber das müsse man ja bei allen Stunts. Er legte das Blauband auf den Schneidetisch und verschwand wieder. Als Marianne von der Leiter stieg, erklärte ich ihr, dass man statt des Blaubandes genauso gut unbespieltes Magnetband nehmen könne, wovon genügend neben dem Schneidetisch herumliege, aber mit dem blauen Band sähe das Hindurchschlängeln der geschnittenen Audiospur durch die Zahnräder und Umlenkrollen viel besser aus als bei eintönig braunen Magnetband. Außerdem hatte das den Vorteil, dass sich quasi jeder Texteinsatz vorher ankündigte, denn ähnlich wie die Schlange in dem Computerspiel, das ich so gerne mit Martin spielte, schob sich die Grenze zwischen dem stummen blauen Band und dem bespielten braunen Magnetband von der Spule links kommend durch die Rollen, und wenn das Magnetband in der Mitte an dem großen Tonkopf anlangte, ertönte die Stimme Mariannes, die wir durch Verkürzen oder Verlängern des Blaubandes an die richtige Position brachten. Das schneiden und kleben machte Spaß und die Zeit verging dabei wie im Flug.

Marianne hatte gerade ihre zweite Flasche Bier genommen und saß auf dem Fensterbrett des offenen Fensters, um zu rauchen. Ich wechselte die Musikspur mit der Geräuschspur und versuchte ihr zu erklären, dass ich noch beliebig viele weitere Spuren hinzufügen, aber leider immer nur zwei gleichzeitig am Schneidetisch würde hören können, weil es ja ein 6-Teller-Tisch sei, was bedeute, dass eine Bild- und zwei Tonspuren darauf Plätz hätten. Man müsse höllisch drauf achten, dass alle Spuren auch wirklich synchron seien, sagte ich mit dem Unterton des Bescheidwissenden und Marianne riss die Augen auf, ein schriller Schrei erstickte ihr im Hals, den Arm warf sie vors Gesicht. Dann kapierte ich, dass es nicht die Angst vor einer asynchronen Tonspur war, die ihr den Schock eingejagt hatte, sondern das Regal hinter mir. Schockiert drehte ich mich um. In den Augenwinkeln hatte ich die Gefahr bemerkt und was ich sah, versetzte mich für den Bruchteil einer Sekunde in Todesangst, denn das riesige Regal, das ja bis zu Decke reichte, kippte in seiner ganzen Breite auf mich zu wie eine sich überschlagende Welle in der Brandung. Die schweren Kisten mit den Baustrahlern sah ich direkt auf mich zukommen, ich riss die Hände hoch, doch dann änderten die Kisten ihren Kurs, es fing an zu scheppern und zu klirren, alles fiel auf den Boden und die Lawine der No-Budget-Filmgeräteverleihkisten rutsche mir bis vor die Füße, aber nicht weiter.

Marianne und ich atmeten erleichtert aus. Die Schienen, an denen die Regalböden befestigt waren, hingen schief an der Wand. Sie hatten sich verbogen, aber nur im oberen Bereich gelöst. Durch die Schieflage waren die Kisten aus dem Regal herausgerutscht, zu guter Letzt sogar die Tasche mit der Fickpuppe. Dadurch wurden die Regalschienen entlastet und sie verbogen sich nicht weiter. Wenn das Regal steif gewesen und umgekippt wäre, hätte es mich bestimmt erwischt, da der Raum höher als breit war. Nun kam der No-Budget-Liebhaber aus dem Hinterzimmer angerannt und sagte, dass er schon immer befürchtet habe, die Dübel könnten zu schwach für das vereinte Gewicht des umfangreichen Technikbestandes sein. Wenn das vorhin passiert wäre, dann lägen wir jetzt unter dem Haufen, beschwerte sich Marianne und nahm einen nervösen Schluck aus der Bierflasche. Hoffentlich ist die Bolex nicht im Eimer, erwiderte der No-Budget-Liebhaber, die Arri sei ihnen ja erst neulich geklaut worden und dann hätten sie gar keine funktionierende 16 mm-Kamera mehr. Er wühlte wirr im Technikhaufen herum. Schließlich fragte er, ob wir mit dem Filmschnitt fertig seien, er müsse erst mal aufräumen und den Schreck verdauen. Er solle sich nicht grämen, meinte Marianne, der Fickpuppe sei bestimmt nichts passiert, die sei ja für Stürze vorgesehen. Ich rollte unterdessen meine Tonspurmagnetbänder und den Rohschnitt des Films zusammen, steckte alles in die Tasche und wir gingen, ohne die vereinbarten 20 D-Mark Schnittplatzmiete zu bezahlen.

Für Perfoband, Blauband und die Überspielung von Kassette auf das Perfoband seien auch jeweils soundsoviel Pfennige pro Meter zu berechnen, erklärte ich, als wir die Straße entlangliefen. Marianne war entsetzt. Ob ich denn auch noch dafür bezahlen wolle, dass man uns fast umgebracht habe? Das sei doch keine Absicht gewesen, sondern nur Fahrlässigkeit, die daraus resultiere, dass sich die armen No-Budget-Liebhaber das alles vom Mund absparten und sich leider keine größeren Dübel hätten leisten können, weil sie stattdessen lieber eine Rolle Blauband kauften. Das seien Technik-Onanisten, behauptete Marianne, sie hätte das durch die Entdeckung der Puppe durchschaut und ich solle auch aufpassen, dass ich nicht zu sehr auf all die Zahnräder und Umlenkrollen schaue, sondern auf die Mattscheibe. Den Zuschauer interessiere es nicht, ob dieses komische blaue Band wie eine Schlange im Computerspiel über den Schneidetisch gekrochen sei. Aber wenn ich keine Beziehung zu der Technik habe, mit der ich arbeiten muss, dann macht mir das keinen Spaß. Willst du einen guten Film machen oder willst du Spaß haben? Beides, sagte ich und schüttelte wirr meine Arme. Das ist ein hoher Anspruch. Mal sehen, ob dir das gelingt. Dann nahm Marianne einen großen Schluck und leerte damit auch ihre zweite Bierflasche, die sie an den Straßenrand stellte. Jetzt können wir etwas Trinken gehen, sagte sie, denn wir standen sowieso gerade vor einer von Achims vielen Lieblingskneipen.

25

Also erst mal einen Whisky auf den Schreck. Dann nutzten wir den Münzfernsprecher, um Achim dazu aufzufordern, zu uns zu kommen. Wir brauchten jemanden, dem wir die unglaubliche Geschichte mit dem Regal erzählen konnten. Achim freute sich über unseren Anruf, er müsse sowieso etwas Wichtiges mit Marianne besprechen, aber vorher habe er noch einen dringenden Termin, der nicht lange dauere. Leider im falschen Stadtteil, deshalb sollten wir schon mal unbeschwert ein Bier trinken. Er käme so schnell es ginge und das war letztendlich eineinhalb Stunden später.

Wir unterhielten uns unterdessen zunächst über das Mariannes Projekt, dem Stück über die Doppelkopf spielende Spaß-Guerilla, mit der sie dank Achims Hilfe ganz gut voran käme. Achim quatsche ihr nicht in ihr Projekt rein, wie sie es zunächst befürchtet hatte, sondern er kümmere sich nur um die Rahmenbedingungen. Wenn es ums Kreative ging, ließ er sie in Ruhe und würde ausgiebig an seinem eigenen Drehbuch herumphantasieren. Achim schreibt ein Drehbuch, fragte ich ungläubig und Marianne wies darauf hin, dass sie das Verb Herumphantasieren benutzt habe, wenn es ums schreiben ginge, gäbe es verschiedene Problem. Ich kannte Achim als jemanden, der begeistert mitmachte, aber selbst keine Initiative ergriff. Mangel an Selbstorganisation oder Probleme mit den eigenen Ansprüchen, vielleicht auch einer, der die Aufgaben zu lang vor sich herschiebt. Deshalb hatte Achim chronische Probleme mit dem Studieren und ich wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht, ob er noch für irgendein Fach immatrikuliert war.

Marianne, die Achim erst seit einigen Monaten kannte, meinte, ihr gegenüber habe er sich dahingehend geäußert, dass es ihn nicht interessiere, zu studieren, da ihm der akademische Wissenserwerb zu schwerfällig und unzeitgemäß erscheine, er sei an der Praxis orientiert. Um Kulturmanagement erfolgreich zu betreiben, müsse man keinen Doktor über das Verhältnis von Adorno zur Naturwissenschaft schreiben, habe er gesagt, weil der Agentur-Chef, für den Achim regelmäßig an Werbekampagnen arbeitete, tatsächlich über Adorno promoviert habe. Deshalb wisse Achim, dass es durchaus schädlich sei, wenn eine derartige geisteswissenschaftliche Überqualifikation bestehe. So berichtete Marianne über Achim. Nach meinem Informationsstand bestand Achims Mitarbeit an Werbekampagnen darin, dass er Plakatierer war. Weil er keinen Führerschein hatte, sogar nur Hilfsplakatierer. Man könnte auch sagen, Plakatierungsassistent: abends zu zweit mit dem Leimtopf und einem Stapel Plakaten im Kleinbus durch die Stadt, wobei der Fahrer grundsätzlich weniger mit dem Leim zu hantieren hat, damit das Auto sauber bleibt. Angeblich würde man ganz gut verdienen, wenn man schnell genug plakatiere, wenn man gut im Blick habe, wo ein frischer Bauzaun stehe, der groß genug für 50 Plakate nebeneinander sei oder ab und zu die Plakate der anderen Agentur überklebe. In der Tat könne eine intensive Beschäftigung mit Adorno die Klebegeschwindigkeit negativ beeinflussen, gab ich zu bedenken. Achim rede allerdings nicht nur von seinem Drehbuch, sondern auch von der Drehbuchförderung, die er beantragen wolle, erklärte Marianne. Dazu konnte ich nichts sagen, weil ich nichts darüber wusste, aber ich formulierte die Vermutung, dass Achim nur sehr langsam mit dem Drehbuch vorankommen würde. Das sei wohl zutreffend und das Hauptproblem, räumte Marianne ein. Es gäbe viele Fragmente der Handlung, doch die Anfangsszene bereite ihm die allergrößten Schwierigkeiten, immer wieder komme Achim zu ihr und sage, er hätte einen neuen Anfang und solange er sich nicht entscheide, wie es losgeht, könne er nicht mit dem Schreiben beginnen, geschweige denn fertig werden und so stünde er sich selbst im Weg. Vielleicht sollten wir ihm unter die Arme greifen, als Dreierteam, schlug sie vor, und da kam er gerade herein, entschuldigte sich für die Verspätung, die wegen einer unnötigen U-Bahnbaustelle entstanden sei, aber er hätte gute Nachrichten, denn Marianne könne schon am Wochenende bei einem mit Achim befreundeten Akkordeonlehrer einziehen, eine wunderbare Wohnung im mittelwestlichen Westen, womit Achim den großbürgerlichen Norden von Wilmersdorf meinte.

Marianne schaute allerdings fast so verschreckt wie in dem Moment, als das Regal auf sie niederstürzte, denn sie wusste überhaupt noch nichts von ihrem Umzug. Das könne sie ja auch gar nicht, da sich die Ereignisse gerade überstürzten, aber er, Achim, habe alles im Griff. Die Besitzerin der Wohnung, in der Marianne untergebracht sei, käme vorzeitig aus Südamerika zurück. Ein schwuler Gigolo habe sie hemmungslos ausgenutzt, da hätte sie nun die Schnauze voll von der Copacabana. In zwei Tagen werde sie am Flughafen ankommen, habe sie Achim mitgeteilt. Achim sollte ja eigentlich nur die Blumen gießen. Dass Marianne die kompletten vier Monate ihres Stipendiums in ihrer Wohnung zu verbringen gedenke, sei der Frau in Südamerika gar nicht bewusst gewesen, obwohl Achim ihr durchaus mitgeteilt habe, dass ein junges schriftstellerisches Talent die Wohnung temporär zum Schlafen nutzen werde. Soweit das Problem, aber die Lösung sei bereits unter Dach und Fach, man müsse nur ein bisschen aufräumen und dann den Umzug am Freitag durchführen. Da haben wir ja noch 36 Stunden, scherzte Marianne, wobei Achim einschränken musste, dass der Akkordeonlehrer darum gebeten habe, nicht vor 15 Uhr bei ihm aufzutauchen. Da wir kein Auto hatten, sollte Mariannes Umzug mit der U-Bahn stattfinden. Ihr Hausrat bestand immerhin aus drei Umzugskartons, zwei Schreibmaschinen und sechs Reisetaschen, dazu noch ein Müllsack mit ihrem Federbett und ihr großer Rucksack. Achim als Organisator und Bescheidwisser meinte, das sei alles kein Problem, er bringe noch ein paar Leute mit, Henry werde doch bestimmt auch gern helfen, vielleicht sogar Ulrich. Jeder nehme einen Gegenstand und Karawanen seien ein seit Jahrtausenden bewährtes Transportmittel, besonders effektiv, wenn man es mit der U-Bahn kombiniere. Seinem Optimismus wussten wir nichts entgegenzusetzen, wechselten das Thema, erzählten endlich unser Abenteuer mit dem Regal im Schnittraum. Das erheiterte uns alle, aber Marianne war es dann doch nicht wohl in ihrer Haut. Ein Bier später wollte sie wissen, was das für ein Akkordeonlehrer sei und ob der denn in dieser Wohnung Akkordeon spiele, oder ob da womöglich nicht nur er, sondern auch noch seine Schüler musikalisch aktiv würden, ganz abgesehen davon, dass sie ja eigentlich gar nicht in einer WG zu wohnen beabsichtige. Achim beschwichtigte: Der sei supernett und spiele supergut und es sei ja vor allem superpraktisch, dass das so schnell ginge, weil Achim das super organisiert habe, sie könne ja mal probieren, eine Wohnung zu bekommen, von Mittwoch auf Freitag.

Ja, das war beachtlich, aber was Achim organisatorisch nicht gelang, war die Verfügbarkeit von hilfswilligen Freunden zu gewährleisten, die unsere Karawane bilden sollten. Meine beiden Designer-Mitbewohner hatten irgendeinen geheimnisvollen Termin, wegen dem sie schon seit Tagen tuschelten. Also standen wir zum vorgesehenen Zeitpunkt, Freitag um 14 Uhr, zu dritt in Mariannes Hauseingang und warteten vergebens auf weitere Helfer. Immerhin hatte ich ein ordentliches Transportrollbrett dabei. Da konnte ich die drei Umzugskartons drauf stapeln, legte noch den Müllsack mit dem Federbett oben drauf und wenn ich auch fast nichts sah, konnte ich die Fuhre ohne große körperliche Anstrengung über den Bürgersteig rollen. Achim schaffte es, die sechs Reise- und Umhängetaschen gleichzeitig zu tragen, Marianne schulterte ihren Rucksack und nahm in jede Hand eine der Schreibmaschinen. Sie arbeite ja lieber mit der mechanischen Reiseschreibmaschine, aber es gäbe auch Momente, da sei es unabdingbar, dass sie die elektrische verwenden könne. Zuhause habe sie sogar noch eine weitere riesige Schreibmaschine für großes Papier, also DIN A3. Verschiedene Maschinen für verschiedene Stimmungen. Leider wisse man ja nicht im Voraus, welche Stimmung sich einstelle und sie wisse auch nicht im Voraus, mit welcher Schreibmaschine sie auf diese Stimmung reagieren müsse. Das sei ihr aber dann, wenn sie schreiben wolle, sofort klar. Die elektrische Schreibmaschine sei mit einer Korrekturfunktion ausgestattet, da könne man bis zu 50 Buchstaben mit der integrierten Tipp-Ex-Rolle wieder verschwinden lassen. Das sei für Anträge und Geschäftsbriefe sehr vorteilhaft. Ob aber künstlerisches Schreiben in einer Wohnung, in der ein Akkordeonlehrer sein Unwesen treibe, überhaupt möglich sei, das könne sie zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschätzen.

Inzwischen waren wir am Treppenabgang der U-Bahnstation angelangt. Achim ging mit allen sechs Taschen die erste Treppe hinunter, legte diese unten ab, kam mir entgegen, als ich den ersten Karton runtertrug, nahm sich auch einen, dann wir beide nochmal hoch für den letzten Karton, das Rollbrett und den Müllsack mit dem Federbett. Marianne sagte, ihr Rucksack sei schwer, das Absetzen zu kompliziert und mit dem Rucksack die Treppe rauf und runter zu gehen zu anstrengend, ganz zu schweigen von der Gefahr, dass jemand ihre Schreibmaschinen klaue und beteiligte sich deshalb weder an den Umzugskartons, noch an den Taschen und wir erledigten auch den nächsten Treppenabsatz zu zweit mit der gleichen Prozedur, während Marianne alles überwachte. Einer der drei Kartons enthielt viele Bücher, Mariannes Reisebibliothek, und war schwer zu tragen, aber ansonsten ging es leicht von der Hand, zumal wir keine Eile hatten.

Am Bahnsteig angelangt, ließen wir eine U-Bahn vor unserer Nase wegfahren, damit wir zum Einsteigen alles bereitlegen konnten. Es erwies sich als möglich, das Rollbrett mit allen drei Kartons durch geschicktes Hochlupfen von der Bahnsteigkante aus direkt in die U-Bahn hineinzuschieben. Dadurch verlief auch das Einsteigen reibungslos. Wir fuhren einen Umweg, um einen Umsteigebahnhof zu nutzen, bei dem wir am gleichen Bahnsteig bleiben konnten. Allerdings mussten wir auch noch ein zweites Mal umsteigen, und beim zweiten Mal ging es eine Treppe hoch und zwei runter. Da begannen wir zu schwitzen und die dritte U-Bahn war richtig voll. Die anderen Fahrgäste drückten sich ohne zu murren eng zusammen, um uns Platz zu machen. Zu dritt umringten wir unseren Umzugskartonturm mit der Mülltüte oben drauf.

Achim fing an, uns vorzurechnen, dass er ja auch ein Auto hätte ausleihen können. Wenn er denn einen Führerschein hätte. Aber das Auto hätte er in Pankow abholen, über eine Stunde nach Neukölln fahren und danach wieder zurückbringen müssen. Also zwei Arbeitsstunden. Die Fahrt mit dem Auto von Wohnung zu Wohnung hätte schätzungsweise eine Dreiviertelstunde gedauert, während wir jetzt eine Stunde brauchten, allerdings zu dritt, und so hätten wir unter dem Strich eineinviertel Arbeitsstunden gespart. Fragt sich nur, warum so viel Leute mit den Autos hin- und herführen, wenn doch ein Umzug mit der U-Bahn so schön praktisch sei, fragte Marianne. Alles Opfer der Konsumpropaganda, sagte ich, und Achim versuchte mich mit dem Hinweis zu bestätigen, dass drei Freunde ein Auto ersetzten, wobei er aber konkrete Beispiele, wie er das meinte, verschwieg. Mariannes Problem sei nämlich, dass sie nur zwei Freunde habe, also uns beide. Zwei Freunde langten aber nur, um einen Urlaub zu sparen. Nichtsdestotrotz, erwiderte Marianne, fühle sie sich gerade, als habe sie ausgerechnet jetzt einen Urlaub dringend nötig, trotz ihrer zwei Freunde.

Als wir am Ziel-U-Bahnhof die Treppe hochkamen und Marianne auf ihre Frage, wo denn nun die Wohnung sei, erklärt bekam, dass es jetzt leider noch fünf bis zehn Minuten zu Fuß weiterginge, da setzte sie mit einem großen Seufzer ihre zwei Schreibmaschinen ab und sagte, dass sie das nicht schaffe. Achim, der sich gerade mit den sechs Taschen belud, war nicht aus der Ruhe zu bringen. Kein Problem, sagte er, gehen wir eben zweimal. Marianne wurde in ein Straßencafé gesetzt, drei der sechs Taschen blieben bei ihr, ebenso die Schreibmaschinen und der Rucksack. Wir beiden Männer wollten gerade loslaufen, da hielt uns Marianne zurück, weil sie etwas aus dem obersten Umzugskarton herausholen wollte. Eigentlich wären die Kartons, wie sie sagte, nach der Wichtigkeit ihrer Inhalte gestapelt gewesen, oben sei all das drin, was sie jederzeit und überall brauche, aber durch unsere ständigen Treppauf- und Treppabtransporte seien die drei Kartons inzwischen falsch sortiert. Achim hob also den obersten Karton herunter, dann auch den zweiten und schließlich nahm sich Marianne aus dem untersten Karton zwei Blatt Schreibmaschinenpapier, verharrte dann kurz und nahm noch ein drittes Blatt. Drei genügen auf jeden Fall, sagte sie, ihr könnt jetzt gehen. Während wir die Kartons wieder stapelten, wunderte ich mich über uns. Wir hätten uns durch Mariannes Verhalten durchaus die Stimmung verderben lassen können, aber keineswegs, wir waren beide bester Laune und es amüsierte uns, als Marianne uns als letzten Hinweis hinterherrief, dass wir die Kartons in der Wohnung auf jeden Fall wieder entsprechend ihrer Wichtigkeit zu stapeln hätten. Das taten wir dann auch.

Während wir ohne Gepäck beschwingt zum U-Bahnhof zurückgingen, zeigte sich Achim ausnahmsweise ernsthaft besorgt, denn das Problem mit dem Akkordeonlehrer sei ja wirklich eine tickende Zeitbombe. So wie er Marianne kenne, werde spätestens am Montag die Schreibblockade einsetzen, an der dann vordergründig natürlich der Akkordeonlehrer und sein unermüdliches Akkordeonspiel schuld sein werde, aber letztendlich falle das ja auf ihn, Achim, zurück. Er habe zwar Marianne mit dem Versprechen nach Berlin gelockt, sich um eine Unterkunft zu kümmern, aber diese Verwicklungen in Brasilien habe er ja beim besten Willen nicht vorhersehen können.

Ursprünglich, und das erfuhr ich erst jetzt, habe Marianne während der ganzen Zeit ihres Stipendiums in der Uckermark sitzen sollen, dort stehe ein Stipendiaten-Landhaus für sie zur Verfügung, aber die Unsitte, junge Literaten in trostlose Provinzkäffer zu schicken, wo sie für ein paar hundert Mark pro Monat voll der Dankbarkeit für die Stiftung herumzusitzen hätten, habe schon genügend Talente in die Depression getrieben, und deshalb habe Achim mit dem Heimleiter, also dem Literaturagenten und Kunstkurator des Stipendiaten-Landhauses, den Deal ausgehandelt, Mariannes Anwesenheitspflicht in der Uckermark auf einige Pflichtveranstaltungen zu reduzieren, damit sie ihre Zeit stattdessen in den Wohnungen verbringen könne, die Achim für sie in Berlin organisiere. Dort schreibe sie ja viel besser als in dem Landhaus, das, nebenbei bemerkt, zwar idyllisch an einem See läge, aber trotzdem eine nach DDR stinkende alte Bude sei. Dort würde Marianne sofort in Trübsinn verfallen. Was in Berlin nicht der Fall wäre. Außerdem könne er, Achim, sich in Berlin um sie kümmern, da gäbe es ja immer wieder einiges zu tun, um ihre vielen Alltagsprobleme zu klären.

Als wir am Straßencafé ankamen, war Marianne gut gelaunt. Sie hatte tatsächlich ihre mechanische Reiseschreibmaschine geöffnet und klackerte munter mit den Tasten. Dazu trank sie einen Kaffee und meinte, sie würde uns gern erst einmal ein Bier spendieren, das sei sie uns für die Mühen schuldig. Wir hätten es doch bestimmt noch nicht eilig. Bevor sie in die Akkordeonhölle einziehe, müsse sie noch ein paar Gedanken zu ihrem letzten Willen notieren. Sie sagte tatsächlich Akkordeonhölle und Achim begann erneut mit Lobpreisungen des ach so netten Akkordeonlehrers. Marianne meinte, er solle die Klappe halten, sie hätte ja noch zehn Wochen, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Außerdem würde sie das Theaterstück zu Ende schreiben müssen, was aber, ehrlich gesagt, kein Problem sei, denn sie sei bereits so gut wie fertig, nur noch ein paar Korrekturen.

Wie es mit Achims Drehbuch stehe, wollte sie unvermittelt wissen, was Achim überraschte. Er habe eine neue Anfangsszene, in der die Wohnungsprobleme des tragischen Helden stärker betont würden. Der Film müsse unmittelbar damit beginnen, dass der tragische Held einen Einschreibebrief öffne und von der sofortigen Kündigung seines Mietverhältnisses erfahre. Ich fiel ihm ins Wort: erschwerend könne hinzukommen, dass er kein Auto und nur zwei Freunde habe. Achim nahm einen Schluck Bier, dann erklärte er mir geduldig all das, was ich nicht wusste, was aber Marianne schon etliche Mal angehört haben musste, denn sie warf mir einen verschwörerischen Blick zu und tippte dann in beachtlichem Tempo wieder auf ihrer Schreibmaschine herum. Der tragische Held habe gar keine Freunde, aber ein Auto, denn er sei Taxifahrer. Mit Leidenschaft, er liebe sein Taxi und er liebe die Menschen, die er herumfahre, doch diese positive Grundeinstellung bringe ihm immer wieder nur Ärger ein, immer wieder lehne er sich gegen den allgemeinen Defätismus auf und immer wieder sei er der Verarschte. Erst zum Ende wende sich das Blatt und in einem völlig übertriebenen fantastischen Showdown verschwänden seine Widersacher mitsamt der U-Bahn in einer sich plötzlich öffnenden Erdspalte, Berlin werde von einem Vulkanausbruch weitgehend zerstört und der Held erreiche mit dem letzten Tropfen Benzin die Stadt Schwedt, wo er hinfort ein glückliches Leben mit einer Tankstellenbesitzerin führe.

Was für ein erhabener Schwachsinn, dachte ich mir, dazu wusste ich gar nichts zu sagen, abgesehen davon, dass meiner Meinung nach der Vulkanausbruch schwierig zu filmen sein würde. Marianne lugte hinter ihrem inzwischen vollgeschriebenen Blatt hervor: Achim hätte mir alles falsch erzählt, das Ende sei überhaupt nicht wichtig und könne geändert werden, die liebenswürdigen Details im Alltag des Taxifahrers seien die Stärke der Handlung, soweit sie dies aus Achims bisherigen Schilderungen, die ich ja nicht kennen würde, beurteilen könne. Es gebe so viele Taxifahrer, die sich alle den Film anschauen würden, das sei ein riesiges Potential, bemerkte Achim, der noch nicht mal die Anfangsszene festgelegt hatte, aber offensichtlich schon intensiv darüber nachdachte, wie es in der Kinokasse klingelt. Alles recht unrealistisch, sagte ich. Das ist ja die Stärke des Drehbuchs, entgegnete Achim. Marianne zog mit Schwung ihr Blatt Papier aus der Schreibmaschine und sagte: Genau, das denke ich auch, aber jetzt ist es genug, wir gehen!

26

Wir setzten Marianne in ihrem Zimmer ab, stellten die letzten Taschen um sie herum auf den Boden und da sie sich erbat, alles ungestört auspacken zu dürfen, gingen wir. Obwohl Achim eigentlich immer irgendetwas zu erzählen hatte, schwieg er jetzt.  Und ich auch. Das Straßencafé erinnerte uns an eine glückliche Zeit, die nur eine halbe Stunde zurücklag. Wir waren uns einig, dass es sich nicht lohnen würde, ohne Marianne nochmal dort herumzusitzen. Also fuhren wir ohne Verzögerung und unsere Wege trennten sich bereits nach zwei U-Bahnstationen.

Dann befand ich mich allein zwischen den Menschen, die Zeitungen und Bücher in den Händen hielten. Hatte ich bei der Hinfahrt einen ganzen Umzugskarton voll mit der Reisebibliothek von Marianne dabei, musste ich mich jetzt mit dem zerflederten Rest einer Tageszeitung, die liegen geblieben war, zufrieden geben. Regierungswechsel in Italien, ein gewisser Silvio Berlusconi, Medienunternehmer, hatte die Regierung übernommen. Angeblich unglaublich reich, unglaublich einflussreich und unglaublich manipulativ, schrieb die Berliner Boulevardpresse und versuchte offensichtlich, mich ebenfalls zu manipulieren. Mit einem Foto, das unweigerlich dazu führte, dass einem dieser Mann mit dem selbstgefälligen Grinsen sofort unsympathisch war. Der Text lieferte die passenden Fakten zur impulsiven Beurteilung des Fotos. Das Foto war zweifellos gut ausgewählt worden, oder sah dieser Mensch auf allen Aufnahmen so abschreckend aus? Ich fragte mich, wie viele Agenturfotos am Wahlabend von einem Wahlsieger geschossen werden. Tausende? Wie viele sortieren davon die Fotografen aus? Wie viele Fotos lagen damals einer deutschen Zeitung vor, wenn sie abends die Wahlergebnisse aus dem 2000 km entfernten Rom bekam? Inzwischen hat sich die Anzahl der Fotografen vermutlich vermehrt, die Anzahl der Fotos vervielfacht. Über das Internet schwappt bei jedem öffentlichen Ereignis eine Welle von Bildern über die ganze Welt. Vielleicht hatte damals die Redaktion nur ein brauchbares Bild? Jenes mit dem selbstgefälligen Grinsen. Bestimmt nicht.

Ohne konkreten Grund nahm ich die Zeitung mit, als ich die U-Bahn verließ und nach Hause ging und hoffte, meine beiden WG-Mitbewohner würden in der Küche sitzen. Aber sie wähnten sich gerade auf einer höheren Bewusstseinsebene. Wegen dem Power Mac, den sich Henry am Nachmittag gekauft hatte. Das also war das Geheimnis der beiden gewesen, ein neuer Computer, das Super-Top-Modell, in dem ein Prozessor verwendet wurde, der zu einer neuen Generation gehörte, angeblich sensationell schnell, schneller als die anderen Macs und mit einer Dose, wie damals ein Rechner mit DOS-Betriebssystem genannt wurde, überhaupt nicht zu vergleichen.

Leider gab es keine Möglichkeit, mir diese Rechenleistung zu demonstrieren, denn die beiden schoben stapelweise 3,5-Zoll-Disketten in das Laufwerk und installierten irgendwelche Software, wobei sie von jedem Programm behaupteten, dass es total geil sei. Ab und zu begeisterten sie sich für eines der Computergeräusche, die der Mac ausstieß. Mich erheiterte ihre merkwürdige, kindliche Freude. Ansonsten schaute ich ihnen mit nur mäßigem Interesse über die Schulter. Nebenbei erzählte Henry, dass die Kiste schweineteuer gewesen sei, aber die Firma, in der er arbeite, habe einen großen Auftrag von einem Automobilkonzern bekommen. Eine ganze Serie hochwertig gestalteter Broschüren für eine neue Zielgruppe, kombiniert mit einer darauf abgestimmten Internetseite, und weil sie dafür weitere Leute einstellen wollten, sei er in der Hierarchie nach oben gerutscht. Es sei damit zu rechnen, dass er im nächsten halben Jahr total ranklotzen müsse, aber er habe sich schon einmal im Voraus dafür belohnen wollen. Er sei ja einer der ersten in der ganzen Stadt, der so einen Power Mac besitze. Zwar gelang es ihm nicht, mir begreifbar zu machen, worin der technologische Quantensprung, der diesem Computer nachgesagt wurde, bestand, trotzdem herrschte bei beiden Designern ungetrübte Weihnachtsstimmung. Was wird aus dem kleinen? fragte ich mit Unschuldsmiene. Den kannst du haben, antwortete Henry, Ulrich will ihn nicht. Ulrich erklärte, dass er sich demnächst auch einen Power Mac holen würde, er müsse nur noch ein bisschen sparen und Henry fuhr fort, dass ich auf jeden Fall den alten Mac nehmen solle, denn mir traue er zu, dass ich mir aus reinem Pragmatismus, oder gar aus Sparsamkeit, eine Dose kaufen könnte und das müssten sie, Ulrich und er, als kulturbewusste Menschen auf jeden Fall verhindern, einerseits, um mich vor diesen abscheulichen Windows-Rechnern zu bewahren, andererseits wäre die Harmonie unsere Wohngemeinschaft durch eine solche Inhomogenität der Betriebssysteme ernsthaft gefährdet. Wer einen DOS-Rechner hat, den will Henry nicht als Freund haben, warf Ulrich ironisch ein. Das will ich wirklich nicht, meinte Henry mit unerwarteter Ernsthaftigkeit. Vierhundert und er ist deiner! Außerdem würde es ihm den Abschied erleichtern, wenn der kleine Mac im Haushalt bleibe. Das dachte ich mir auch, aber umgekehrt, denn es wäre ja ganz praktisch, wenn ich den Rechner von Henry übernähme. Dann könne er mir helfen, wenn ich nicht weiter wüsste, sagte ich. Du wirst keine Hilfe brauchen, das sei ja das Gute an dem Gerät, während bei einer Dose ein Technikfreak für den Computer und ein Psychiater für die mentalen Folgeschäden erforderlich seien. Trotzdem käme bei der Benutzung nichts Brauchbares raus. Ulrich nickte zu Henrys Polemik.

Ich ging in mein Zimmer und sah die alte Schreibmaschine auf meinem Arbeitstisch stehen, im Regal daneben die vielen Aktenordner mit den abgehefteten Ideensammlungen, Zeitungsausschnitten und Entwürfen. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um den Schreibmaschinenschutzdeckel vom obersten Regalbrett herunterzuziehen. Dann stülpte ich ihn über die Maschine und schob sie unter den Schreibtisch. Ich hätte sie auch gleich in den Keller bringen können, denn ich benutzte sie tatsächlich nie wieder, kein einziges Mal. Ohne Henry und Ulrich bei ihrer wichtigen Installationstätigkeit am Power Mac zu stören, holte ich mir den kleinen Mac aus Henrys Zimmer, stellte ihn auf meinen Schreibtisch. Er sah gut aus, aber bevor ich ihn einschaltete, ging ich zum Geldautomaten und zog die gewünschten 400 Mark. Ulrich und Henry staunten, als ich das Geld auf den Tisch legte. Ich glaube, sie wollten etwas Witziges sagen, aber es fiel ihnen nichts ein. Während sie noch nach Worten suchten, klingelte das Telefon. Es war Marianne, die sehr paranoid klang: Hörst du es? Es ist so weit, er spielt. Dann verstummte sie und so sehr ich mich auch bemühte, etwas zu hören, waren es doch nur verwaschene Geräuschfetzen, die aus dem Hörer drangen. Akkordeonmusik konnte ich beim besten Willen nicht wahrnehmen. Er spielt, sagte sie. Hörst du es nicht? Ich meinte, es sei sehr leise. Ja genau, das ist das Problem, erwiderte Marianne, es sei so leise, dass es sie in den Wahnsinn triebe. Wäre es noch leiser, würde sie es gar nicht hören, wäre es etwas lauter, könnte sie es als Musik empfinden, aber es sei dazwischen, so dass sie die Musik nicht hören würde, solange sie auf den Tasten ihrer Schreibmaschine herumklappere, aber sobald sie eine Pause einlege, dringe die unterschwellige Akkordeonmusik in ihr Hirn ein und lege sofort alle Bereiche lahm, die dazu geeignet wären, Literatur zu erzeugen. Was sollen wir dagegen unternehmen? fragte ich. Marianne antwortete überraschend gefasst: Nichts! Sie müsse sowieso noch mal in die Uckermark, dort könne sie zwei Tage länger bleiben, um die letzten Korrekturen am Stipendiaten-Text vorzunehmen und danach wäre die verbleibende Zeit in Berlin am besten damit zu nutzen, dass sie Akkordeon lerne, oder hätte ich eine bessere Idee? Oh ja, da fielen mir mehrere auf Eis liegende Projekte ein, bei der ihre Hilfe wertvoll sein könnte, oder der Zeichentrickfilm und mein neuer Computer. Das würde wohl genügen, sagte sie, unterbrach kurz das Telefonat, weil offensichtlich jemand mit ihr redete und berichtete mir dann, dass die Freundin des Akkordeonlehrers sie gerade darauf hingewiesen habe, dass in wenigen Minuten ein Gemüseauflauf serviert werde, um sie in der Wohnung willkommen zu heißen. Dann sei doch alles bestens, sagte ich, aber Marianne verriet mir flüsternd, dass sie weder Gemüseaufläufe noch WG-Kochabende leiden könne. Doch als kleine Stipendiatin habe man ja keine Wahl, man müsse das alles über sich ergehen lassen, diese Begrüßungs-, Verabschiedungs-, Kennenlern- oder Belobhudeligungsveranstaltungen, Bergfeste, gesellige Abende, Besichtigungen und Einladungen bei Kulturfunktionären und Bürgermeistern. Aber sie sei im Kapitalismus angekommen und habe kapiert, was man für die 800 Mark pro Monat von ihr erwarte. Das Schreiben ihres Theaterstücks würde sie umsonst und sowieso machen, daran könne sie niemand hindern. Das Geld sei zum Überleben und für den Kulturrummel. Ich mischte mich ein: Der Gemüseauflauf werde das Verhungern verhindern und das gemeinsame Essen Hinweise auf die sozialen Gesetzmäßigkeiten ihrer neuen Wohnstätte geben, das diene doch letztendlich alles dem Erkenntnisgewinn und ohne Erkenntnisgewinn habe man nichts mitzuteilen und damit seine Berechtigung als Literat verwirkt. Widerspruchlos nahm Marianne meine Belehrung hin, sie gab sogar zu, dass sie Hunger habe und sowohl der Akkordeonlehrer als auch seine Freundin sympathische Menschen zu sein schienen. Sympathisch genug für ein Abendessen allemal, wenn sie nur nicht mit ihnen wohnen müsste, das beunruhige sie sehr. Ich wünschte ihr Guten Appetit und legte auf.

Danach kochte auch ich einen Topf Nudeln, aber meine beiden Mitbewohner waren nicht von ihrem Computer wegzulocken, sie hockten da den ganzen Abend. Ich hatte keine Ahnung, was es so lange zu tun gab.

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Das einzige, was einen noch schlechteren Ruf als die Fernsehberichterstattung des Privatfernsehens hatte, waren die Seifenopern. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gab es die noch gar nicht. Seifenopern dreht man in einem Studio, das man sich als Mischung aus Möbelhaus und Lampenladen vorstellen muss. Unten sind die einzelnen Handlungsorte aufgebaut, also die Stammkneipe, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Küche. Oben drüber hängen unglaublich viele Scheinwerfer. Die Schauspieler und diejenigen, die als solche bezeichnet werden, spielen dann ihre Dialoge und werden von drei bis vier Kameras gleichzeitig gefilmt. Ab und zu muss dann doch mal eine Szene in der realen Welt gedreht werden, also auf Straßen oder im Wald, aber auch an Schauplätzen, für die es sich nicht lohnt, sie im Studio aufzubauen: Schwimmbad, Fitnessstudio, Parkhaus. Durch eine glückliche Fügung war ich als Kameraassistent bei dem Team gelandet, das nur diese Außenaufnahmen im klassischen Stil mit einer Kamera drehte, wofür zwei bis drei Tage pro Woche veranschlagt waren. Anstrengende, lange Tage, meist Donnerstag und Freitag. Der Kameramann war viel älter als ich und hatte sein Leben lang immer mit chemischem Film gearbeitet, was damals bei Filmen und Serien normal war. Die neumodischen Videoapparate waren ihm suspekt und nicht vertrauenswürdig. Aber jetzt waren wir bei den Pionieren der Billigunterhaltung gelandet, wo man erkannt hatte, dass Fernsehreportagekameras für die Umsetzung banaler Handlungsstränge schneller, billiger und trotzdem gut genug waren. Meine Aufgabe bestand darin, den Kameramann von seiner Angst, die Videoaufzeichnung könne versagen, zu befreien. Ansonsten machte ich, was Assistenten eben machen: Technik transportieren, aufbauen, umbauen, abbauen, Akkus wechseln, Akkus laden, Kassetten beschriften und dafür wurde ich überraschend gut bezahlt. Dem Job bei der kleinen Produktionsfirma weinte ich unter diesen Bedingungen keine Träne nach. Der Chef war inzwischen untergetaucht und die Rechnungen und Mahnungen, die ich ihm schickte, hätte ich mir sparen können, das Honorar der letzten drei Monaten kam nie bei mir an. Aber die Seifenoper sanierte mich schnell und in jeder Woche hatte ich nach den zwei Arbeitstagen fünf Tage frei. Zunächst am Wochenende entspannen und dann blieben noch drei Tage für andere Auftraggeber oder eigene Filme.

Im Hinterhofkino startete der Hinterhofkinoprogrammdirektor eine wöchentliche Reihe mit unabhängig produzierten Kurzfilmen. Um sicher zu sein, dass meine Werke regelmäßig vertreten wären, half ich bei der Organisation und versprach, ab und zu auch mal als Vorführer mitzumachen. Allerdings stellte sich bald heraus, dass Super-8-Filme nur die Ausnahme bilden sollten und deshalb brauchte ich dringend noch mehr Werke auf 16 mm. Auch in anderen Bars, die sich kulturell ein bisschen aufplustern wollten, hatte man inzwischen einen der unzähligen tschechischen Filmprojektoren in der Ecke stehen, die alle angeblich aus irgendwelchen DDR-Kulturinstitutionen stammten. Je nach angestrebtem Subkulturintensitätsgrad gab es wöchentlich, monatlich oder unregelmäßig Filmabende mit den Werken der cineastischen Basis, zu der ich mich zählen durfte. Außer dem „Abschied“ hatte ich inzwischen zwei kurze und sehr einfache Zeichentrickfilme auf 16 mm fertiggestellt, ein dritter war in Arbeit. Da ich mir in den Kopf gesetzt hatte, diesmal alle Zeichnungen farbig auszumalen, gab es an meinen vielen freien Tagen viel zu tun, damit ich bei vielen Filmabenden mit dabei sein konnte. Viele Zuschauer gab es da leider nicht. Fünfzehn bis fünfzig, manchmal auch nur fünf. Wenn dann die Filme zu Ende waren, kamen Gäste, die nur trinken wollten und quatschten schlau daher. Filme? Wie interessant, was denn für welche, muss ich mir mal anschauen. Aber dann nie wieder auftauchten. Trotzdem kam ich ganz gut herum, lernte andere Filmkulturpartisanen kennen und kannte inzwischen mehr Szenekneipen als Achim und Martin. Immer noch entstanden viele verborgene oder halblegale Bars im Ostteil der Stadt und es war die Zeit, in der es sich einbürgerte, jeden banalen Tresen, an dem ein paar Trinker lehnten und dabei Musik hörten, als Club zu bezeichnen. Durchs Nachtleben zu streifen, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, wo ich mich mit meinen Filmen reindrängeln konnte, gehörte zu meinem selbstgewählten Kulturauftrag. Jetzt hatte ich die richtigen Rahmenbedingungen dafür, denn abgesehen von meinen Arbeitstagen bei der Seifenoper oder anderen Kameratagelöhnerjobs konnte ich lang schlafen, ausgiebig Kaffee trinken und dann zeichnen. Manchmal kam jemand vorbei, um mir dabei zu helfen, am häufigsten Marianne. Ihr Leben beim Akkordeonlehrer schien gar nicht so quälend zu sein, wie von ihr vorhergesehen. Das gab sie aber nicht zu. So wie sie redete, war die Welt ihr gegenüber grundsätzlich feindselig und stellte sich ihrem Schreibbedürfnis in den Weg. Das Schreiben musste in einem permanenten Kampf gegen diese Widrigkeiten verteidigt werden. Die Angst, zu versagen und ganz hineinzufallen in die Geborgenheit der kapitalistischen Lohnarbeit kostete uns eine Menge Kraft. Auch Marianne schien diese Angst zu spüren, dabei war sie noch ganz unschuldig: Vier Semester Germanistik und Kulturwissenschaften, dazu ein paar Literaturwettbewerbe und das Stipendium, da musste sie sich noch nicht positionieren. Ich merkte trotzdem, wie sie das, was ihr eigentlich helfen sollte, das Studium und das Stipendium, als Widerstand empfand. Ulrich war zu dem Zeitpunkt sehr zufrieden, weil es ihm gelang, anspruchsvolle Aufträge zu bekommen, kritischer Fernsehjournalismus, während Henry ganz in die Propagandamaschinerie des Autokonzerns hineingetaucht war. Wenn wir uns ab und zu zuhause trafen, schwärmte er nicht nur von den schier unbegrenzten Möglichkeiten und Budgets, die seiner Agentur für die Werbekampagnen zur Verfügung standen, sondern auch von technischen Details und Design-Finessen der Autos. Er hatte eine charmante, intellektuelle Art, wie er von seiner Arbeit erzählte. Seine eingestreuten ironischen Bemerkungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er voller Enthusiasmus dabei war. Mit Bewunderung beschrieb er, welch technische und organisatorische Aufwand betrieben wurde, um die bestmöglichen Fotos an den schönsten Orten der Welt zu machen und, sofern nötig, auch noch die schönsten Frauen daneben zu stellen, neben das Produkt. Aber bald sei das ausgereizt, meinte er, inzwischen werde jeder Kaugummi mit einem Hubschrauberflug über die Skyline von Manhattan beworben, das ginge nicht mehr lange so weiter. Da kommt dann irgendwann jemand, der macht eine Werbekampagne, die sieht SO aus, und dabei deutete er auf die Trickfilmzeichnung, bei der ich gerade den Himmel blau ausmalte. Bestimmt nicht, das ist viel zu schlampig, meinte ich, doch Henry ließ sich nicht beirren. Ihm würden die Zeichnungen gefallen, das sei ein schöner Gegenentwurf zu dem super-perfekten Design, das er bei der Arbeit abliefern müsse. Irgendwann werde ein Marketingexperte diesen Stil als zielgruppenrelevant erkennen und ausnutzen. Auch eine Ästhetik, die aus der Abgrenzung entstanden sei, könne instrumentalisiert werden, es ginge nur darum, die Kommunikationskanäle soweit einzugrenzen, dass die Zielgruppen herausgefiltert werden könnten. Da die Digitalisierung langsam in Fahrt käme, sei er zuversichtlich, dass wir diese Eingrenzung der Kommunikationskanäle noch erlebten und dann werde die Werbung wie ein Kumpel sein und könne sowohl schäbig oder schlampig aber auch extravagant daherkommen. Ich protestierte. Meine Zeichnung sei analog und meine kleine Zielgruppe werbefeindlich. Sie solle vor dem Kapitalismus geschützt und ihm nicht ausgeliefert werden. Henry durchschaute, wie blauäugig ich in dieser Hinsicht war. Er versuchte mir zu erklären, was ich nicht verstehen wollte: Auf meine Zielsetzung käme es gar nicht an, ich habe da alle Freiheiten, aber es sei nur eine Frage der Zeit, bis jemand versucht, meine Zielgruppe mit meinen Stilmitteln anzubaggern. Je konsumkritischer eine Zielgruppe sei, desto unauffälliger und verlogener müsse sich die Werbung unter falscher Flagge einschleichen, anbiedern, aufdrängen. Jahre später, als ich den Fischfilm, den ich damals malte, ins Internet stellte, erschien neben ihm tatsächlich eine Werbung für Aquarien und Zierfische. Als ich die Werbung sah, erinnerte ich mich an Henrys Prognose und atmete auf. Diese Zielgruppentreffgenauigkeit empfand ich keineswegs als Gefahr, weder für mich noch für meine Freunde, die selbst entscheiden konnten, ob sie Zierfische haben wollten. Dabei ging es bei meinem Zeichentrickfilm gar nicht um Fische, sondern um ein kleines Mädchen, das beim Angeln ins Wasser fällt, in das Fischernetz eines Kutters gerät und in der Dosenfischfabrik gerade noch gerettet wird. Das war eine witzige Geschichte, die nichts mit Systemkritik zu tun hatte, aber sie war außerhalb der Mechanismen der Unterhaltungsindustrie entstanden, gehörte zur Subkultur und deshalb störte es nicht, wenn sie ungelenk hingekritzelt war. Ich gab mir beim Zeichnen wenig Mühe. Ein begnadeter Zeichner war ich sowieso nicht. Dieser schlampige Stil vergrößere die Distanz zu den professionellen Filmen und genau das gefiel meinen Zuschauern in den Hinterhofkinos und Subkulturkneipen. Weil die Hintergrundflächen in jedem Bild mit Wachsmalkreiden von Hand ausgemalt waren, flimmerten dieses Flächen im Film. Dieser Effekt verstärkte sich noch, weil alle freiwilligen Gehilfen beim Kolorieren einen eigenen Stil pflegten. Ungefähr zwei Monate lang sollten meine Freunde spontan oder angekündigt vorbeikommen, um mir dabei zu helfen 1200 DIN-4-Zeichnungen auszumalen und wurden mit Kaffee, Kuchen, Wein und Bier versorgt. Henry kolorierte ganz präzise, aber er hatte gleich einschränkend gesagt, er werde nur Kleinigkeiten ausmalen, zum Beispiel Schuhe oder Mützen, keine großen Flächen. Martin kam gar nicht, er war zu beschäftigt und Ulrich, der nur einmal mitmachte, drückte die Stifte nicht richtig auf, so dass es bei ihm alles nach Pastellfarben aussah. Marianne hingegen war praktizierende Ausmalanarchistin, die sogar große Hintergründe kreuz und quer kritzelte, wie es kleine Kinder machen. Achim versuchte es ordentlich, schaffte das aber nie, manchmal verwechselte er sogar die Farben. Sabine war stilistisch merkwürdig uneinheitlich. Beim ersten Mal hatte sie ihre Kind dabei und schraffierte ein paar große, blasse Flächen, dann musste sie sich um ihre quengelnde Tochter kümmern.

Ein paar Wochen später kam sie allein. Diesmal bemalte sie mittelgroße Flächen von außen nach innen. Wie bei einer Landkarte, sagte ich, und sie meinte: Wie eine Geografin. Ob sie sich denn als Geografin fühle, fragte ich, aber sie meinte, sie fühle sich vor allem als Mutter, auch wenn sie zurzeit einige Seminare besuche. Mehr Seminare als in der Zeit vor der Schwangerschaft. Sie wisse ja gar nicht mehr, was sie damals alles vom Studieren abgehalten habe. Rückblickend erschien es ihr, als sei überhaupt keine Zeit zum Studieren gewesen, ständig Verabredungen und wichtige Veranstaltungen, all diese bedeutenden Kultur-Events, Filmfestspiele, Biennalen und Ausstellungseröffnungen, Wochenendausflüge, Kurztrips quer durch Europa und ab und zu auch mal eine Affäre, wobei die Wochenendausflüge und Kurztrips meist mit den Affären gekoppelt gewesen seien und die Kultur-Events und Ausstellungseröffnungen dazu gedient hätten, diese einzuleiten.

Jetzt habe sie NUR das Kind, das durchaus seine Zeit beanspruche, aber das sei letztendlich eine gute Zeit. Ansonsten kümmere sie sich um das Studium, das so gut wie fertig sei. Und dann? fragte ich, obwohl es mich gar nicht interessierte. Eigentlich wollte ich mehr über Sabines Affären hören, aber das „Und dann?“ war reflexartig herausgerutscht und ebenso reflexartig begann Sabine wieder davon zu erzählen, dass sie sich eine Doktorandenstelle unter den Nagel reißen könne, in Berlin oder anderswo, wobei das anderswo mit dem Kind nicht mehr so günstig sei wie damals, als sie kinderlos war. Während sie erzählte, kreiste ihr Stift beim Ausmalen und sie schaute ihn konzentriert an. Die langen blonden Haare fielen mit den Spitzen bis auf das Papier und bildeten eine Verbindung zwischen ihr und der Zeichnung. Schließlich bemerkte sie, dass ich sie anschaute und warf mir einen kurzen liebevollen Blick zu, dessen Interpretation mich in Zweifel stürzte. Sollte er bedeuten, dass sie dringend die nächste Affäre brauchte, und zwar mit mir, oder war es die kumpelhafte Beschwörung, dass wir uns, nach all den Affären, die sie mit anderen haben würde, immer noch gut verstehen könnten?

Vermutlich Letzteres, denn als sie weiter über ihre Berufsaussichten redete, ließ sie sich doch noch zur Schilderung einer unergiebigen Liebschaft mit einer Person aus dem Lehrkörper, wie sie ihn bezeichnete, hinreißen. Das ließ offen, ob es sich um einen Assistenten, einen Dozenten oder einen Professor gehandelt hatte. Doch wie ich sie inzwischen einschätzte, war es mindestens ein Professor gewesen, wenn nicht sogar der Institutsleiter. Der Sex sei so fade und die dazugehörige Person so eingebildet gewesen, dass sie verbrannte Erde habe zurücklassen müssen und jetzt sei die von ihr zunächst als gut eingeschätzte Jobperspektive extrem aussichtslos. Es sei in der Tat sehr töricht von ihr gewesen, sich auf dieses Verhältnis einzulassen, aber der Charme und die tadellosen Maßanzüge der fraglichen Person hätten sie schwach werden lassen. Im falschen Moment und als strategische Maßnahme zur Verbesserung der Karriereperspektive total kontraproduktiv. Er habe es ja darauf abgesehen gehabt, dass sie einmal pro Woche seine Fickgespielin sein sollte, vielleicht auch noch auf zwei Dienstreisen pro Jahr, aber bei ihr sei die sexuelle Anziehung ganz schnell in puren Ekel über die Selbstgefälligkeit der fraglichen Person umgeschlagen. Jetzt habe sie den Salat. Wenn sie bis zum Ende ihrer Diplomarbeit das unkritische Betthäschen geblieben wäre, sähe alles besser aus. Dann schnappte sie sich eine neue Zeichnung und malte einen der vielen Fische knallrot aus, was falsch war, die Fische sollten bräunlich-grün sein. Aber ich war von ihren offenherzigen Ausführungen so überrascht, dass ich darauf verzichtete, sie wegen dieses Fehlers zurechtzuweisen.

28

In dem Moment kam Marianne dazu, unangekündigt, aber sie wusste ja, dass ich am Wochenende mit den Farbkreiden am Tisch saß und auf Gäste wartete. Keinen Kaffee, sagte sie, sie müsse jetzt dringend zur Beruhigung ein paar Fische anmalen, und obwohl ich ihr Sabine vorstellte, nahm sie diese so gut wie nicht zur Kenntnis, sondern ereiferte sich darüber, dass Achim ruhig gestellt werden müsse, er liege ihr ständig mit seinem Taxifahrer-Epos in den Ohren. Sie könne das nicht mehr hören, es sei höchste Zeit, dieser Misere konstruktiv in die Augen zu blicken.

Beim Hinsetzen deutete sie auf Sabines letztes Blatt und erklärte, es freue sie, dass endlich auch rote Fische in meinem Zeichentrickfilm erlaubt seien. Ich sagte nein, aber das beeindruckte sie gar nicht, vielmehr schnappte sie sich den roten Stift und ein Blatt vom Stapel und schon wurde der nächste Fisch rot angemalt, denn es könne ja nicht sein, dass Sabine rote Fische malen dürfe und sie nicht. Mein langweiliger Realismus, die Fische grünlich-bräunlich und blau schimmernd auszumalen sei sowieso ziemlich verklemmt. Das sagte sie, als Sabine gerade wieder, so wie es von mir vorgesehen war, die blaue Kreide nahm, um einen Fisch auszumalen. Dann fuhr Marianne fort: Achim käme unter dem Vorwand, er müsse die Lage zwischen ihr und dem Akkordeonlehrer beobachten, beschwichtigen oder beruhigen, jeden zweiten Tag bei ihr vorbei und erzähle ihr eine neue Variante seiner Filmideen. Speziell die Anfangsszene sei permanenten Änderungen unterworfen. Das gehe nicht so weiter, aber wozu hätte ich denn diesen hübschen kleinen Computer gekauft, der sei doch wie dazu geschaffen, dass wir uns zu dritt hinsetzten und die schwachsinnigen von den grandiosen Ideen trennten und den Drehbuchentwurf in ein Textverarbeitungsprogramm hineintippten, damit Achim diese Version für seine Anträge von Fördergeldern und sonstigen Akquisitionsbemühungen nutzen könne.

Ob es sich bei Achim um den Achim handle, den sie schon aus unserer süddeutschen Zeit kenne, fragte Sabine. Als ich das bejahte, meinte sie, dass sich das nicht lohne. Achim hätte sie schon zweimal in Diskussionen verwickelt und ihre Einschätzung laute: Achim sei schlicht und ergreifend ein Großmaul, aber kein kreativer Geist. Wenn sie nun höre, dass er immer wieder neue Ideen anbringe, dann müsse sie aus ihrer Erfahrung sagen, dass Ideen, die sich ständig wandelten, genauso nutzlos seien, wie nicht vorhandene Ideen. Der Prozess, der jetzt beginne, entgegnete Marianne, bestehe in der Festlegung. Ideen diskutieren, formulieren, hinschreiben, ausdrucken, Antrag stellen, fertig.

Großmaul sein sei eine der immer wieder unterschätzten Charaktereigenschaften, behauptete ich. In unserer Gesellschaft der Chancengleichheit müsse man leider unglaublich viele Konkurrenten in den Schatten stellen. Dabei könne ein großspuriges Auftreten die Ausgangsbedingungen durchaus verbessern. Sabine malte den nächsten Fisch bräunlich-grün an, widersprach mir aber vehement. So wie sie das Wort Großmaul verstehe und benutze, bedeute es, dass die entsprechende Person keineswegs ein gesundes Selbstvertrauen habe, was durchaus eine gute Ausgangsposition für jegliches soziale Handeln sei, sondern dass es sich um eine Person handle, deren Qualifikationen deutlich und offensichtlich von der Selbsteinschätzung und -darstellung abwichen, und zwar im defizitären Sinn. Und dies sei bei Achim der Fall. Es mache wenig Sinn, seine fixen Ideen aufzupäppeln. Das solle uns aber nicht davon abhalten, ihn als Freund zu schätzen oder sich mit ihm die Zeit zu vertreiben. Wir könnten auch seine durch und durch subjektive Wertschätzung nutzen, um unser eigenes Selbstvertrauen damit zu pflegen. Denn so wie sie es erlebt habe, sei Achim vermutlich mein größter, oder zumindest mein lautester Fan und sie, Sabine, könne sich gut vorstellen, dass er auch Mariannes Werk genauso lautstark anpreise. Ja, das würde er manchmal tun, doch zur Zeit redet er nur von seinem Taxi-Film an, beschwerte sich Marianne, und sie sei tief in seiner Schuld, dass müsse sie zugeben. Achim kümmere sich in der Tat unermüdlich um viele ihrer Angelegenheiten. Außerdem sähe sie durchaus Potential in Achims Drehbuchidee, es gäbe in der Kultur- und Kunstszene eine gewisse Unberechenbarkeit, und das Thema Taxi, da müsse sie Achim Recht geben, passe gut zum urbanen Zeitgeist. Es komme eben darauf an, wie man es ausgestalte. Außerdem ginge es ja nur darum, ein Treatment zu schreiben, oder ein Exposé, eben einen Text, in dem drin steht, wie man sich den Film vorstellen müsse. Damit könne man dann Drehbuchförderung beantragen. Und bekommen, aber bis dahin vergehe erst einmal ein Jahr. Sie könne dann helfen, wenn das Drehbuch ausgearbeitet werden soll. Sie wisse schon, dass es beim Film lukrativere Möglichkeiten gäbe als beim Theater. Außerdem gehöre es manchmal auch dazu, und bei dieser Erklärung wandte sie sich explizit an Sabine, das Unwahrscheinliche und Außergewöhnliche zu versuchen, denn das Normale, Naheliegende und Rationale machten sowieso viel zu Viele. Sie könne durchaus grüne Fische malen, aber nur, wenn es sein müsse.

Ja, es muss sein, sagte ich mit Bestimmtheit und dabei nahm ich ihr den roten Stift aus der Hand, mit dem sie gerade weitermachen wollte. Das sei mein Film, ich habe tagelang dafür gezeichnet, wochenlang, monatelang. Wer sich bereit erklärt, mir beim Ausmalen zu helfen, hat sich der stillschweigenden Übereinkunft zu unterwerfen, dass meine Vorgaben eingehalten würden. Wer rote Fische malen wolle, könne dies ausgiebig zuhause in Öl und auf Papier praktizieren, aber nicht bei mir. Jawohl Chef, sagte Marianne, und Sabine wiederholte diese prägnante Formulierung ebenso zackig, also mit der gleichen Mischung aus Ironie und Zustimmung. Ob denn Achim eine Beziehung mit Marianne anstreben würde, fragte Sabine, als wir uns alle drei über die Zeichnungen beugten und weitermalten. Ohne hochzuschauen antwortete Marianne, dass dieses Thema schon lange geklärt sei, da gebe es nichts mehr zu diskutieren. Nachdem sie ihn abblitzen habe lassen, sei er zum großen Bruder mutiert, der sich für all ihre irdischen Probleme verantwortlich fühle. Ich wunderte mich, wieso ich das nicht wusste aber ich hatte ja nie gefragt.

Marianne begann nun, über ihren Ex-Freund herzuziehen, der ebenso wie Achim einen Helferkomplex habe und der aus gutem, wenn nicht gar allerbestem Hause käme, was ihn damals, zu Abiturzeiten, erst recht dazu animiert habe, sich der hilfsbedürftigen Mitschülerin mit den romantischen literarischen Ambitionen anzunehmen. Das habe sie gar nicht leiden können, und sie scheiße auf die gute Beziehung, die der Vater ihres Ex-Freundes sowohl zum Lektor, als auch zum Direktor des ortansässigen bedeutenden Verlagshauses gehabt habe. Wenn die Typen älter seien, wollten sie sich eine junge Geliebte als Statussymbol halten, wenn sie jung seien, nähmen sie eine Künstlerin, die dann wie ein Rennpferd gehegt und gepflegt werde, damit man sie erfolgreich ins Rennen schicken könne, aber das funktioniere nur mit den schlechten Künstlerinnen, die durch diese umfangreiche Unterstützung und vielfachen Beziehungen trotzdem gut im Geschäft seien. Wenn nicht sogar besser als die tatsächlich guten Künstlerinnen! Am Anfang könne man als begabtes, ungesponsertes Individuum noch mithalten, aber die Zeit arbeite für die Rennstall-Künstlerinnen, sie hätten den längeren Atem in Form der monatlichen Leibrente und ihrer mit allen Wassern gewaschenen Unterstützer. Man könne sie nur ausbremsen, indem man es schaffe, unmittelbar nach dem Studium in die Professionalität zu springen, mit all den dazugehörigen Risiken. Risiken, wie die überall lauernden Typen aus der Unterhaltungsindustrie und Werbebranche, die unzählige junge Talente abfingen, damit die einfacheren Gemüter unter ihnen Seifenopern und die anspruchsvolleren Werbekonzepte produzierten. Ich reagierte nicht auf ihren Seitenhieb. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die vielen Details meiner eigenen Zeichnung und behielt dabei die malerischen Aktivitäten der Frauen im Blick. Ich bearbeitete die komplizierten Motive, ganz davon abgesehen, dass ich sie mir ausgedacht hatte.

Sabine und Marianne blieben noch lang, mehrere Stunden, redeten sowohl miteinander als auch mit mir, aber sie erweckten den Eindruck, als könnten sie nichts miteinander anfangen. Es schien mir, als warteten beide darauf, dass die andere endlich ginge, damit die Zurückbleibende über die andere lästern könnte. Ich fühlte mich nicht behaglich dabei, malte und malte, während das Gespräch sich immer mehr um die üblichen, banalen Berliner Kulturthemen drehte, was schließlich unverfänglich genug war, um mich zu beruhigen. Obwohl Marianne an jenem Nachmittag vergleichsweise ernsthaft argumentiert hatte, erschien sie mir im Vergleich zu Sabine aufgedreht, naiv, zwanghaft, aber sehr unterhaltsam. Zum Blumenrock trug sie ein orangenes King-Kong-T-Shirt, während Sabine in blass gefärbtem Öko-Leinen eine Ikone der kultivierten Langeweile abgab. Eine um Kultur bemühte, großbürgerliche Edel-Schlampe, die mit ihren abgeklärten, pragmatischen Ratschlägen viel zu oft Recht behielt. Das gönnte ich ihr nicht, ich wollte, dass sich meine ideologisch fundierte Künstlerweltsicht bewahrheitet, oder doch lieber Mariannes emotional überladene Spinnereien, aber nein, meistens passierte das, was Sabine aus ihrer konservativen Grundhaltung heraus vorhersagte. So sei die kapitalistische Welt eben, kommentierte sie den Lauf der Dinge, wenn ich mal wieder Anlass hatte, ein enttäuschtes Gesicht zu machen. Auch ihre Einschätzung Achims stimmte, wie sich umgehend zeigte. Einige Woche nach dem gemeinsamen Ausmalen brachte Marianne Achim zu mir. Wir setzten uns an den Computer, diskutierten dort drei Tage lang die Irrungen und Wirrungen, die der Taxifahrer im Drehbuchentwurf über sich ergehen lassen müsste, einigten uns trotz schlagkräftiger Gegenargumente für den Vulkanausbruch mit Zerstörung Berlins als surreale, aber gewünschte Handlungskomponente, schrieben das alles sorgsam in ausgefeilten Formulierungen nieder und gestalteten auch noch ein hübsches Deckblatt, so dass Achim schließlich ein wunderhübsches Exemplar seines Exposés in die Hand gedrückt bekam, damit er es, wie er immer wieder behauptet hatte, bei der Drehbuchförderung einreichen könne.

Als wir ein paar Tage später Marianne verabschiedeten, da ihre Zeit in Berlin abgelaufen war und sie zurück in ihre sächsische Heimat musste, stieß uns Achim ohne jegliches Schamgefühl vor den Kopf. Freudig erklärte er uns, er habe einen neuen Anfang für das Drehbuch. Marianne versuchte sich in Ironie, indem sie meinte, sie hätte schon geahnt, dass Achims Kreativität unsere Vorstellungskraft und erst recht das Format eines Exposés sprengen werde. Außerdem sei es doch unbedingt nötig, so erklärte Achim, dass der Held als Gegenspielerin eine Kontrolleurin aus der U-Bahn bekommen müsse. Davon war nie die Rede gewesen und wir hatten nun die Gewissheit, dass unsere Hilfe nutzlos gewesen war. Achim brauchte weder Drehbuch noch Exposé, er wollte nur darüber reden, aber dafür standen wir nicht mehr zur Verfügung. Marianne sowieso nicht, denn sie wurde von ihrem Vater, als er geschäftlich in der Stadt war, mit dem Auto abgeholt. Ihr Hausrat, den Achim und ich gut kannten, passte problemlos in den großen Kombi. Die Verabschiedung verlief schnell und schlicht, dann fuhr sie zurück in die sächsische Heimat. Der Akkordeonlehrer wollte uns noch zu einem Brokkoli-Auflauf einladen, aber ich fand einen wichtig wirkenden Vorwand, um zu gehen und ließ Achim allein zurück. Brokkoli konnte ich sowieso nicht leiden. In den folgenden Wochen meldete ich mich nicht bei Achim.

3 Anmerkung zu “Medialismus, Teil 3 (16mm)

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