In meinen neuen, etwas zu steifen Birkenstockhalbschuhen schleppte ich mich über den vertrockneten Bürgersteig der Brunnenstraße, dort wo sie noch zum Wedding gehört. Büffel gab es hier wohl bloß in prähistorischen Zeiten und die Zeit der Kühe ist zwischen den bizarren 80-Jahre-Betonbauten schon lange vorbei. In meiner wasserdichten Umhängetasche aus Funktionsmaterialen finden sich keine Lebensmittelvorräte, sondern nur Infomaterialien, wie ich meine literarisches Lebenswerk digital veröffentlichen könnte, wenn jemand unerwartet das Bedürfnis artikuliert, dass er es auf Papier gedruckt sehen will. Hinter den großen Schaufenstern der Erdgeschoß-Gewerberäume haben sich junge Filmproduktionsfirmen, Common-Space Arbeitsräume oder Galerien angesiedelt. Noch ganz frisch. An mancher Galerietür hängt ein Zettel mit der Handytelefonnummer, die man anrufen soll, falls man tatsächlich den Raum betreten möchte. Ich gerate in ein nettes Café im Wohnzimmer -Sitzgruppen-Stil, weitgehend leer. Die exotischen Beschriftungen auf der Speisekarte verleiten mich zu der Frage, welche ethnologische Gruppe sich in diesem Café verwirklicht und es stellt sich heraus, dass es Estländer sind. Das Lachsbrot mit Avocado Creme (viel Knoblauch und Zitrone) schmeckt so gut, das ich noch eins bestellen muss und mit der blonden Bedienung darin einig werde, dass ich mal bei der offenen Bühne am Sonntag abend vorbeikommen könnte um ein paar Lieder zu singen. Für mich als Provinzler und Besuchs-Berliner könnte der aufstrebende Wedding Kontakte bieten, die mich dann aktiv in das Großstadt-Kultur-Leben hineintauchen lassen. Denn in den etablierten Stadtteilen ist es gar nicht so einfach, Auftrittsmöglichkeiten zu erschließen, geschweige denn solche, die angemessen bezahlt werden. Nach den Lachsschnitten muss ich weiter nach Süden. Ich könnte die Linie 8 nehmen, (oder ist es der A-Train?), beschließe aber weiterhin zu Fuß zu gehen, über den Mississippi hinweg, dorthin, wo das hippe Nachtleben den Kultur-Versuchen des Weddings 15 Jahre voraus ist, nach Neukölln. In der Gegend rund um den U-Bahnhof Boddinstraße gab es damals, als ich vor 25 Jahren dort wohnte, nur Dönerbuden, Matratzendiscounter und rustikale Bierlokale. Aber letztere haben vielleicht den Boden dafür bereitet, dass in der weiteren Umgebung des Hermannplatzes der Blues seine Heimat fand. Es gibt wohl eine kleine, aber rege Szene, wo in Sessions regelmäßig gejamt wird. Wer abends müde von der harten Arbeit auf den Bauwollfarmen oder der Schicht im Schlachthof kommend, mit seiner Klampfe durch die richtige Tür torkelt, kann coole, hochqualifizierte Musiker finden und gemeinsam mit ihnen tolle Musik machen. Dies funktioniert auch, wenn man im Gesundheitsbereich arbeitet, zwischendurch einen Doktor der Literaturwissenschaft erworben und sich sein Blues-Handwerkszeug in Unterfranken erarbeitet hat. So machte es Jürgen Zink, der seit einigen Jahren in Berlin lebt. Schließlich schleppte er die Musiker, die er in Neukölln einsammelte sogar ins Aufnahme-Studio. Nach einem eineinhalb jährigen digitalen Reifungsprozess gab es das CD-Release-Konzert in der Villa Neukölln, einer tollen Location, die super zu der Musik passte. Auch alles andere passte und wirkte durchaus „authentisch“. Nur die bärtigen alten Männer mit Lederwesten, die sonst bei Blues-Konzerte das Publikum dominieren hatte wohl eine gute Fee in hübsche junge Frauen verwandelt.
Was mir an der Musik gefällt, ist ihre scheinbare Einfachheit, die Schlichtheit, die durch die latente Kraft der guten Musiker ihren Glanz bekommt. Vor allem der Schlagzeuger hatte ein sehr feines Gespür dafür, wie weit er die Beats reduzieren konnte, aber trotzdem durch eine wunderbare Akzentuierung genau das Richtige zur Musik beisteuerte. Der Trompeter gab dem ganzen seine besondere Note, während der Geiger nur mal schnell für drei Lieder auf die Bühne kam und dann gleich wieder verschwand. Vermutlich musste er auch noch wo anders auftreten, was nicht wundert, da er mit nur wenigen Tönen extrem beeindruckend war.
Die CD, die Jürgen Zink alias JZ James jetzt herausgebracht hat, heißt A Great Notion und mir gefällt sie prima. Aber wo man die kaufen oder bestellen kann, weiß ich nicht, ich hab mir gleich in der Pause des Konzerts eine geholt. Nach dem Konzert musste ich ja sofort losflitzen, damit ich den nächtlichen Greyhound-Bus zurück in die Provinz erwischte. Anhören kann man ein paar Lieder unter https://soundcloud.com/jz-james-1
Die Musiker sind: Sebastian Maschat (Schlagzeug), Nick Morrison (Gitarre), Mark Roman (Kontrabass), Roland Satterwhite (Geige), Paul Swing (Trompete, meistens gestopft) und „Wildduck“ Pete Wessa (Harmonika) und natürlich Jürgen Zink alias JZ James an der Gitarre, singend, komponierend und bestaussehender Hosenträger-Träger der Saison. Jugend und Studium verbrachte er in Würzburg, ging zunächst nach Hamburg und schließlich nach Berlin.
Inzwischen habe ich noch einen You-Tube-Link ausfindig gemacht und die Homepage.
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