Medialismus 2024

Für alle Freunde des bedruckten Papiers gibt es jetzt eine klitzekleine Auflage meines literarischen Lebenswerks „Medialismus“. Über die Qualität kann man gerne streiten: Stilistisch, inhaltlich und und dramaturgisch schwanke ich in meiner Selbsteinschätzung zwischen Begeisterung und Frustration, ganz zu schweigen von Fragen der Rechtschreibung und Kommasetzung. Aber um einen Schlußstrich zu ziehen, habe ich es dann halt doch gemacht.
Die Internet-Ausgabe ist an verschiedenen Orten online

(hier ganz weit unten, bei meiner alten Frank-Weghard-Seite und bei Stefan Hetzels „Weltsicht aus der Nische“) und zwar jeweils in verschiedenen Fassungen. Deshalb habe ich jetzt die aktuelle 2024er-Version, so wie sie gedruckt wurde, hier hineinkopiert. In der Druckfassung ist das Werk ca. 250 Seiten lang, es sind fünf Abschnitte und 44 Kapitel. Deshalb ist das Lesen hier auf der Seite sehr unkomfortabel, aber wenn ihr es lesen wollt, werdet ihr Euch schon zu helfen wissen.

  1. Abschnitt: Super 8

1.
Eine leere Werbefläche, wie man sie von überall kennt, aus Dörfern, Städten, von Landstraßen oder sogar aus leblosen Industriegebieten, die üblichen 10 qm, von denen uns normalerweise freundliche Gesichter anlachen, die sich mit einem Konsumprodukt verbündet haben, um es den Passanten, Fahrrad-, Bus- und Autofahrern zu empfehlen. Aber in diesem Fall war die Werbefläche inhaltslos, frisch mit weißem Papier beklebt und ich stand davor, kurz nach Mitternacht. Das ist der Anfang der Geschichte, denn ich wollte die Fläche bemalen, aber ich traute mich nicht, obwohl weit und breit niemand zu sehen war und die wenigen Autos kündigten sich durch ihre Scheinwerfer schon von weitem an. Leider verplemperte ich viel Zeit damit, es NICHT zu tun. Das hätte viel schneller gehen können, aber nein, zu lange stand ich vor der weißen Wand, trug die Faserschreiber in der Tasche, befühlte sie, dachte an die Worte, die ich hätte schreiben oder die Bilder, die ich hätte malen können, an die Reaktionen der Freunde oder die Reaktionen der Feinde, schwankte hin und her, verlor den Faden und ging schließlich bis an die Straßenecke, kehrte dann aber nochmal zurück, holte endlich einen Stift aus meiner Umhängetasche, von dem ich die Abdeckkappe herunterzog, dachte schon an den ersten Strich, aber die Kappe fiel mir auf den Boden, ich musste sie suchen. Während ich am Boden herumkroch, reifte der Entschluss, mich aus meiner mir selbst gestellten Aufgabe zurückzuziehen. Was bedeutete, dass ich nach Hause ging und bei meinem einsamen Spaziergang durch die ziemlich leblose Universitätsstadt umso lebhafter darüber phantasierte, wie bedeutsam es gewesen wäre, die Werbefläche in meinem Sinn zu gestalten, den Werbeflächenzweck zu invertieren, den Konsumgedanken zu negieren, etwas Kritisches zu formulieren. Etwas Aufrüttelndes. Eine Anti-These zur Heile-Welt-Darstellung der Werbebotschaften. Natürlich total originell. Aber letztendlich fiel mir nichts ein, was meinem eigenen Anspruch genügte, alle Ideen blieben stecken, sobald ich sie zu Ende dachte. Wenn ich etwas hingemalt oder hingeschrieben hätte, sollte es zumindest tiefsinnig und künstlerisch wertvoll sein. Selbstbestätigung wünschte ich mir, Selbstbefriedung wurde es, denn die endlose Kette der Gedanken, die zu nichts führte als zu der Einsicht, dass ich zu zaghaft, zu unentschlossen, zu unspontan sei und versagt hatte, ließ sich nur durch erotische Hirngespinste abwürgen, welche wiederum in einem Samenerguss gipfelten. Was mich emotional nicht weiter berührte, damals onanierte ich mehrmals täglich.
Am Abend des Tages, der auf die Nacht folgte, in der ich meine Zeit an der leeren Werbefläche verplempert hatte, saß unerwartet eine unbekannte Blondine in der WG-Küche. Sowas kam bei uns nicht allzu oft vor. Da meine Vorlesung erst um zehn Uhr begonnen hatte, war ich halbwegs ausgeschlafen. Am späten Nachmittag war ich mit Holger, dem Lehramtsstudenten in der Küche gesessen, wir hatten Brote gegessen und uns über Alltäglichkeiten unterhalten. Danach gingen wir in unsere jeweiligen Zimmer um für das jeweilige Studium zu lernen. In den anderen Zimmern, saß eventuell auch noch jemand. Da alle ihre Zimmertüren geschlossen hielten, war meist nicht ohne weiteres erkennbar, wer zu Hause war, und wer nicht. Ich beschäftigte mich damals ausgiebig mit Differenzialrechnung, weil es der Lehrplan so vorsah und es waren innerhalb der nächsten Tage Übungsaufgaben abzugeben. Als es mir gerade so schien, als hätte ich das entscheidende Problem der Aufgabe gelöst und ich könnte nun mit aufwändiger, aber vorhersehbarer Methodik ins mathematische Ziel schlittern, wollte ich mir in der Küche ein Glas Wein holen und damit den Übergang von der harten Gedankenarbeit zur Abendentspannung einläuten. Das war der Moment, als ich dort die Blondine mit dem Rücken zur Tür sitzen sah. Ausnahmsweise reagierte ich angemessen, sagte beiläufig hallo, nahm mir den Wein aus meinem Regal, sah sie dabei von vorne. Ihr Gesicht war etwas kantig und grob, die Lippen schmal. Zu schmal für meinen Geschmack. Von hinten hatte ich mir mehr erwartet. Die Bluse mit den großen Punkten fand ich gut, die halblangen glatten Haare auch, aber der Gesamteindruck lief, wie ich es in Gedanken formulierte, auf gehobene, sehr gehobene Mittelklasse hinaus. Sie nahm das angebotene Glas Wein von mir, ich setzte mich an den Tisch und dann plauderten wir ungezwungen. Sie war mit meiner Mitbewohnerin, der Geografiestudentin gekommen und die Geografin wollte noch duschen und sich aufhübschen, bevor die beiden dann gemeinsam zu einem Kunstfilmabend gehen würden, und deshalb saß die blonde Sabine mit dem kantigen Gesicht allein in der WG-Küche. Kurzfilmabend, das war mein Spezialgebiet, denn ich hatte mir ja inzwischen einen Namen als Super-8-Aktivist gemacht, aber nein, sie sagte Kunstfilm, war das überhaupt eine definierte Bezeichnung? Es seien wohl Kurzfilme mit künstlerischem Inhalt, die im Spätprogramm des Videofestivals laufen sollten. Video? Ja, das gab es auch schon. Man könnte vermuten, dass Super-8-Filmemacher Videotechnik mögen, was aber in meinem Bekanntenkreis nicht der Fall war, es handelte sich eher um eine unbegründet verbissene Feindschaft. Super-8 war die Sparversion des ehrwürdigen Kinofilmes, Video das Handwerkszeug des Fernsehens, speziell des damals noch neuen Privatfernsehens, das alle Intellektuellen ungesehen verachteten. An ideologisch motivierter Polemik mangelte es nicht. Vielleicht ahnten die Super-8-Aktivisten damals schon, dass die Zeit gegen sie arbeitete und sträubten sich trotzdem gegen den Fortschritt, kompensierten ihren Wichtigkeitsmangel mit markigen Sprüchen wie „Alle Macht für Super Acht!“. Mit Sabine unterhielt ich mich angeregt über die Kontroverse, oder vielmehr textete ich sie mit meinem Spezialwissen zu und sie zeigte Interesse an meinen provokanten Thesen, mit denen ich mich gegenüber der videologischen Ideologie abgrenzte. Videologische Ideologie gab es vermutlich weder als Begriff, noch als Ideologie, aber ich tat so, als handele es sich um gesicherte Erkenntnisse. Am liebsten hätte ich ihr sogar einen Vorwurf daraus gemacht, dass sie zum Videofestival ging. Das verkniff ich mir, sondern beschränkte mich darauf, die künstlerische Überlegenheit filmischer Produktionsweisen auf filmischem Material zu erläutern. Sie nippte am Wein und hörte aufmerksam zu, vermutlich hatte sie darüber überhaupt noch nie nachgedacht, warum auch, sie war Geografin, so wie meine Mitbewohnerin, sie kannten sich aus dem Studium. Dann kam die Mitbewohnerin frisch geduscht und ausgehfertig in die Küche. Zu ihr hatte ich kein so gutes Verhältnis wie zu den anderen, sie nahm weniger intensiv am WG-Leben teil. Aber ihre Freundin Sabine brachte das Gespräch gleich in die richtige Richtung, denn sie beschwerte sich bei meiner Mitbewohnerin, dass sie ihr gar nicht gesagt hätte, dass ich Filmemacher sei. Meine Mitbewohnerin fragte daraufhin, ob ich nicht zum Videofestival mitkommen wolle. Nun saß ich in der Falle, denn da ich vorher gegenüber Sabine so ausführlich über die ästhetische Minderwertigkeit von Video schwadroniert hatte, musste ich jetzt, um Würde zu bewahren, darauf verzichten, mir die künstlerischen Kurzfilme beziehungsweise die kurzen Kunstfilme anzusehen. Meine geografisch bewanderte Mitbewohnerin versäumte nicht, mich zum Abschied mit der Aussage zu quälen, dass sie immer gedacht hätte, es sei egal, ob man mit Film oder mit Video dreht. Aber Sabine machte das wieder wett, sie forderte mich auf, Bescheid zu geben, wenn meine Filme mal irgendwo zu sehen seien. Das war gut. So musste ich gar nicht aufdringlich sein, um sie zu einem Wiedersehen anzuregen. Dann verschwanden die beiden und ich kümmerte mich, wie ursprüngliche geplant, um meine Mathematik-Übungsaufgaben.

2
Es vergingen einige Wochen. Meine Geografie studierende Mitbewohnerin traf ich nur ein paar Mal auf dem langen Flur unserer WG, ohne dass wir dabei ein Gespräch begonnen hätten. Sie interessierte sich weder für meine künstlerischen noch für meine geschlechtlichen Ambitionen. Deshalb verzichtete ich darauf, mit ihr einen Austausch an Informationen bezüglich ihrer Freundin Sabine anzuregen. Unterdessen arbeitete ich an der Fertigstellung meines neuesten Super-8-Filmes, was bedeutete, dass ich verschiedene Geräusche zusammensammelte und mit Hilfe des Projektors auf den Film überspielte. Oder die Schauspieler die Dialoge synchron einsprechen ließ, Satz für Satz. Der Film hieß „Die Rückbesinnung“, ein zehnminütiges Werk. Es sollte, wie man anhand des Titels vermuten konnte, um Identitätssuche, Identitätsverwirrung, Identitätsfindung gehen. Man musste viel guten Willen aufbringen, um das nachzuvollziehen, denn eigentlich trieben sich nur drei vermeintlich coole Typen auf einem Kinderspielplatz herum und quatschten dummes Zeug, welche Kneipe warum und für welchen Daseinszustand angesagt sei, welche Form von Alkoholexzess das Sozialprestige steigert und welcher nicht. Die drei Schauspieler, die ja gar keine professionelle Schauspieler waren, sondern aus meinem Bekanntenkreis stammten, brachten das Absurde auf dem Spielplatz ganz gut rüber und es waren ein paar echte Kinder dazwischen geschnitten, auf der Wippe und beim Ballspielen, so dass die Dialoge immer wieder heitere Unterbrechungen bekamen und der Film, wie sich später herausstellte, den Zuschauern ganz gut gefiel. Meine Geografie studierende Mitbewohnerin sagte, dass sie bei der Premiere keine Zeit habe und machte noch eine kritische Bemerkung über den Titel, den sie blöde fände, ich solle doch nicht immer so rückwärtsgewandt sein. Aber trotzdem überbrachte sie auf meine Aufforderung hin eine Einladung an Sabine. Genaugenommen ein Flugblatt, so ein vervielfältigter DIN-A5-Zettel, mit Schreibmaschinenbuchstaben und dem ziemlich kontrastschwachen Bild einer leeren Kinderschaukel. Die verschiedenen Schriftgrößen erzeugte ich durch Vergrößerung im Copyshop, dann mit den vergrößerten Worten wieder nach Hause, wo ich die einzelnen Text- und Bildfragmente zusammenklebte und diese Vorlage wurde schließlich im Copyshop vervielfältigt.
Mein guter Freund Martin bewohnte allein eine Vierzimmerwohnung, die immer wieder für Partys und Treffen genutzt wurde. Dort sollte die Premiere des Filmes stattfinden. Wir versuchten, so zu tun, als sei das nichts Besonderes, aber natürlich war es das. Ein Film, den man mit Super-8 dreht und dann vertont und es spielen auch noch drei coole Szene-Typen mit, das war nicht alltäglich. Damals gab es noch kein YouTube, wo inzwischen jeden Tag unglaublich viele Filmminuten hochgeladen werden, vermutlich mehr, als damals in der ganzen Bundesrepublik im ganzen Jahr auf Schmalfilm entstand. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass es damals aufgrund des geringeren technischen Entwicklungsstandes besser gewesen sei, aber es war exklusiver. Außerdem war es gut, weil Sabine kam und weil mein Freund Martin diese Vierzimmerwohnung unter dem Dach mit großem Balkon hatte. Es war ein altes, kleines Haus in einer Gasse. In den unteren Stockwerken gab es nur Lagerräume, so dass weder unsere alltäglichen Unternehmungen, noch unsere nächtlichen Ausschweifungen irgendjemanden störten. Martin half mir gerne bei meinen Filmen, er kannte sich mit Fotoapparaten aus und hatte zuhause eine Dunkelkammer. Manchmal saßen wir bei ihm herum, es wurden Fotos gemacht und während die Gäste auf dem Balkon kifften, entwickelte er den Film und macht Abzüge, die er dann zum trocken an die Wäscheleine hing. Damals war er gerade Zivildienstleistender, hatte relativ viel Zeit und ihm war es durchaus recht, wenn ich einen Anlass zum Trinken oder Betrinken lieferte. Außerdem war er einer der drei Schauspieler. Ich saß schon am Nachmittag bei ihm im Wohnzimmer, wir unterhielten uns darüber, was wir als nächstes Filmprojekt in Angriff nehmen könnten, schweiften aber ab, denn er gestand, dass er beim Videofestival gewesen war, vermutlich sogar in der gleichen Vorstellung wie Sabine und meine Mitbewohnerin. Es wunderte mich ein bisschen, denn in den Tagen, als das Videofestival stattfand, hatten wir uns mehrmals getroffen, und ich glaubte mich zu erinnern, dass es unser Konsens war, keine Vorstellung zu besuchen. Als ich genauer darüber nachdachte, schien es mir plötzlich, als sei es immer nur ich gewesen, der beteuerte, dass wir nicht hinwollten, als hätte Martin gar nicht zugestimmt. Er hatte einfach geschwiegen und gemacht, was er wollte. Das ist doch egal, sagte ich mir, aber das war es mir nicht. Martin erzählte von einem Spiegel-Effekt, den er in einem Video gesehen hätte und der ihn beeindruckte. Technische Spielerei, entgegnete ich in einem Tonfall, der ihm das Wort abschnitt, er wechselte das Thema. Eigentlich hätte ich gern noch mehr erfahren, aber neugierig wollte ich nicht erscheinen. Jetzt hatte ich mich schon wieder selbst ausgegrenzt und gerade da klingelte es, obwohl die Party erst in zwei Stunden beginnen sollte. Martin ging zur Haustür hinunter und kam tatsächlich mit Sabine zurück. Ihre Haare waren verändert, aber ich konnte nicht sagen, wie. Sie gefiel mir besser als beim letzten Treffen, sie gefiel mir richtig gut. Außerdem freute ich mich, dass sie schon da war. Das Warten auf den ersten Gast kann manchmal ganz schön quälend sein. Oder enttäuschend, wenn der erste Gast ein Schwätzer ist. Aber Sabine kam mir gerade recht. Sie berührte mich bei der Begrüßung dezent an der Schulter und setzte sich neben mir auf den Boden. Ob ich aufgeregt sei, fragte sie, und da tat ich ganz cool, nein, ich bin nicht nervös, so ein Film läuft einfach, da kann ja nichts schiefgehen. Na, aber wenn es den Leuten nicht gefällt? Es wird ihnen gefallen, da bin ich mir sicher! Bei einer Premiere wird nicht der Film, sondern es werden die Zuschauer selektiert. Die gehören alle irgendwie dazu oder haben das Bedürfnis, dazuzugehören, zur Premierenkultur-Subkultur-Filmemacher-Klüngel-Clique – und wenn sie das nicht wollen würden, dann wären sie gar nicht da. Und damit sie zuhause nicht erzählen müssen, dass die Party langweilig und der Film schwachsinnig war, da finden sie es eben gut, zumindest teilweise gut. Ein paar Lästermäuler gibt es dann natürlich auch, die ihre Rolle darin finden, dass sie alles besser wissen und besser gemacht hätten, zu denen gehörte ich ja selbst. Wenn ich bei Premieren anderer Filmemacher zeigen wollte, dass ich einer von denen bin, die eine Ahnung haben, dann erging ich mich in tiefsinnigen Analysen und kritischen Kommentaren.
So geschwollen redete ich auf Sabine ein. Mir schien, als beeindruckte ich sie. Martin drehte unterdessen einen Joint. Nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte, sagten wir erst einmal gar nicht viel, sondern gaben uns der bedächtigen Einnahme von THC hin. Die Kifferei interessierte mich damals kaum, aber bei Martin und vielen meiner Freunde gehörte es zur Freizeitgestaltung dazu, es passte auch so schön in seine Wohnung, wo ein paar Matratzen auf dem Boden lagen, wo immer mal jemand spontan vorbeikam, wo wir dumme Ideen hatten, und oft gleich umsetzten. Rauchen, Trinken, Kiffen war Teil der spartanischen Gemütlichkeit, die die groben, dunklen Holzbohlen des Fußbodens ausstrahlten. Die tiefstehende Sonne schien durch ein Band niedriger Fenster ins Wohnzimmer und warf die Schatten der Fensterkreuze auf uns. Jetzt saß Sabine plötzlich so im Gegenlicht, das sich ihr BH ganz deutlich unter der Bluse abzeichnete. Sie war doch ziemlich sexy. Aber sie begann sich mit Martin über die Wohnung zu unterhalten, was sie kosten würde und über WG-Probleme, Zimmerprobleme, Mitbewohnerprobleme. Da hätte sie eigentlich viel besser mit mir drüber reden können, ich wohnte in einer Sechs-Personen-WG, sogar mit ihrer Freundin zusammen, aber vermutlich merkte sie, dass ich das Thema nicht leiden konnte. Ich war der Filmemacher, hatte meine schlaue Rede über Filmpremieren gehalten, Martin war der Vierzimmerwohnungs-Bewohner, er durfte über Wohnungen reden. Jedem sein Gesprächsthema zum Wohlfühlen, außerdem dauerte es nicht lang, da klingelte es, Martin ging wieder runter zur Haustür und Sabine stand auf, um nochmal Teewasser aufzusetzen. Als sie sich erhob, erschienen mir ihre Beine viel zu lang, oder lag es daran, dass ihre Jeans nicht richtig saß. Das Gegenlicht der untergehenden Sonne war jetzt weg und damit auch der reizvolle Einblick. Auch ich stand auf und sagte, dass ich nochmal den Filmprojektor überprüfen wolle. Da es inzwischen dämmrig im Zimmer geworden war, ließ sich das Bild besser justieren und beurteilen. Währenddessen kam Martin mit drei weiteren Gästen zurück, die ich nur vom Sehen kannte. Es ging also los und ich spürte mit einem Mal eine deutliche Nervosität. Am Projektor war alles in Ordnung, das hatten wir als allererstes sorgfältig eingerichtet. Ich ging also in die Küche und füllte Salzstangen in Gläser und Chips in Schalen. Mit den Gläsern und den Schalen ging ich auf umständlichen Wegen durch die Wohnung. Martins Wohnung war verwinkelt und unübersichtlich. Lauter kleine Kämmerchen, die das Wohnzimmer umgaben, alle mit Zwischentüren, Dachschrägen und Erkern, sogar das Badezimmer hatte zwei Türen, einen Eingang und einen Ausgang. Deshalb konnte ich durch drei verschiedenen Türen ins Wohnzimmer treten, und während ich durch die Wohnung streifte und die Salzstangengläschen verteilte, hörte ich immer wieder Sabines Lachen. Sie lachte ganz schön laut. Wenn ich dann durch eine der drei Türen ins Wohnzimmer trat, konnte ich nicht feststellen, um was es ging, warum gelacht wurde, alle saßen auf dem Boden und sahen so aus, als ob sie gar nichts zu lachen hätten. Ich tat aber uninteressiert, zog mich unauffällig in die Küche zurück, nahm die nächsten zwei Salzstangengläser und verteilte sie über die Route, die durch das Badezimmer in die Kämmerchen führte und dann wieder über das Wohnzimmer zurück in die Küche. Sabine lachte immer wieder, aber nur, wenn ich nicht mitbekommen konnte, um was es ging. War sie etwa eine von denen, die beim Kiffen lustig wurde? Oder machten sie Witze, die ich nicht verstand? Verstehen sollte? Oder etwa Witze über mich? Es blieb bei Vermutungen, denn plötzlich war die Ruhe vorbei. Meine WG-Kumpels kamen und hinter ihnen einige aufgekratzte Frauen, die zu Achim und Rainer gehörten, die anderen beiden Hauptdarsteller. Achim studierte damals Theaterwissenschaften und hatte eine ganze große Klappe. Er wusste immer über alles Bescheid. Weil er nicht nur Theater-, sondern auch Filmexperte war und sein Expertentum darin gipfelte, dass er Super-8 grundsätzlich für super und meine filmischen Werke erst recht für super-super hielt, ergab sich zwangsläufig, dass er auch einmal in einem meiner Filme mitspielen musste. Rainer wiederum, der dritte Schauspieler war Schlagzeuger in einer Nachwuchsband, die wegen ihren vielen Besetzungswechsel nie über ihre bescheidene lokale Berühmtheit hinauskam.
Martin hatte inzwischen die Haustür geöffnet, so dass die weiteren Gäste einfach von der Straße reinkommen konnten und drehte die Musik lauter. Jetzt hatte ich keine Chance mehr zu hören, ob und was über mich gelästert wurde. Meine WG-Kumpels bestätigten nochmals, dass unsere Geografie-Mitbewohnerin nicht kommen könne, worauf ich entgegnete, dass mich das nicht störe, da ich mich von ihr meist missverstanden fühle. Wer wen missversteht, beschäftigte uns eine ganze Weile, während der Raum sich füllte, Flaschen entkorkt und Schallplatten gewechselt wurden. Speziell die ankommenden Frauen hatten wir gut im Blick, machten dumme Bemerkungen über sie, bis ich irgendwann bemerkte, dass Sabine gar nicht mehr dort saß, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Erschreckt schaute ich mich um, da kam aber gerade ein neuer Trupp frischer Gäste, der mich in Anspruch nahm, einer nach dem anderen quatschte mich voll und die Forderung, dass der Film gestartet werden solle, wurde immer häufiger gestellt. Wo war Martin, wo hatte ich die Weinflasche hingestellt, man kam fast nicht mehr durch die dicht stehenden Menschen hindurch, aber als ich laut rief, hörten sie alle auf mich, schließlich war ich der Filmemacher. Auch Martin bemerkte mich schließlich und schaltete die Musik aus. Leute, jetzt ist es gleich soweit, sagte ich laut, aber da kam auch schon ein Zwischenruf, Heike sei noch nicht da, sie käme sofort, ich solle noch warten. Heike? War das die große Schlanke? Oder die Blonde mit den auffälligen Lidschatten?
Oder keine von beiden? Im Film hatte sie nicht mitgespielt, aber wenn es die Große war, würde ich vielleicht warten, aber da rief Martin, dass wir trotzdem jetzt sofort anfingen, weil wir den Film später nochmal zeigen können. Stimmt, das hatten wir ausgemacht, also drängte ich mich an den Projektor und fand dort einen Platz, Licht aus, rief ich und Martin drückte den Schalter einer Mehrfachsteckdose, an der alle Lampen angeschlossen waren, so dass es wirklich schlagartig dunkel wurde. Sofort begann das Knattern des Projektorlaufwerks. Ich legte die Hand an das Objektiv, um die Schärfe bei Bedarf sofort nachziehen zu können, aber sie stimmte und ich brauchte nicht zu korrigieren. Und da sahen sie alle auch schon die erste Szene, in der Martin unvermittelt direkt in die Kamera hinein sagt: „Ich weiß gar nicht, warum ihr hier seid, wenn ihr was Besseres geplant hattet!“ Dabei raucht er und dann schnipst er seine Zigarettenkippe supercool direkt an der Kamera vorbei und zieht die Mundwinkel hoch, mir gefiel das gut und auch die Zuschauer, zumindest diejenigen, die Martin kannten, fanden es prima. Es war nicht zum Lachen, nur zum Schmunzeln. Ich merkte, dass es beim Publikum funktionierte. Jetzt waren sie gut eingestimmt und würden die etwas langatmige Anfangsszene gut gelaunt überstehen. Mein Weinglas war wieder verschwunden, aber da stand eine Flasche unter dem Projektortisch, Martin hatte dort den Discount-Whiskey deponiert. Ich nahm einen Schluck direkt aus der Flasche und behielt sie in der Hand. Doch während sich die Dialoge zwischen den drei Darstellern langsam entwickelten, merkte ich, dass sich jemand von hinten näherte, der mir die Flasche aus der Hand nehmen wollte. Ich drehte mich um und schaute direkt in Sabines Gesicht, die mich anlachte und flüsterte, sie wolle auch was trinken. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und gab sie mir zurück. Sabine kam mir gerade recht. Ihre Schulter berührte meinen Rücken. Das lag nicht nur daran, dass der Platz hinter dem Projektor so eng war. Das machte sie ganz bewusst. Es fragte sich, wie ernst ich es nehmen sollte. Der andere Schauspieler, Achim, erzählte gerade, wie ihm eine Geliebte erst die Uhr, dann Schallplatten und schließlich seine Lieblings-Wollsocken geklaut habe. Und dass er deshalb nicht mehr an das Gute im Menschen, und erst recht nicht an das Gute in den Frauen glaube. Die Zuschauer lachten, von Sabine hörte ich nichts. Ich verzichtete darauf, mich umzudrehen, bestimmt fand sie das auch lustig. Jetzt berührte sie mich nicht mehr. Ich schaute mich immer noch nicht um, denn es näherte sich bereits die Schlussszene, bei der sich die Schauspieler um den Hals fallen. Ich befürchtete, es könnte zu pathetisch wirken, oder vielleicht schwul. Martin zieht sein Hemd aus, aber damals, als wir es filmten, klebte es wegen dem Schweiß und er bekam es nicht schnell genug von den Schultern. Beim Drehen störte mich das nicht, da hatten wir schon ein paar Stunden auf dem Spielplatz verbracht, einige Flaschen Wein getrunken und mir ging es nur noch darum, dass die Schlusspointe klappte. Aber als ich die Einstellungen zusammenschnitt, merkte ich, dass das Ausziehen des Hemdes zu lange dauerte, da gab es plötzlich eine Lücke im Dialog und als ich versuchte, zu kürzen, sah wiederum der Bewegungsablauf ungelenk aus. Darum kehrte ich zur ursprünglichen Version zurück, was aber bei Super-8 einen wahrnehmbaren Schnitt hinterließ. Da schnippelt man ja mit der Schere direkt am Original herum, von dem es keine Kopie gibt. Rückblickend muss man sagen, das war schon beachtlich, wenn da überhaupt was rauskam, aber leider sah die Endfassung wirklich schwul aus. Also die Umarmung von Rainer und Martin, ganz abgesehen davon, dass der Schnittrhythmus durch das zu langsame Ausziehen des Hemdes verhunzt war. Achim, der dritte Schauspieler, machte es wieder wett, der umarmte die beiden anderen mit lockerem Schwung und dann kam ja auch schon ein paar Sekunden später die Pointe, bei der Martin in das Loch fällt, der hat die Hände noch auf den Schultern der Freunde, alle drei gucken in den Himmel und er rutscht zwischen ihnen nach unten weg und versinkt in einer Grube, die zu dem Kinderspielplatz gehört. Armin und Rainer sagen jeweils noch einen coolen Spruch und verschwinden in gegenüberliegende Himmelsrichtungen. Martin sitzt doof im Loch und der Film ist zu Ende. Den Satz von Rainer konnte aber kaum einer im Publikum verstehen, weil alle noch über Martins betroffenen Blick aus dem Loch lachten. Als die Abspanntafel erschien, nahm ich einen Schluck aus der Whiskeyflasche. Die Leute applaudieren und ich drehte mich um, wollte Sabine die Flasche reichen und mich von ihr anlachen lassen, aber sie war wieder verschwunden. Wie hatte die sich so unbemerkt davonschleichen können? Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, Martin zwängte sich durch die Menge zu mir, er lachte und war bestens amüsiert über die Gags im Film. Gläser für den Whiskey hatte er in der Hand, Rainer und Achim kamen von der anderen Seite. Da lagen wir uns plötzlich in den Armen, fühlten uns toll und darauf wollten wir uns ordentlich betrinken, auch wenn das keiner richtig zugab. Beim Trinken aus der Flasche hatte ich nur genippt, um meine Nervosität zu besänftigen. Aus dem Glas traute ich mir mehr zu und spürte, wie es in der Kehle warm wurde und das Hirn schien sich auszuweiten. Martin lachte immer noch, Achim, der Klugscheißer und Besserwisser begann, alle Anschlussfehler aufzuzählen. Das machte er immer, er war einer von denen, die sowas sahen: wenn die Zigarette nach dem Schnitt länger ist als vorher, oder wenn die Füllhöhe der Flasche nicht stimmt. Mir war sowas egal, während unserer Dreharbeiten veränderte sich sogar das Etikett auf der Weinflasche. Außer Achim kümmerte das sowieso niemanden, aber jetzt hatte ich meine Freude an seinen Ausführungen. Weil er so begeistert vom Film war und es lustig fand, was alles nicht stimmte, fand ich wiederum ihn lustig. Wir waren stolz darauf, dass wir einen Film gemacht hatten, der unperfekt und schäbig war. Wir wollten mit den normalen Unterhaltungsfilmen nichts zu tun haben. Martin griff Achims Thema auf und schlug vor, dass beim nächsten Film überhaupt nichts stimmen sollte, mit Absicht. Wir lachten alle und phantasierten um die Wette, was alles falsch sein könnte. Der falscheste Film aller Zeiten, das wäre was. Das beschäftigte uns noch den ganzen Abend und letztendlich landete ich auch mit der falschen Frau im falschen Bett. Sabine blieb verschwunden, aber es kamen neue Gäste, der Film lief noch zwei Mal, die Whiskeyflasche war drei Mal leer, die Lücken, die in der Erinnerung klafften, wurden länger, es lohnt sich nicht zu erzählen, was zwischen den Lücken passierte, mit wem ich alles betrunkene Gespräche führte. Doch je später der Abend wurde, desto häufiger blickte ich in das altbekannte Gesicht von Tina und letztendlich schliefen wir auf einer der herumliegenden Matratzen in der hinteren Kammer von Martins Wohnung. Wenn wir Sex hatten, dann bestimmt nicht viel. Vermutlich gar keinen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie wir uns hinlegten. Als ich aufwachte, trug ich nur ein T-Shirt. Die Hose und die Unterhose lagen neben der Matratze am Boden. Ich musste dringend pissen. Auf dem Weg ins Klo sah ich, dass noch mehr Leute in der Wohnung schliefen. Der Boden war übersät mit leeren Flaschen und vollen Aschenbechern.
Im Lauf des Vormittags wachte einer nach dem anderen auf, es wurde viel Kaffee getrunken und blödes Zeug geredet, alle waren verkatert. Als Tina unter der Decke hervorkroch, fiel mir auf, dass sie ihre Strumpfhose noch anhatte. Sie küsste mich und ging ziemlich schnell nach Hause. Ich kümmerte mich schließlich ums Aufräumen und Putzen, abends kochte Martin mit einem seiner alten Schulfreunde und mir gemeinsam Spaghetti. Nach dem Essen ging ich zurück in meine WG und schlief lange.

3
Als ich erwachte, war Sonntag und meine WG leer. Erst abends kam Holger zurück, mein Mitbewohner, der Biologie und Chemie fürs Lehramt studierte. Mit ihm verstand ich mich am besten von allen meinen Mitbewohnern. Mein Problem, das ich ihm darlegen wollte, umschrieb ich mit der plakativen und grob vereinfachten Frage: Tina oder Sabine? Oder beide. Oder erst mal schauen. Oder keine von beiden, sondern lieber Vanessa.
Holger kannte Tina ganz gut, Sabine überhaupt nicht und Vanessa kam gar nicht in Frage, denn Vanessa war die hübscheste Studentin der ganzen Stadt, niemand wusste, mit wem sie ihre Nächte verbrachte und ihr Name war bei uns ein geflügeltes Wort. Wer sagte, dann versuche ich es eben bei Vanessa, der meinte, dass ihm alles egal sei, weil es sowieso nicht klappt. Wenn es ums Klappen ging, war Tina die Favoritin, meinte Holger, denn Holger war schon immer der Meinung, dass Tina es auf mich abgesehen hatte. Ich will Tina aber gar nicht, antwortete ich. Willst du denn Sabine? Das weiß ich nicht. Nicht wissen heißt nicht wollen und wenn du nicht willst, dann bleibt nur Vanessa. Holger hatte wohl keine Lust, mein verzagtes Gerede anzuhören. Na ja, er hatte es leicht, er war schon seit fünf Jahren mit derselben Freundin zusammen und bestimmt würden sie irgendwann heiraten. Ich fand das damals richtig spießig, aber wenn man keine Freundin, sondern immer nur kleine Abenteuer hat, stellt sich gar nicht die Frage. Mir erschien es damals, als ginge das auf keinen Fall, so eine feste Freundin, mit der man womöglich sogar zusammenwohnt, ebenso wie es mir absurd erschien, als Ingenieur zu arbeiten, obwohl ich das studierte. Das mit den Super-8-Filmen war aber auch eine Scheinwelt und überhaupt nicht realitätstauglich. Dachte ich. Darum behauptete ich stets, dass ich einen bürgerlichen Beruf brauchen würde, während meine Existenz wie ein nervöser Brummkreisel unablässig und lärmend um künstlerische Projekte herumrotierte. Wenn man ihn nicht immer wieder durch die Spindel mit neuem Schwung auflädt, hört der Brummkreisel schnell auf zu brummen und fällt um. Aber ich rotierte weiter, wurde nicht müde, frischen Schwung in meine Projekte hineinzupumpen. Martin wollte beim nächsten Film Kamera machen, ich solle mich auf die Regie konzentrieren. Schön, aber erst einmal musste ein Drehbuch her. Die Idee, einen Film zu drehen, bei dem alles falsch sei, entpuppte sich als viel schwieriger, als zunächst gedacht. In meiner Ratlosigkeit vermutete ich sogar, es sei unmöglich. Achim erklärte großspurig, dass es vielleicht für alle anderen Filmemacher und speziell für die aus Hollywood unmöglich sei, aber nicht für MICH. Martin und andere, die bei ihm herumsaßen, sagten, mach doch einfach dies, oder das, wie wäre es hiermit, oder damit? Die waren immer sehr begeistert von ihren eigenen Ideen, mir aber gefiel keine. Erst als Sabine etwas vorschlug, hatte ich das Gefühl, es würde mir weiterhelfen. Erstaunt war ich auch darüber, dass sie eines Abends, vielleicht drei Wochen nach der Party, bei Martin saß. Ich hatte mich inzwischen zwar darum gekümmert, ihre Telefonnummer von meiner Mitbewohnerin zu erfragen, aber als ich ein paar Tage später anrufen wollte, war der Zettel mit der Nummer nicht zu finden. Später, als ich gerade in der falschen Stimmung war, tauchte erst der Zettel auf und dann sie, wieder auf der Matratze sitzend, im schönen Gegenlicht der kleinen Fenster von Martins Wohnung. Sie hätte damals zur Nachtschicht gehen müssen, sagte sie in einem Tonfall, der den Vorwurf beinhaltete, dass ich das hätte wissen müssen. Als der Film zu Ende gewesen sei, hätte sie schon auf der Schwelle gestanden und sei sofort losgefahren, um pünktlich bei ihrem Nachtportier-Aushilfs-Gelegenheitsjob zu sein. Der Film hätte ihr gefallen, allerdings sei sie unsicher gewesen, ob Rainer im Film schwul sein solle oder nicht und wie man das hätte interpretieren müssen, wobei er schwul aussah, aber dem Sinn des Filmes nach eigentlich nicht sein dürfte. Ja, ja, sie hatte genau die kritische Stelle erkannt, die mir auch nicht gefiel und lächelte dazu so wissend. Das beeindruckte mich, aber es verunsicherte mich auch und ich konnte es nicht lassen, sie in die Schwierigkeiten meines neuen Drehbuchentwurfes einzuweihen. Damit gab ich mir schon wieder eine Blöße und hoffte, sie würde das sympathisch finden.
Wir dürfen in dem Film nur Formalismen falsch machen, sagte ich, denn dramaturgische Fehler verzeiht der Zuschauer nicht. Also in dem Sinn, dass am Anfang nur Kleinigkeiten falsch sind, die im Lauf des Films immer auffälliger werden und am Schluss passiert was ganz Irrwitziges, also zum Beispiel kommt der Regisseur ins Bild oder die Kamera fällt um, oder, oder, oder, alles banale Ideen. Wie soll die Handlung sein? Hat die Handlung eine innere Logik oder ist sie willkürlich, damit sie sich von jeder konventionellen Struktur unterscheidet? Aber das gab es ja auch schon längst. Hatten Buñuel und Dalí mit dem „Andalusischen Hund“ in den zwanziger Jahren bereits gemacht. In der Fachliteratur werden Seiten vollgeschrieben mit der Vielschichtigkeit und Bildersprachlichkeit dieses Werkes und Buñuel sagt in seiner Autobiografie, sie hätten einfach gefilmt, was ihnen spontan einfiel. Wenn ich einfach das machte, was mir einfiel, war das mittelmäßiger Trash für die Subkultur, und wenn ich mir das Hirn zermarterte, damit es einen Hauch von Genialität abbekam, dann wurde es nur noch schlimmer. Das war dann wohl auch der Unterschied zwischen Buñuel auf der einen Seite und mir auf der anderen. Wenn die einfach mal drauflosfilmten, revolutionierten sie die Kinokultur, wenn ich das machte, war es nur banale Grütze. Wozu also anstrengen? Mit den Frauen war es so ähnlich: Manchmal bissen sie von alleine an, aber wenn ich mir erst in den Kopf gesetzt hatte, sie zu erobern, dann verscheuchte ich sie nur.
Nach dieser Behauptung machte ich eine Pause in meiner langen Rede und schaute Sabine an, ob sie was darauf antwortete. Sie sah heute wieder sehr gut aus. Und trank Rotwein, während ich noch am Kaffee nippte. Aber sie ging nicht auf meine Problematik mit den Frauen ein, sie kehrte zum Ausgangspunkt meiner Überlegung zurück: Es sei ein falscher Ansatz, alles falsch machen zu wollen, denn dann gebe es gar keinen Bezug mehr, an dem man falsch und richtig festmachen könne. Also wird nur das falsch gemacht, was beim Falschmachen Spaß macht. Was beim Falschmachen langweilt, wird richtiggemacht, denn Langeweile sei schlecht für Filme. Du bist ja eine Hedonistin, entgegnete ich, und sie sagte: Na klar! Ich bin für die falsche Moral, der Kommissar ist der Mörder und am Ende seiner Ermittlungen nimmt er sich selbt fest, ist das falsch genug? Aber ich wollte keinen Krimi drehen, das sei das falsche Metier. Eben, sagte sie, das falsche, und falsch solle es ja sein und damit sei es richtig. Oder müsse es wieder so pseudointellektuell sein? Wie meinte sie das denn? War das Ironie? Außerdem sei der ganze Ansatz, alles falsch zu machen, ein intellektueller. Am intellektuellen Habitus führe hier sowieso kein Weg vorbei. Sie schaute mich versöhnlich an, aber ob sie mich wirklich ernst nahm, konnte ich nicht zweifelsfrei bejahen. Du hast selbst gesagt, dass du ein Pseudointellektueller bist, sagte sie lachend, ja, aber das habe ich ironisch gemeint, antwortete ich. Ich auch. Sie war wirklich undurchschaubar, hoffentlich würde ich mich nicht in ihren Launen verstricken. Da mischte sich plötzlich Martin ein und meinte, Sabine solle vorsichtig sein, mit dem, was sie sage, schließlich seien wir die Experten. Wie beabsichtigt, lachte sie ausgiebig über das Wort „Experten“ und legte mir schließlich den Arm über die Schulter. Schenkte mir dann auch ein Glas Rotwein ein und stieß mit mir an. Was soll aus euch eigentlich mal werden, fragte sie unvermittelt ernst. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, sondern schaute sie nur überrascht an. Bevor mir etwas einfiel, begann sie: Das ist ja ziemlich witzig, was ihr für Filme macht, aber gibt es einen Weg, der vom Hier und Jetzt dorthin führt, wo ihr hinwollt? Wo wollt ihr denn hin? Es kann natürlich auch sein, dass ihr einfach dableiben wollt, das würde ich euch zutrauen. Martin mischte sich ein: Willst du uns den Spaß verderben? Nein, ich will bloß herausfinden, ob und, wenn ja, wie ihr euren Aktivismus hinterfragt. Mein Ex-Freund war ein Träumer, ich nicht. Das ging nicht lange gut. Weil ich nämlich gar keine Toleranz für realitätsfremde Menschen habe. Und außerdem bin ich gerade in einem Seminar über die Kaskadierung von Verkehrswegenetzen. Das ist ziemlich interessant. Da lernt man, dass bei falschen Rahmenbedingungen ganz schnell Sackgassen entstehen, oder dass eine Optimierung des gesamten Verkehrsflusses einzelne, individuelle Umwege von beträchtlichem Umfang bewirken kann. Mir ist aufgefallen, dass sich die Regeln für Verkehrswege auf Lebenswege übertragen lassen. Ich will nur vermeiden, dass ihr in eine Sackgasse hineinmanövriert oder euch Umwege aufhalst, die euch ins Hintertreffen bringen. An dieser Stelle des Gesprächs zeigte ich zu viel Interesse an der Kaskadierung von Verkehrswegenetzen. Darüber wollte ich wirklich etwas erfahren und das hatte dann zur Folge, dass wir eine Stunde oder länger über ihre geografische Verkehrsplanung diskutierten und nicht wieder auf die Lebensplanung von Provinzfilmemachern zurückkehrten. Angetrunken verließen wir Martin gleichzeitig, aber direkt vor der Haustür musste sie in eine andere Richtung als ich. Sie schwang sich auf ein Holland-Fahrrad, dessen banales Speichenschloss sie ganz schnell geöffnet hatte und fuhr davon. Ich schaute ihr wehmütig hinterher.
Während ich nach Hause lief, wurde ich erst recht trübsinnig. Ja, ich war verliebt, aber mir schien, als sei diese Frau undurchschaubar und überheblich, wieso erklärte uns die Geografin die Welt, wir waren doch die Klugscheißer, die Künstler, die sich mit dem Wesen des Daseins und allen existentiellen Fragen beschäftigten. Während ich durch die leeren nächtlichen Straßen spazierte, erinnerte ich mich an die merkwürdigen Wendungen, die das Gespräch im Laufe des Abends genommen hatte, an die Vorschläge Sabines für mein Drehbuch und daran, dass ich es vermieden hatte, über den Nutzen unserer kreativen Aktivitäten zu reden und stattdessen überflüssiges Halbwissen über Verkehrsnetze erfahren und schon wieder weitgehend vergessen hatte. Jetzt interessierte es mich, was Sabine zu meinen Lebens-Lösungs-Ansätzen hätte sagen können, aber ich hatte das Thema abgeblockt und deshalb war ich selbst schuld. Das waren die richtigen selbstkritischen Gedanken, um allein an der völlig unbelebten Straße längs der Bahnschienen herumzulaufen. Plötzlich stand ich vor der Werbefläche, die ich ein paar Wochen vorher unbedingt hatte bemalen wollen. Jetzt klebte dort eine Werbung für den Baumarkt: Eine gutaussehende Frau im Overall mit einem Farbeimer. Sie sah Sabine ähnlich, die gleiche Blondinen-Normalo-Frisur, aber zierlicher. Na klar, war ja auch ein Model, ein wirklich hübsches Gesicht, perfekt geschminkt, mit einem super Lächeln und super weißen Zähnen in ein Handwerker-Outfit hineingesteckt und gut in Szene gesetzt. „Mal dir deine Welt selbst!“, stand als Slogan neben dem Pinsel, den die hübsche Blondine nach vorne zur Kamera streckte. „Bist du dann auch mit drin, in meiner selbstgemalten Welt?“ fragte ich mich. „Und wenn nicht du, dann vielleicht Sabine?“ Aber da fielen mir Sabines merkwürdiges Verhalten und ihr kantiges Kinn ein und ich dachte mir, das Fotomodell von der Baumarktwerbung würde ich sofort mitnehmen, ohne Bedenken, ohne Rückfragen und Ideologiekontrolle, Sabine lieber nicht, denn wenn sie erst mal drin ist, in meiner selbstgemalten Welt, kriege ich sie vielleicht nicht wieder los und sie quält mich mit den kritischen Fragen, den halbwichtigen Fakten und den Proportionen ihres Körpers. Gefiel sie mir oder nicht? Ich war verliebt und deshalb empfand ich sie als attraktiv. Sagte ich mir, während ich die Baumarkt-Tussi mit ihrem perfekten Lächeln, ihrer perfekten Figur und ihrem perfekten Make-Up bestaunte und in einen kindischen Die-will-ich-haben-und-sonst-keine-Trotz verfiel. Die Farbe würde ich dann auch kaufen, wenn es sein muss. Ich langte in die Innentasche meiner Jacke und fühlte den dicken Faserstift. Den hatte ich Wochen zuvor in die Tasche hineingesteckt, jetzt zog ich ihn raus und schrieb ohne lange nachzudenken unter das „Mal dir deine Welt selbst!“ ein „Ok, mach ich!“ Dann steckte ich den Stift wieder ein und ging. Die paar Minuten, die ich brauchte, um nach Hause zu kommen, vergingen mit den Gedanken darüber, wie originell es sei, mitten in der Nacht den Entschluss zu fassen, das Zimmer neu zu streichen. Aber wann wäre es denn normal, solch einen Entschluss zu fassen?

4
Es ist total uncool, Pläne zu schmieden, und evolutionär, Bedingungen zu gestalten. Mit diesem tiefsinnigen Satz konfrontierte ich meinen Mitbewohner Holger zwei Tage später, als er mich mit dem Farbeimer in der Küche sitzen sah. Wie bitte? fragte er zurück und griff zum Wasserkocher. Er würde sich also einen Kaffee oder Tee machen, das gab mir genug Zeit, um meine Theorie zu erläutern. Sabines Vorwurf, dass wir keinen Plan hätten, steckte mir immer noch quer im Gemüt. Dass wir nicht wussten, wohin wir wollten und wie wir dahinkommen würden. Aber meine Theorie besagte, dass man keinen Plan braucht. Pläne führen zu Frustrationen, wenn sie sich nicht einhalten lassen, Pläne setzen eine Analyse der Verhältnisse voraus, die nichts nutzt, wenn sich die Verhältnisse ändern. Pläne haben den Nachteil, dass man an ihnen scheitern kann und das, vor allem das, will man doch nicht. Darum ist es cool, keinen Plan zu haben, dann kann man nicht scheitern, Nichtscheiternkönnen gibt Gelassenheit, Gelassenheit führt in Kombination mit einer kreativen Grundhaltung zu künstlerischem Aktivismus, der Aktivismus stärkt die Erfahrung und das Selbstbewusstsein und dann fügt sich bei geeigneten Randbedingungen Eins ins Andere. Die Bedingungen sind beispielsweise Fähigkeiten und Kontakte, Ersparnisse und Arbeitsräume, Ferien ohne Ferienjob, vielleicht sogar Sex ohne Beziehung. Anregung, Inspiration, Grenzwerterfahrung. Oder ein frisch gestrichenes Zimmer. Bisher hatte ich immer gedacht, ich brauchte nur das einfachste aller Zimmer, kein Schnickschnack, kein Zierrat, keinen Nippes, aber dann glaubte ich zu bemerken, dass dieses schmutzige Gelbbraun der Wände mich geistig bremste. Das wirft mich immer wieder zurück auf mich selbst. Das willst du doch, bemerkte mein Mitbewohner, der gerade die Milch in seinen Kaffee goss und langsam umrührte. Das cremige Braun erinnerte mich an meine schmutzige Raufasertapete. Nein, ich will das nicht … mehr! antwortete ich, darum habe ich die Farbe gekauft. Er schaute mich irritiert an. Ich schweifte zu einem meiner Lieblingsthemen ab, auch wenn es nicht so richtig als Argumentation passte. Weißt du, es gibt Typen, die tragen in ihrer Tasche jahrelang das Drehbuch ihres Bewerbungsfilms für die Filmhochschule mit sich herum und dabei reden die auch noch jahrelang darüber und letztendlich werden sie abgelehnt, oder sie bekommen den Film gar nicht fertig, ach, noch schlimmer, manche fangen gar nicht damit an, solche Typen sind doch total uncool! Holger stimmte mir nur eingeschränkt zu. Im Fall einer Ablehnung: Ja! Aber wenn sie genommen würden, dann wäre alles, was sie vorhergemacht haben rückwirkend richtig. Das ist doch alles so verkrampft, entgegnete ich auf seinen Einwand. Wenn es nur ums Coolsein ginge, würde niemand mehr Lehramt studieren, so wie ich. Mein Mitbewohner drehte sich eine Zigarette und ich schnorrte ihn um Tabak an, da ich keinen mehr hatte. Um die Bedingungen für die Entwicklung meiner künstlerischen Aktivitäten zu optimieren, hatte ich darauf verzichtet, mir Zigaretten oder Tabak zu kaufen. Aber jetzt, beim Kaffee in der WG-Küche erschien es mir, als verhindere der Mangel an Nikotin jede Art des Wohlbefindens. Außerdem waren die Wände noch nicht gestrichen. Nach dem Streichen könnte ich noch mal darüber nachdenken, mit dem Rauchen aufzuhören. Die besten technischen Errungenschaften, fuhr ich fort, verblassen gegen die Genialität der Natur und der biologischen Systeme. Aber die haben keinen Plan gehabt, sondern sind Schrittchen für Schrittchen verbessert worden, durch evolutionäre Selektion. Keine Pflanze und kein Tier hat durch Analyse herausgefunden, wie es sich besser an die Welt anpassen könnte und trotzdem entstanden dadurch bewundernswerte funktionierende Wesen. Vielleicht hätte ich mich nicht in den Bereich der Biologie begeben sollen, denn da kannte sich Holger aus. Er hatte ein paar Argumente gegen mich, die mir nicht in die Lebensplanung passten. Ich solle bedenken, dass die Evolution nicht nur aus den Überlebenden bestehe, sondern zum beträchtlichen Teil aus den Ausgestorbenen. An die denke man nicht so oft, weil man sie nicht sehe, aber das seien enorm viel. Woher nähme ich also meine Hoffnung, dass ich mich zu den Gewinnern der Selektionsprozesse zählen könne? Außerdem habe die biologische Evolution wahnsinnig viel Zeit und die habe ich nicht. Also: Einerseits werde das planlose Ich-schau-mal-was-ich-hier-und-heute-machen-kann nicht zwangsläufig in der Genialität, sondern vielleicht genauso gut in der Mittelmäßig- oder gar Bedeutungslosigkeit enden, andererseits könne es auch sein, dass diese kleinen Schrittchen des evolutionären Prozesses zwar zwangsläufig zu den höchsten Höhen des künstlerischen Wirkens führten, aber leider so langsam, dass alle wie auch immer gearteten Teilziele erst nach 100 Jahren erreicht würden und da würde dann die biologische Begrenzung des Lebens den Prozess einfach abschneiden, was aber eventuell egal sei, da auch die soziale Begrenzung des Lebens dazu führen könne, dass ab einem bestimmten Alter der Weg gar nicht weiter beschritten werden könne, also genaugenommen vielleicht schon in einem Jahr und sieben Monaten, denn das war der Zeitpunkt, an dem mein Bafög auslaufen werde. Und dann? Mein Mitbewohner wollte gar keine Antwort mehr hören, er nahm seine halbvolle Kaffeetasse und erklärte mir, dass er jetzt für die Prüfung lernen müsse, damit er das Studium in der Regelstudienzeit abschließen könne, das sei nämlich sein PLAN. Dann verschwand er amüsiert und ließ mich etwas ratlos zurück. Vermutlich waren die Eheschließung und die Zeugung von Kindern unmittelbar nach dem Examen vorgesehen und in seinem lückenlosen Plan enthalten. Die nächsten existentiellen Fragen würden sich für Holger erst stellen, wenn es um die Gestaltung des Rentendaseins ginge.

5
Ein paar Tage später kam Sabine in unserer WG vorbei, aber nicht wegen mir, sondern wegen meiner Mitbewohnerin. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, da ich einen Teil meiner Möbel in den engen Flur gestellt hatte, um mein Zimmer zu streichen. Das Gepinsel machte überhaupt keinen Spaß. Erst recht nicht das Geputze und Gewische, wenn der Pinsel getropft hatte. Obwohl ich nur ein kleines Zimmer bewohnte, kam mir der Aufwand immens vor. Inzwischen zweifelte ich daran, dass mir die strahlend weißen Wände jene positive Energie vermitteln würden, die ich mir von ihnen erhofft hatte. Aber erst einmal musste ich viel Energie reinstecken, Zimmer ausräumen, Malen, Zurückräumen und so weiter. Die Farbe deckte nicht gut, nach dem zweiten Anstrich war das Weiß keineswegs makellos. Aber ich beschloss, dass ich keine makellosen Wände brauchte. Als Sabine ihren Kopf durch die Tür steckte und sich nach meinem Wohlbefinden erkundigte, fehlte mir nur noch die Wand mit dem Fenster und das wollte ich an dem Tag erledigen. Ich machte ein paar Witze über die Mühsal des Heimwerkens, die Sabine nicht zum Lachen brachten. Sie wirkte unbeeindruckt und dann standen wir uns ratlos gegenüber, weil sie nicht reinkommen wollte in meine schmutzige Baustelle und ich nicht raus. In zwei Stunden bin ich fertig, nur noch die letzte Wand, sagte ich, ob sie dann noch da sei? Das wisse sie nicht, komme auf meine Mitbewohnerin an. Was habt ihr denn vor? Seminararbeit besprechen und dann Wein trinken, voraussichtlich irgendwo draußen. Also nicht in meiner frisch gestrichenen Welt. Ich muss jetzt dringend loslegen, sagte ich und tauchte die Rolle in die Farbe. Sagt mir doch einfach, wenn ihr rausgeht, und wohin, schlug ich vor. Dann legte ich mit der Farbrolle los. Sabine zog sich von der Türschwelle zurück und schloss die Tür. Sollten die beiden erstmal ihre Seminararbeit besprechen, in der Zwischenzeit kam ich mit dem Streichen gut voran und freute mich darauf, fertig zu werden. Während ich am Erker herumfummelte und mich bemühte, das Holz vom Fensterrahmen sauber zu halten, hörte ich die Klingel, später dann auch Stimmen im Flur. Beim weiterpinseln konnte ich bemerken, dass sich offensichtlich Menschen in der Küche unterhielten. Die Stimmen kamen mir bekannt vor, aber ich erkannte sie nicht. Ich würde es mir später ansehen, wer da in der Küche herumsaß, erst einmal musste gemalert werden. Neugierig war ich schon und dann hörte ich das Lachen, das mir so bekannt vorkam. War das Sabine? Ihr lautes Lachen, als ich die Salzstangen in Martins Wohnung verteilte, fiel mir ein. Nein, ich hatte mich wohl getäuscht, oder doch nicht? Ging es in der Küche um das Seminar, oder waren sie schon betrunken? Sollte ich mir auch ein Glas holen? Die letzten zwei Quadratmeter lagen vor mir, jetzt keine Ablenkung, rein mit der Rolle in den Farbeimer. Ich hätte früher anfangen sollen, doch nachdem ich aus der Vorlesung gekommen war, hatte ich erst mal ausgiebig Kaffee getrunken, war dann Einkaufen gegangen, hatte anschließend zu Abend gegessen und beim Anziehen meine Arbeitsklamotten war es schon halb sieben, da brauchte ich mich nicht wundern, dass ich um neun noch pinselte, während in der Küche gelacht wurde und jetzt wieder Sabine, diesmal war ich mir sicher, ihr Lachen zu erkennen. Merkwürdig, sie lachte überhaupt nicht, wenn sie sich mit mir unterhielt. Bei unseren Gesprächen hatte sie stets diesen besorgten Ton, etwas Mütterliches, als würde sie sich Sorgen um mich machen und das machte ich mir ja auch. Doch im Gespräch mit anderen, wenn ich mich entfernt hatte, entwickelte sie sich offenbar zur Stimmungskanone. Und jetzt schon wieder. Andererseits war es mir ganz recht, wenn mir eine besondere Behandlung zuteil wurde. Darauf begründete sich meine Hoffnung, dass sie sich in mich verlieben könnte oder schon verliebt hatte. Nein, sie hatte sich bestimmt noch nicht verliebt, aber sie sah bei mir das entsprechende Potential. Jetzt kam es darauf an, dranzubleiben, ohne ihr dabei die Nerven zu gehen. Sagte ich mir. Vielleicht sogar durch künstliche Verknappung. Mach dich rar! Aber das tat ich schon die ganze Zeit. Jetzt auch! Ich pinselte weiter. Auf jeden Fall erst die Wand anmalen und die Abdeckplanen zusammenlegen. Weitermachen und den Geräuschen lauschen, die durch die geschlossene Tür zu mir hereindrangen. Ab und zu ein paar Wortfetzen oder Gelächter, aber kein einzelnes Gelächter von Sabine, immer nur kollektives Gelächter. Wer waren die anderen? Vermutlich meine Geografie-Mitbewohnerin. Die lachte in meiner Anwesenheit auch nie, schon gar nicht, wenn ich versuchte, einen Witz zu machen. Ich glaube, die hielt meine Ironie stets für puren Ernst. Und wenn ich etwas ernst meinte, hörte sie nicht zu. Oder behauptete, das sei unverständlich, oder ich hätte ein selbst ausgedachtes Wort gebraucht, oder es sei aus dem Philosophielexikon geklaut. Beim Pinseln und Lauschen steigerte ich mich in eine Aversion gegen meine Mitbewohnerin hinein, ich geriet geradezu in Rage angesichts ihres Verhaltens, das mir latent schon lange missfiel. Ganz zu schweigen davon, dass ich Geografie für überflüssig hielt, meinen Atlas hatte ich schon. Nur die Theorie mit der Verkehrswege-Kaskadierung war beeindruckend gewesen. Vielleicht tauschten sich Sabine und meine Mitbewohnerin über genau diese Theorie aus? Wobei ich mir wie selbstverständlich einredete, dass nur Sabine dieses anspruchsvolle Seminar belegte, während meine Mitbewohnerin irgendwas Banales wählen würde. So und dann rollte ich die Malerrolle zum letzten Mal, die Wand war fertig gestrichen. Nicht sehr ordentlich, scheiß drauf, ich wollte jetzt endlich wissen, was die in der Küche redeten. Die Plastikplane zog ich schnell vom Bett und dann das große Tuch vom Schreibtisch. Heute Abend könnte ich sogar im eigenen Zimmer lernen, aber ich würde es bestimmt nicht tun. Keine Lust und keine Notwendigkeit. Ich streifte die bekleckste Arbeitsjacke ab und ging in die Küche, um endlich zu sehen, wer dort alles versammelt war.
In der Tat staunte ich, denn Martin saß am Tisch, gemeinsam mit meiner geografischen Mitbewohnerin, außerdem Holger und Sabine. Zu allem Überfluss lehnte auch noch der Tennispartner von Holger am Herd. Der Tennispartner war ein Schwätzer und Martin kam eigentlich nie zu mir, denn wir trafen uns immer bei ihm. Jetzt saß er am Tisch und trank Rotwein. Man habe ihm empfohlen, mich nicht bei der Malerei zu stören, sagte er. Ich wolle helfen, die Schränke wieder zurechtzurücken. Mit Malen sei ich fertig, antwortete ich, Möbelrücken würde ich erst morgen. Martin und Möbelrücken, das machte mich stutzig. Auf dem Tisch standen zwei leere Weinflaschen, am Fußboden noch eine, Mist, alles leer, oder hatte jemand geheime Vorräte im Zimmer? Man bemerkte meinen suchenden Blick. Der Wein ist alle, erklärte Martin und dann mischte sich der Tennispartner ein, ob wir nicht alle noch in die „Schänke“ gehen wollten. Die Schänke konnte ich nicht leiden, genauso wenig, wie ich den Tennispartner leiden konnte, außerdem war es weit, viel zu weit, um mitten in der Woche noch schnell mal vorbeizuschauen. Dummerweise mischten sich beide Geografinnen ein, sie wollten da auch hin. Martin sagte nichts, aber er scheute sowieso keine Mühe, wenn es darum ging, in eine Kneipe zu gehen und außerdem brauchte er bestimmt nicht früh aufstehen, während ich um neun im Praktikum zu erscheinen hatte. Der Tennispartner fing an, von verschiedenen Biersorten zu erzählen. Englische Biere und Irish Pubs waren sein bevorzugtes Gesprächsthema, mit dem er mich ganz schnell vertreiben konnte. Ob wir denn mit dem Fahrrad hinfahren würden, fragte ich, aber Martin und meine Mitbewohnerin wollten zu Fuß gehen. Holger meinte, wenn Martin gerade hier sei, um mir zu helfen, sollten wir wirklich ein paar Möbel aus dem Flur in mein Zimmer schieben, damit endlich wieder etwas Ordnung einkehre und er nicht nochmal gegen den Schrank laufen würde, wenn er nachts aufs Klo müsse. Wollt ihr wirklich in die „Schänke“? fragte ich entnervt. Sabine war unerwartet entschlossen: Ja, unbedingt! Dann bleibe ich hier, sagte ich und sie beteuerte, dass sie das bedauere, erhob sich aber gleichzeitig, begann, ihre Klamotten zusammenzusuchen. Während sie sich anzog, schoben Martin und Holger mit mir den Schrank ins Zimmer und dann meinte Martin, den Rest würde ich bestimmt alleine schaffen. Wieso hatte er es denn so eilig, wenn er gekommen war, um mir zu helfen? Schon verschwanden sie alle, Sabine winkte von der Tür aus, nur Holger blieb, der packte noch ein paar kleinere Möbel, um sie mir in mein Zimmer zu tragen. Zu guter Letzt nahm er den Clubsessel, stellte ihn neben mein Bett und ließ sich hineinfallen. Vergiss Sabine, meinte er, sie sei undurchsichtig und außerdem würde sie schon in zwei Wochen fortziehen. Woher er das wissen würde? Das hätte sie in der Küche ausführlich erzählt. Die geografischen Verhältnisse an unserer Provinz-Universität würden ihr nicht mehr ausreichen. Martin hätte ihr dauernd Recht gegeben, dabei habe der mit der Universität gar nichts zu tun, aber die Provinz-Beschimpfer und Metropolen-Hochjubler seien ja allgegenwärtig. Holger war durchaus bodenständig, mit ihm konnte ich über all die Leute lästern, denen keine Stadt zu groß war. Vermutlich würde Holger nach dem Studium nicht nur heiraten, sondern auch zurück aufs Land ziehen, um dort Lehrer zu werden, wo er selbst zur Schule gegangen war. Dass Sabine mir gegenüber nie verraten hatte, dass ihre Zeit schon fast abgelaufen war, traf mich sehr, das war eine empfindliche Kränkung. Und Holger wusste mehr als ich. Hätte ich mich doch nicht um die vergilbten Wände kümmern sollen, sondern lieber um Sabine selbst. Zwei Wochen? Da war eigentlich alles gesagt, was gesagt werden musste, und wenn ich irgendwas für sie bedeuten würde, hätte sie es mir erst recht mitteilen müssen, dass sie verschwindet, das war eine Verarschung, sagte ich und Holger meinte, er habe soeben Sabine zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, nicht sein Typ und meiner doch eigentlich auch nicht, er wisse nicht warum, außerdem habe sein Tennispartner dauernd dazwischen gequatscht. Meinte er das ernst oder wollte er mich trösten? Ich schnorrte Holger mal wieder um Tabak an und drehte mir eine Zigarette. Nicht zu Rauchen angesichts dieser herben Enttäuschung erschien mir unangemessen. Ganz zu schweigen davon, dass der Wein alle war. Egal, ob die Zimmerwände jetzt strahlend weiß waren oder nicht, ich würde mir erstmal wieder einen Tabak kaufen. Holger spendierte mir noch einen Drink von einem 18 Jahre alten Whiskey, den er in seinem Zimmer versteckt hielt, das Geschenk des Opas zum Vorexamen oder sowas Ähnliches. Der Whiskey beruhigte mich. Ich fragte mich und Holger, ob ich vielleicht in einer Scheinwelt lebe, ob ich ein Opfer von Realitätsverlust sein könnte. So sicher war ich mir gewesen, dass da was dran sei, an diesem heißen Draht, den ich zu Sabine verspürte, aber jetzt sah es so aus, als wäre das nur Einbildung gewesen. Zwei Wochen, dann würde sie ihre Wohnung schon räumen, erst Exkursion, dann Praktikum und danach sollte es in Berlin weitergehen. Da lohnte es sich doch gar nicht, ihr noch hinterher zu telefonieren. Ich lasse sie abhauen und hoffentlich fragt sie nicht, ob ich beim Umzug helfen könne. Bloß das nicht.

6
Die Wände meines Zimmers waren nun also schön weiß, ich kaufte mir wieder regelmäßig Tabak und kümmerte mich nicht um den Vorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören. Aus Trotz ging ich ausgiebig trinken, meist mit meiner alten Bekannten Tina und dann, seit langen endlich mal wieder auf ein Punkkonzert. Von Sabine hörte ich nichts und ich selbst vermied jede Kontaktaufnahme. Aber ich setzte mich an den Schreibtisch und dachte über das Drehbuch nach, das Drehbuch für den Film, bei dem alles falsch sein sollte. Ich würde selbst die Hauptrolle übernehmen, das war bestimmt falsch und es sollte auch eine Frau mitspielen, aber keine junge, sondern eine möglichst alte. Für die Kamera wollte ich nun nicht mehr Martin nehmen, er mit seinen fotografischen Ambitionen war zu gut. Ich brauchte jemanden, der sowas noch nie gemacht hatte, zum Beispiel Tina. Für sie, als Punk-Ideologin seit frühester Jugend sollte ein kreativer Ausflug in die Kunst der Bildgestaltung kein Problem sein. Sie wollte immer ein Musikinstrument lernen, hatte aber keine Geduld zum Üben, da drängt sich Filmemachen als Kompensation geradezu auf. Schwieriger war es mit der alten Frau, wen sollte ich nehmen? Ich kannte keine alten Frauen. Zu professionellen Schauspielern hatte ich kaum Kontakte, das wollte ich auch gar nicht. Mir kam es so vor, als sei die Arbeit mit Laienschauspielern kreativer und authentischer als mit den mittelmäßigen Profis aus dem Provinztheater. Vielleicht war das aber auch nur wieder meine Verweigerungshaltung. Alles ablehnen, was reibungslos funktionieren könnte. Wenn alles funktioniert, dann steckt man fest in der künstlerischen Gestaltungsverantwortung. Wenn man Verantwortung tragen will, kann man ja auch Ingenieur werden, oder eine Firma leiten, womöglich beides. Da schienen mir die Unwägbarkeiten der Subkultur verlockender, ganz zu schweigen von dem Sympathievorschuss, der einem als Künstler im Allgemeinen entgegengebracht wurde. Aber etwas Inspiration und Arbeit musste man aufbringen und daran kämpfte ich gerade bis zur beginnenden Verzweiflung, weil ich mich immer noch nicht entscheiden konnte, was überhaupt passieren sollte. Vielleicht gar nichts? Stimmungsvolles Nichts füllte schon erfolgreich unzählige Künstlerfilme. Außerdem gab es auch noch die Idee mit dem Kommissar, der nicht ermittelt, sondern nur darüber jammert, dass der Fall unlösbar sei, und am Schluss verhaftet er sich selbst oder es wird das Verfahren eingestellt. Die Frau im fortgeschrittenen Alter könnte behaupten, ihr Mann sei ermordet worden, und dann taucht er plötzlich auf. Aber inzwischen hat sie sich soweit in Widersprüche verwickelt, dass niemand an ihre Unschuld glaubt. Außerdem wollte Martin unbedingt seine vielen Gummienten im Filme haben. Die exzessive Inszenierung der Gummienten erschien mir durchaus passend, solange sie keinerlei Beziehung zu der kriminalistischen Handlung eingehen würden. Zumal geplant war, den Film in Schwarzweiß zu drehen. Wenn gelbe Gummienten einen visuellen Schwerpunkt des Filmes setzen sollten, war das beliebte ORWO-Material aus der DDR unbedingt die falsche Wahl und so steckten schon einige eklatante Fehler in den Eckpunkten dieses Projektes.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits ein paar Rollen ORWO-Super-8-Material verwendet, jetzt wollte ich den ersten Kurzfilm damit realisieren. Damals gab es Super-8-Filme in der Standardausführung von Kodak oder Agfa in jedem Fotoladen oder im Kaufhaus. Ich kaufte mir damals immer Dreierpacks, das waren gut zehn Minuten Film, die kosteten 40 Mark und die Entwicklung war im Preis inbegriffen. Wer 25 Jahre später mit der digitalen Videokamera herumfilmte, der konnte sich meist gar nicht vorstellen, dass man nur für die Aufnahme so viel Geld ausgeben musste. Diese Leute hatten aber auch die DDR verpasst, von der ich noch einiges mitbekam, obwohl ich im Westen aufwuchs. Die meisten Menschen interessierte es gar nicht, wie es da drüben aussah, außerdem bekamen sie von den Medien ausführlich und kapitalismuskonform unter die Nase gerieben, wie unerträglich der real existierende Sozialismus sei, so dass ihnen schon vor der Abfahrt der Spaß verdorben wurde. Alles traurig, hoffnungslos und grau, hieß es. Grau war es wirklich, aber traurig fand ich es keineswegs. Vielleicht lag das an meinen Verwandten, die schienen ganz normal zu sein. Die freuten sich, als ich in den Semesterferien tatsächlich alleine zu ihnen kam. Vorher waren es immer Familienbesuche mit meinen Eltern gewesen, Mutter meckerte zwanghaft und schier ununterbrochen, einerseits über den Fahrstil meines Vaters, andererseits über die Sozialisten, die uns alles wegnehmen wollten, sogar unsere schöne D-Mark, denn die Sozialisten kassierten sie in Form des Zwangsumtausches. Pro Person mussten täglich 25 wertvolle Westmark zum Kurs von Eins zu Eins in die nutzlose Ostmark getauscht werden, die wir nicht brauchten, da wir bei unseren Verwandten schliefen und von ihnen mit Bockwürsten und Bier durchgefüttert wurden. Dass man aber den Zwangsumtausch auch dazu benutzen konnte, Schwarzweiß-Super-8-Filme zu kaufen, das merkte ich erst, als ich alleine im Land war. Während ein Schwarzweißfilm im Westen gut das Doppelte eines Farbfilmes kostete, war das ORWO-Material nach offiziellem Umtauschkurs genauso teuer wie das Farbmaterial. Wenn man das Geld schwarz tauschte, waren diese Filme spottbillig. Oder sogar geschenkt, denn meine Verwandtschaft spendierte mir gleich einen Zehnerpack. So nett waren die. Das konnte ja nicht nur an dem bisschen Kaffee liegen, den ich als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Aber der Kaffee war der greifbare kleinste Teil einer großen Vision, die wohl darin bestand, dass die Menschheit von quälenden materiellen Sorgen befreit werden könne und diese Vision wurde auf mich, den Überbringer, projiziert, während ich wiederum die Vision hatte, dass die Nettigkeit meiner Onkels und Tanten ebenfalls Teil einer größeren Idee sei, die die Menschheit von ihren Materialismus befreien möge, da der Materialismus sowieso nicht zur Zufriedenheit führt und viel zu viele schädliche Nebenwirkungen hat. Das schlussfolgerte ich, weil ich meistens unzufrieden war, obwohl ich doch in der sagenumwobenen Bundesrepublik der ausgehenden 80er-Jahre lebte. In dieser Zeit an diesem Ort hatte man keine existentiellen Sorgen, außer der kleinlichen Angst, es könne einen atomaren, alleszerstörenden Krieg geben oder einen Bundeskanzler, der Franz Josef Strauß hieße. Die Vor-Wende-Bundesrepublik empfand ich intuitiv als gute alte Zeit. Es ging mir eigentlich gut, doch ich litt gleichzeitig unter meinen vielen Selbstverwirklichungsproblemen und wenn man mich gefragt hätte, ob ich auch im Osten leben könnte, dann wäre es mir sehr schwergefallen, mit Ja zu antworten, denn erstens fehlten dort all die Schallplatten, die schon bei uns in der Provinz nur mit Mühe zu kriegen waren, zweitens hatten die im Osten schlechte Zähne. Später wurde zwar manchmal behauptet, das Gesundheitssystem im Sozialismus sei gut gewesen. An den Zähnen der Durchschnittsbevölkerung konnte man das nicht ablesen. Auf der Straße traf man kaum jemanden, der ein hübsches Lächeln mit ordentlichen Zähnen bieten konnte und das Gebiss meiner Tante sah wirklich zum Fürchten aus. Das gefiel mir überhaupt nicht. Drittens war es im Westen inzwischen selbstverständlich, dass man als junger Mensch alleine in einem Zimmer leben durfte. Kein eigenes Zimmer für mich zu haben, schien mir in der Tat als nicht hinnehmbarer materieller Mangel. Wo, oder vielmehr wann sollte man denn in Ruhe onanieren, wenn man die Studentenbude mit einem Kommilitonen teilen musste? Mehrbettzimmer waren in den sozialistischen Studentenwohnheimen die Regel und Wohngemeinschaften, meine als Student bevorzugte Lebensform, gab es wohl gar nicht. Diese Mängel hätte ich umgehen können, indem ich erst nach dem Diplom übersiedelte, was aber nie zur Debatte stand. Stattdessen ergab es sich, dass ich plötzlich gar nicht mehr rüber durfte, was aber auch nicht schlimm war, da sich das ideologisch umstrittene Gebilde „DDR“ unterwartet von alleine auflöste.

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Ich wollte mir einen Vorrat an ORWO-Filmen holen, mit schwarz getauschten Devisen. Das Drehbuch für den falschesten Film aller Zeiten war mit Martins Hilfe fertiggeworden, als Schauplatz war seine malerische Wohnung vorgesehen, die Frau im fortgeschrittenen Alter sollte seine große Schwester sein, die zwar nur zwölf Jahre älter als er war, aber ziemlich spießig aussehen konnte. Schauspielerische Erfahrung fehlte ihr völlig. Das ist gut, sagten wir, sie wird sich überhaupt nicht bewegen müssen, alle ihre Dialogbeiträge werden vor einer Fototapete aufgenommen werden, während sie auf einem Stuhl sitzt. Der Gegenschuss wird aber ganz wo anderes gedreht, nämlich zwischen den langweiligen Nachkriegsaltbauten der Provinzstadt. Ich hatte beim letzten Rasieren darauf verzichtet, die Stoppeln unter der Nase abzuschneiden und hoffte darauf, ein Schnurrbart könnte mich für die Rolle des antriebslosen Kommissars geeignet aussehen lassen. Schnurbärte waren damals genauso out wie später.
Martin befand sich schon seit einer Woche in Berlin, er wollte dort wegen den Aufnahmebedingungen einer neuen Medienakademie Erkundigungen einholen und verriet mir nicht, wieso das eine ganze Woche dauern sollte. Ich wiederum war zu Hause in Süddeutschland zur ganz normalen Sparkasse gegangen und hatte dort offiziell Westgeld gegen Ostgeld getauscht, eins zu sechs. Das dürfen sie aber nicht in die DDR einführen, sagte mir der Bankangestellte und ich antwortete, dass ich das wüsste. Trotzdem war klar, was ich vorhatte, denn was sollte man mit DDR-Geld sonst machen? Um internationale Geschäftsbeziehungen über den Eisernen Vorhang hinweg zu beginnen, waren 350 Ostmark wohl etwas zu wenig. Das waren ein paar Scheine und die passten in den Fotoapparat. Dort, wo die Filmpatrone hingehörte, stopfte ich die zusammengefalteten Scheine hinein. Die eifrigen Grenzbeamten würden doch hoffentlich nicht meinen Fotoapparat öffnen, das hieße ja, dass sie den Film, der normalerweise drin sein sollte, belichten würden. Wobei ein Fachkundiger schon erkennen konnte, dass das Zählwerk auf null stand und deshalb entweder gar kein Film vorhanden war, oder er war noch nicht eingefädelt und man würde durch das Öffnen des Deckels auch nichts zerstören. Trotzdem hielt ich dieses Versteck für supersicher, zumal ich in Berlin-Friedrichstraße als Tagestourist rübergehen wollte, da gab es keine obligatorischen Durchsuchungen wie bei der Einreise mit dem Auto.
Also packte ich den Rucksack und ließ mich zur Autobahnraststätte bringen, damit ich dort lostrampen konnte. Damals machten das viele und speziell auf der Route nach Berlin standen oft etliche Gruppen und Einzelpersonen mit ihren Pappschildern. Aber wenn man dann endlich jemand hatte, der einen mitnahm, kam man gleich bis ans Ziel, da so gut wie niemand die Transitstrecke verließ. Von Bayern aus war es die längste Strecke, die schier endlos über die holprigen Betonpisten der DDR-Autobahnen führte. 100 km/h als strikte Geschwindigkeitsgrenze, da konnte man lange Gespräche führen. Über die DDR, übers Trampen, über Geschwindigkeitskontrollen, über andere Tramper und andere Autofahrer, über Wartezeiten und Raststätten. Eigentlich immer das gleiche Blabla. Obwohl ich früher oft auf diese Weise unterwegs war, kann ich mich nur an wenige Fahrer erinnern, meist an die schrägen Typen, aber auch das nur vage. Die meisten, und das waren die weitgehend normalen, sind völlig aus der Erinnerung verschwunden. Später, als ich ab und zu selbst mit dem Auto fuhr und mich bei der Menschheit revanchieren wollte, gab es keine Tramper mehr, obwohl ich oft an den Raststätten rausfuhr, ohne eigentlich halten zu wollen. Nur mal schauen, ob jemand mitwill. Eine simple, aber funktionierende Methode, damit Leute zusammenfinden, deren Interessen sich ergänzen. Vermutlich zu einfach. Trampen war plötzlich nicht mehr angesagt, niemand wollte mehr anhalten. Mitfahrzentralen übernahmen den Markt, bis es ihnen an den Kragen ging, denn eines Tages drehte die Bahn durch und schmiss für extrem wenig Geld die erste Version des Wochenendtickets auf den Markt. Sieben Personen durften zwei Tage lang im ganzen Bundesgebiet die Nahverkehrszüge nutzen, für lachhafte 25 Mark. Bloß weil es sensationell billig war, fuhren sie alle hin und her, kreuz und quer durchs Land oder sonst wohin. Trampen war nicht billig, es war ganz umsonst, trotzdem verschwand es als Verkehrssystem. Aber es verschwanden ja ganze Länder, so wie die DDR, deren Durchquerung auf der Transitstrecke quälend lang dauerte, aber schließlich näherte man sich dann doch der geheimnisumwitterten Mauerstadt Berlin. Nochmal eine Grenzkontrolle an einer riesigen Station und dann kamen wir zur Raststätte Dreilinden, der Westen hatte mich wieder. Mein Fahrer nahm mich mit bis zum Kaiserdamm und empfahl mir die U-Bahn.
Martin hatte eine Übernachtungsmöglichkeit bei einem alten Schulfreund im Wedding. Dort sollte auch ich schlafen. Damals fand ich die schmuddeligen Treppen der Hinterhäuser und Seitenflügel mit ihren kaputten Briefkästen noch ziemlich aufregend. Oder verwahrloste Mülltonnenabstellplätze. Billige Negation, opportunistische Antihaltung. Aber Martins Schulfreund, der sowieso nur Untermieter und erst vor drei Monaten nach Berlin gekommen war, sah das ganz unideologisch und pragmatisch. Er hatte damals mit Martin und mir am Tag nach der Filmpremiere Nudeln gekocht. Berlin-Neulinge landeten oft zunächst im Wedding, erzählte er, aber wenn alles klappt, würde er im Herbst in eine Kreuzberger Loft-WG einziehen und Martin könnte, sofern er mit seiner Aufnahmeprüfung erfolgreich wäre, die Tradition fortsetzen, indem er die Wohnung im Wedding übernähme. Das tat er letztendlich doch nicht und zwar aus einem Grund, der mir gar nicht passte. Als wir abends wieder bei Nudeln mit Tomatensoße zusammensaßen, erzählte Martin begeistert von der privaten Akademie für Digitale Künste, die ganz neu gegründet worden war, weil sich alle anderen Akademien und Kunsthochschulen viel zu wenig um die Digitalität kümmern würden. Digitalität sei eine Revolution und wird Türen öffnen, die man jetzt noch gar nicht kennt, sagte Martin mit einer Begeisterung, die ich bei ihm gar nicht erwartet hatte. Wie üblich musste ich widersprechen. Es sei doch die Digitalität grundsätzlich etwas sehr Banales, nur eine andere Art der Beschreibung, durch die zweifellos manche technische und speziell mediale Prozesse vereinfacht werden könnten, aber die analoge Welt bot doch Lösungen für so gut wie alle Probleme. Hervorragende Lösungen, wie Röhrenverstärker und 35mm-Film, 8-Spur-Tonbandmaschinen und meine geliebte Schreibmaschine. Die meisten dieser hervorragenden analogen Lösungen konnten wir uns allerdings nicht leisten. Deshalb war ich angereist, wegen den billigen analogen Super-8-Filmen aus dem Osten, die wirklich einen ziemlich minderwertigen Ersatz darstellten, für das unerschwingliche professionelle Filmmaterial. Nichtsdestotrotz hielt ich dieses Medium in seiner Beschränktheit allen digitalen Spielereien überlegen. Das glaubte ich damals tatsächlich, was man rückblickend als naiv ansehen könnte, aber es waren wirklich nur ganz wenige Menschen, die den zunächst schleichenden Entwicklungsprozess der digitalen Informationstechnik in seiner Bedeutung richtig einschätzten. Ich gehörte nicht zu ihnen, aber da Martin mein Freund war, kannte ich also immerhin jemanden, der es schon recht früh kapiert hatte, während ich mich an meine Schreibmaschine klammerte und jahrelang behauptete, dass sie mir bei der Ausformulierung meiner vermeintlich kreativen Gedanken die beste Gefährtin sei. Dass ich sie auch auf einer einsamen Insel benutzen könnte, oder im Wald. Inzwischen ist die Hälfte meines Lebens rum, aber es hatte sich nie die Gelegenheit ergeben, auf einer einsamen Insel oder im Wald Schreibmaschine zu schreiben. Dafür sitzen dort inzwischen die Typen mit ihren Smartphones und Tablets. Damals, als wir im Wedding bei Martins alten Schulfreund diskutierten, widersprach ich Martin bei vielen seiner Thesen, an die ich mich im Detail gar nicht erinnern kann. Er erging sich in Visionen einer erweiterten Kommunikation, während ich von sozialen Netzwerken redete und damit etwas ganz Anderes meinte, als heute mit dem Begriff verbunden wird. Schließlich kreiste dann doch noch ein Joint und das Gespräch drehte sich dabei um diverse Bars und Kieze, was mich schläfrig werden ließ. Ich rollte den Schlafsack aus, damit ich am nächsten morgen früh nach Ostberlin käme. Mitkommen wollte Martin nicht, er konnte die Sozialisten nicht leiden, außerdem musste er was Wichtiges erledigen. Dass alle, die sich in Berlin aufhalten, permanent was Wichtiges zu erledigen haben, begriff ich erst, als ich dort wohnte. Damals dachte ich noch, es sei wirklich wichtig und machte mich nach dem Frühstück auf den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße, wo die Tagestouristen im sogenannten Tränenpalast in die DDR ein- und ausreisen konnten.
Langsam stieg meine Nervosität, obwohl ich mein Vorhaben in keiner Weise als kriminell oder moralisch fragwürdig ansah. Aber die Humorlosigkeit der DDR-Grenzer flößte mir durchaus Respekt ein. Vielleicht zu viel, denn es muss wohl meine Körpersprache gewesen sein, die die Aufmerksamkeit auf mich lenkte, so dass man mich bei der Einreise aus der langen Schlange der Wartenden herauspickte und sorgfältig untersuchte. Nicht nur mein Portemonnaie, sondern auch noch die Jacke und der Rucksack wurden durchstöbert. Natürlich nahm der Grenzer auch meinen Fotoapparat in die Hand, schenkte ihm jedoch keine weitere Beachtung. Anders war es mit der zusammengefalteten Fotokopie, die er in der Innentasche meiner Jacke entdeckte. Er faltete sie auf, runzelte die Stirn. Was das sei, fragte er mich. Ach du Schreck, ich wusste es auch nicht! Erst, als er mir den Zettel zum Lesen hinhielt, sah ich, dass es eine Seite aus meinem Drehbuch war. Ich war mit ein paar kopierten Seiten zu Martins Schwester gefahren, um mit ihr den Dialog zu besprechen. Dass eine Seite in der Jacke geblieben war, hatte ich gar nicht bemerkt. Jetzt stand ich da, ertappt als einer, der womöglich Propagandamaterial ins gelobte sozialistische Land hineinschmuggeln wollte. Das Wort Drehbuch lag mir schon auf den Lippen, doch ich verkniff es mir gerade noch. Wer Drehbücher schreibt, macht sich verdächtig, dachte ich, bestimmt waren die Grenzbeamten darin geschult, wer welche unlauteren Absichten in ihrem Land hegte und mein Vorsatz, mir durch Devisenkriminalität das wertvolle Filmmaterial zu ergaunern, das eigentlich dafür vorgesehen war, den verdienten Urlaub der Werktätigen und ihrer Familien zu dokumentieren, wäre leicht zu erraten, wenn ich ein Drehbuch in der Tasche stecken hätte. Theater, stotterte ich, ja, das war die richtige Idee, wer Theater spielt, braucht kein Filmmaterial und muss als potentieller Brecht-Fan ab und zu dringend nach Ost-Berlin. Das ist der Entwurf eines Theaterstückes, das wir in unserer Laienspielgruppe aufführen möchten, in Süddeutschland, erklärte ich. Das habe ich selbst verfasst, ich versuche mich als Schriftsteller. Der Grenzer schaute mich streng an, dann warf er einen langen prüfenden Blick auf den Text. Welche Seite des Drehbuchs war das überhaupt? Er blickte nochmal in meinen Reisepass. Hier in dem Text steht was von einer U-Bahn, wo ist die? In der Stadt, in der sie wohnen, gibt es keine U-Bahn. Das stimmte und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. War der Grenzkontrolleur im vorigen Leben Literaturprofessor oder Geograf gewesen? Wieso wollte der das so genau wissen? In Nürnberg gibt es eine U-Bahn, die ist ganz klein, aber es gibt sie, und Nürnberg ist gar nicht weit weg, also … unsere Laienspielgruppe probt in Nürnberg, manchmal. Oh Gott, der musste doch merken, dass ich nur phantasierte. Warten sie hier, sagte er und verschwand nach hinten.
Das ging ja gut los. Vor mir lag mein leerer Rucksack, daneben der Fotoapparat. Den hätte ich gerne weggesteckt, aber das durfte ich bestimmt nicht. Hinter dem Tresen, in einigen Metern Abstand, stand noch so ein strenger Grenzbeamter und fixierte mich. Links und rechts von mir wurden ab und zu weitere Touristen aus der Reihe herausgewunken und mussten ihre Taschen ausleeren. Aber da gab es wohl nichts Verdächtiges. Während ich noch wartete, packten die anderen ihren Kram wieder zusammen und gingen weiter, unbehelligt. Schließlich kam mein Grenzer zurück, drückte mir den Zettel in die Hand und meinte, es sei wohl doch eher privater Natur, aber die Einfuhr von Schriftstücken, Zeitungen und Büchern unterlägen gesonderten Regelungen und ich solle solche literarischen Werke in Zukunft zuhause lassen. Danke für die Belehrung. Ich ärgerte mich über meine Nachlässigkeit, schließlich war ich in geheimer Mission unterwegs, wieso hatte ich diesen Zettel gar nicht bemerkt?
Jetzt erschien mir mein Rucksack verdächtig. Es war ein grüner Segeltuchrucksack mit Ledergurten, der ohne Inhalt unauffällig und klein an meinem Rücken hing. Als ich dann im großen Kaufhaus am Alexanderplatz 25 Filmkassetten hineinsteckte, blähte er sich zu einer großen Kugel auf. Viel zu groß für einen Tagestouristen mit lauteren Absichten. Aber trotzdem war ich entschlossen, die Sache durchzuziehen. Was sollte ich denn auch sonst mit meinem schwarz getauschten Geld anfangen? Es blieb sogar einiges übrig und ich vertrödelte die Zeit auf der Karl-Marx-Allee, ging essen, trank schlechten Kaffee und kaufte mir ein blaues Lederportemonnaie. Dann zurück zum Bahnhof Friedrichstraße, wo ich mich gegen Mittag in die Schlange einreihte. Jetzt war hier viel los, jede Menge Menschen wollten rüber in den Westen. Wieder wurden die meisten ohne Prüfung des Gepäcks zur Passkontrolle durchgewunken, wieder wählte man stichprobenartig einzelne Personen aus, die genauer kontrolliert wurden, wieder fiel die Wahl auf mich. Das konnte doch nicht wahr sein! Aber es war offensichtlich passiert, sie hatten mich herausgepickt. Machen sie mal ihren Rucksack auf, sagte der Grenzer und da musste ich ihm meine Schätze zeigen. Die vielen Filme waren sehr verdächtig und meine Quittung vom Geldumtausch, die ich vorlegen konnte, wies nur den Mindestbetrag von 25 Mark aus. Kommen sie mit! sagte er mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch zuließ und brachte mich in ein spartanisches Kämmerlein mit vergittertem Fenster.
Er deutete auf einen Holzstuhl in der Ecke neben dem Fenster, auf den ich mich setzen und warten solle. Dann schloss er die Tür und ließ mich allein zurück. Den Rucksack, meine Reisedokumente, Portemonnaie, Kalender und Notizheft hatte er an sich genommen. Da saß ich ganz verwirrt und wenn ich mich erhob, was ich mich kaum traute, konnte ich vor dem Fenster die Menschen sehen, die sich auf den Tränenpalast zubewegten. Die wirkten alle unbeschwert, ganz im Gegensatz zu mir. Jetzt hatte mich die böse Staatsmacht festgesetzt. Was konnten die mir, als Abgesandten aus dem freien Westen, antun? Eigentlich nicht viel, oder doch? Konnten die mich in ihre schaurigen Ost-Gefängnisse einsperren, und wenn ja, wie lange? Nein, das war doch eine reine Angstphantasie, aber die würden mir die Filme wegnehmen und dann stünde ich dumm da. Oder nicht? Denn für den kleinen Provinzfilmemacher wäre das eine Sensation, wenn man von höchster politscher Stelle aus meine Dreharbeiten blockierte, das verliehe mir eine Bedeutung im deutsch-deutschen Kulturkampf, der weit über die ästhetische Belanglosigkeit meines filmischen Werkes hinausreichte. Von höchster politischer Stelle konnte eigentlich keine Rede sein, ich hatte mich zwar an einen Brennpunkt zwischen den Systemen vorgewagt, aber trotzdem war ich nur ein unbedeutender Student, der von einem ebenso unbedeutenden Grenzbeamten erwischt worden war.
Als er wiederkam, sah ich ihn überhaupt erst einmal bewusst an. Nicht jung, nicht alt, nicht groß, nicht klein, ein bisschen dicklich, blaue Augen, die übliche hässliche Metalldrahtbrille und etwas schiefe Zähne. Später würde ich so ähnlich aussehen, aber das wusste ich damals nicht und außerdem würde ich keine Metalldrahtbrille, sondern eine schwarze Intellektuellenbrille und erst recht nicht diese unsympathische graugrüne Uniform tragen, auch keine andere Uniform. Jetzt setzte sich der Grenzbeamte auf den zweiten Stuhl, zwischen uns das kleine Tischchen und begann mit der ersten Befragung. Wo die Filme herkämen. Aus dem Kaufhaus, Quittung war vorhanden. Wo das Geld herkäme. Hat mir mein Cousin gegeben. Wie heißt der? Wo wohnt der? Ich nannte Namen und den Ort. Das ist weit weg von Berlin und wieso gibt er ihnen so viel Geld? Weil ich ihm Kaffee aus dem Westen mitgebracht hätte. Für ein Päckchen Kaffee so viele Filme und dann fährt er bis nach Berlin? Er unterstützt meine künstlerischen Aktivitäten, der ist wirklich nett. Das darf er nicht, Devisenvergehen. Mein Cousin ist ein braver Bürger und Sozialist, ich habe ihn angestiftet.
Mir wurde immer mulmiger, denn der Grenzer glaubte mir diese Ausreden überhaupt nicht, außerdem: Womöglich bekam meine liebe Ostverwandtschaft echte Probleme, wenn ich sie da hineinzog, und die mussten hierbleiben, mich würden sie bestimmt irgendwann wieder nach Hause lassen. Der Grenzer war korrekt, aber unerbittlich, immer wieder kam er mit den Fragen, die mich in Bedrängnis brachten und schließlich hielt ich es nicht mehr aus, da bekam er mein Geständnis. Schwarz getauschtes Geld, illegal ins Land geschmuggelt und mit meiner lieben Verwandtschaft hatte das gar nichts zu tun. Da schaute er mich an, als hätte er es schon immer gewusst und so war es wohl auch, denn er breitete meinen Terminkalender vor mir aus und zeigte mir meine eigene Notiz: „58 DM für Ostgeld“ stand da. So ein Mist! Was war ich für ein Idiot! Wieso hatte ich mir das eigentlich aufgeschrieben, so dämlich kann man doch nicht sein, aber ich war es, zweifellos.
Doch er ließ mir gar keine Zeit, mich über meine Dummheit aufzuregen, er machte mit den Fragen weiter, die der Auswertung meines Terminkalenders dienten, während ich, enthemmt durch das befreiende Geständnis und getrieben durch den Wunsch nach Selbstbezichtigung, keinerlei Widerstand mehr leistete, sondern geradezu geschwätzig über alle Aspekte meines Lebens, die irgendwie einen Niederschlag im Terminkalender gefunden hatten, Auskunft gab. An die Details konnte ich mich später nicht mehr erinnern, aber es ging aus unerfindlichen Gründen auch um Kriegsdienstverweigerung und mein Ingenieurstudium. Naja, dass ich mich, obwohl nur wehruntauglich, als Verweigerer des militanten West-Imperialismus zu positionieren versuchte, ging in meiner misslichen Situation zweifellos als harmlose Schleimerei durch. Wieso sich der Grenzer das alles anhörte, war mir zu dem Zeitpunkt nicht klar, aber er verließ mich zwischendurch noch zweimal und ließ mich alleine in der Stube schmachten. Da wunderte ich mich durchaus, was die alles von mir wissen wollten, aber als er zum dritten Mal erschien, meinte er, dass die Chefs jetzt Zeit hätten, um selbst mit mir zu reden. Bei der Gelegenheit gab er mir meine Reisedokumente zurück, auch den Kalender und den Rucksack, allerdings ohne die Filme und ohne das blaue Portemonnaie. Das stimmte mich optimistisch, irgendwie aus dem Schlamassel herauszukommen.
Erst recht, als man mich in ein holzvertäfeltes Zimmerchen mit einer für DDR-Verhältnisse geschmackvollen Sitzgruppe führte. Dort begrüßten mich zwei Herren. Einer im gleichen undefinierbaren mittleren Alter wie der Grenzer, der andere etwas jünger und eine recht sympathische Erscheinung, das Wort „schneidig“, das ja keiner mehr benutzt, passte bei ihm gut. Die beiden trugen keine Uniform, sondern Hemden mit Schlips und Sakko. Dann boten sie mir zu meinem Erstaunen Zigaretten an, Cabinet, was gut zu dem fensterlosen Raum passte. Ich solle mal erzählen, forderte man mich auf. Ich fand das merkwürdig, aber wenn sie sich das wünschten, konnte ich ihnen behilflich sein und bestimmt würden sie sich freuen, wenn ich meine unzusammenhängende Geschichte mit Kritik am Westen und Sympathie für den Osten würzte: Dass ich einerseits studieren würde, um Ingenieur zu werden, andererseits wenig Gefallen am gut geschmierten Produktionsmechanismus des Kapitalismus hätte, dass ich mich als Filmemacher kritisch mit dem System auseinandersetzen würde, dass ich meine kleinen Devisenvergehen nicht als Affront gegen den Arbeiter- und Bauernstaat sähe, sondern als opportunes Hilfsmittel für meinen mit künstlerischen Mitteln ausgetragenen Klassenkampf, dass ich ab und zu demonstriere, allerdings gegen Atomkraftwerke, die der Sozialismus auch noch nicht abgeschafft hätte, dass meine Mutter im Westen lebe, aber manchmal „Ein Kessel Buntes“ im DDR-Fernsehen anschaue, weil sie das besser fände als das viele Gequatsche in unserem Fernsehen. Ich erzählte also jeden unbedeutenden Mist, sofern er ansatzweise der Wahrheit entsprach und meine Sympathie für die DDR zu belegen schien. Meine Gesprächspartner waren wirklich geduldig, was diese langatmigen Ausführungen anging, aber der schneidige Herr konfrontierte mich dann mit der berechtigten Erkenntnis, dass meine Aktivitäten recht beliebig seien. Um gegen das System vorzugehen, brauche man einen Gegenentwurf, ein Alternativsystem, denn einfach „dagegen sein“, das bringe nichts, das sei bloße Polemik. Ich schaute ihn groß an. Mir schien, als hätte er recht, als hätte er genau den wunden Punkt meines diffusen nonkonformistischen Mainstreamverweigerungsgezappels erkannt. Aber meine Hoffnung, ich würde noch mehr konkreten Erkenntnisgewinn aus der Unterhaltung ziehen, erfüllte sich nicht, denn er lenkte das Gespräch auf mein Studium und auf die Forschungsprojekte am Institut, was mich doch überhaupt nicht interessierte. Und er benutzte dabei zum zweiten Mal die Redewendung „Wir können ja in Kontakt bleiben.“ Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die wollten mich zum Stasi-Mitarbeiter machen und während das Gespräch sich um die langweiligen Uni-Gegebenheiten drehte, kristallisierte sich immer weiter heraus, worin das Missverständnis bestand. In meinem Terminkalender gab es unter anderem eine Notiz, die sich auf einen der wichtigsten bundesdeutschen Rüstungskonzerne bezog. Der Grenzbeamte hatte gedacht, dass ich dort ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum führen wollte, in Wirklichkeit war es nur eine Exkursion gewesen. Klar, das wäre ein Schnäppchen für die Stasi gewesen, wenn sie mich bei einem kleinen harmlosen Schmuggelversuch abgreifen und dann gelingt es mir, als Ingenieur bei der Waffenschmiede der Nation zu arbeiten. Aber daraus würde nichts werden, die nehmen mich doch gar nicht, weil ich nicht bei der Bundeswehr war, sagte ich. Ich weiß noch gar nicht, ob ich wirklich so richtig als Ingenieur arbeiten will. Das brachte den Stasi-Mann gar nicht aus der Ruhe, er betonte vielmehr, dass ich ja gerade dann, wenn ich ein alternatives Leben führen wollte, so einen kleinen Nebenverdienst zu schätzen wissen würde, der sich aus unserer Zusammenarbeit ergeben könnte, wenn wir „den Kontakt aufrechterhielten“ und meinen Freund, der nach Berlin ziehen würde, den könnte ich ja öfter mal besuchen und dabei würden sie mich unterstützen, na ja, nicht unbedingt mit Flugtickets, aber die Bahnfahrt wäre schon drin. Mannomann, die meinten das wirklich ernst! Aber die mussten doch sehen, dass ich völlig unfähig war. So stümperhaft, so dilettantisch, wie ich mich angestellt hatte, was sollte ich da für einen Nutzen für sie bringen? Oder verstanden sie sich doch als Kunstmäzene?
Wir müssen zum Ende kommen, dachte ich mir und rückblickend tat ich das einzig Sinnvolle: Ich sagte, dass ich etwas getan hätte, was falsch gewesen sei, doch dabei solle es bleiben, ich müsse mich jetzt dafür verantworten, aber ich wolle mich nicht noch in weitere Schwierigkeiten hineinmanövrieren. Zuletzt traute ich mich sogar, darum zu bitten, die Filme mitnehmen zu dürfen. Da doch das Filmprojekt schon geplant sei und ich das Material dringend brauche. Da holten sie tatsächlich eine Tragetasche, voll mit meinen Filmen und dem blauen Portemonnaie. Die gaben sie mir und wiesen darauf hin, dass ich bei meiner nächsten Einreise in die DDR erst einmal eine Geldstrafe begleichen müsste. Aber die Ausreise war gratis, die Filme waren bei mir, das Bewerbungsgespräch beendet. Ein Grenzer geleitete mich durch einen langen Flur, öffnete eine Tür und ich stand plötzlich inmitten der vielen Menschen, die sich von der Passkontrolle zum Bahnsteig bewegten, dann hinein in die S-Bahn und schon war ich im Westen.
Ich schaute auf die Uhr. Es ging gegen fünf. Hatte ich wirklich über drei Stunden im Tränenpalast verbracht? Offensichtlich schon. Es kam mir vor wie ein wirrer Traum, den ich aber nicht abschütteln konnte, er saß fest im Bewusstsein, während die Stadt an mir vorbeiglitt. Die traurigen Straßen im Wedding erschienen mir wie eine sicherer Hafen. Martin würde staunen, was ich alles auf mich nahm, um unseren Film zu drehen. Doch er staunte gar nicht, denn er war nicht da und sein alter Schulfreund auch nicht. Niemand war da. Ich hockte in dem verranzten Weddinger Treppenhaus vor der verschlossenen Tür und wartete, dass jemand käme, der sich meine Geschichte anhören wollte. Waren sie alle bei ihren wichtigen Terminen? Ich fand es unerträglich, alleine dazusitzen und warten zu müssen.
Die Straßen im Umfeld der Wohnung erwiesen sich als nichtssagend oder quälend hässlich, die Dönerbuden als unappetitlich und die Cafés waren voll mit Weddingproleten. Trotzdem entschied ich mich nach langer Ratlosigkeit für eine türkische Pizza, die nicht schmeckte, doch als ich danach zurück zur Wohnung ging, öffnete mir Martins alter Schulfreund die Tür. Endlich jemand, der meinem extrem erhöhten Mitteilungsbedürfnis Linderung verschaffen konnte. Da es inzwischen schon spät war, wurde mir angeboten, noch eine Nacht in Berlin zu schlafen. Martin habe sich abgemeldet, weil er bei seiner Freundin übernachten würde. Ach so? Dass Martin eine Freundin hatte, war mir gar nicht bekannt. Martins alter Schulfreund schob mir einen Zettel mit einer Telefonnummer hin, da könne ich Martin erreichen, und er hätte darum gebeten, ihm mitzuteilen, ob meine Mission erfolgreich gewesen wäre. Eigentlich war ich davon ausgegangen, Martin würde sich mit mir nach diesem Abenteuer ausgiebig betrinken, aber so wie es klang, ging es nur darum, Bescheid sagen und dann zügig nach Süddeutschland abzureisen.
Was ich dann auch machte, denn nachdem ich die Telefonnummer gewählt hatte, meldete sich völlig unerwartet Sabines. Ja, das sei ihre Nummer, die Telefonnummer, die zu ihrer Wohnung gehöre, wobei die Wohnung ziemlich klein sei, sie hoffe, noch etwas Besseres zu finden, aber immerhin sei es nicht im Wedding. Ob ich Martin sprechen wolle. Da hatte sie mich wirklich überrascht, es fiel mir nichts ein, außer ja zu sagen und während ich dann Martin am Telefon hektisch und wirr erzählte, was vorgefallen war, versuchte ich gleichzeitig die Tatsache zu verarbeiten, dass Martins alter Schulfreund gesagt hatte, Martin sei bei seiner Freundin, gleichzeitig war er bei Sabine. Wenn A gleich B und B gleich C, dann ist A auch gleich C, oder etwa nicht? Logische Schlussfolgerung: Sabine war die Freundin. Oder hatte ich irgendwas verwechselt, gab es da noch andere Erklärungsmöglichkeiten? Alternativlösungen außerhalb der gängigen Logik? Während ich nach diesen Lösungen suchte, erzählte ich gleichzeitig von der Stasi und meinen Super-8-Filmen, das war ein extremer Gedankenstress. Als ich dann mit meiner Geschichte zum Ende kam und Martin mitteilte, dass sie mir die Filme zurückgegeben hätten, da sagte er nur „Wahnsinn“, dann schwiegen wir beide. Sollte ich fragen, ob Sabine seine Freundin sei? Ich tat es nicht, ich sagte, dass ich morgen früh nach Hause fahren würde, ob wir uns noch sehen würden? Vermutlich nicht, es sei zu erwarten, dass er nicht so früh aus dem Bett komme. Schon klar, dachte ich mir, er will mit Sabine also auch nach dem Aufwachen ficken, Mist. Vermutlich sei ich schon weg, wenn er kommen würde, fügte er hinzu, und ich fragte mich im Stillen, ob ich dies als Aufforderung verstehen sollte. Vermutlich ja, und deshalb sagte ich einfach OK, Gute Nacht, bis in einer Woche, Tschüss und legte auf.
Martins alter Schulfreund entkorkte gerade die Weinflasche. Auf meine Frage, ob Sabine Martins Freundin sei, antwortete er mit ja, die würde ich doch kennen, die war damals auch auf der Premierenfeier bei Martin und danach sei es ziemlich schnell gegangen. Bei mir ging es auch ziemlich schnell: Mich zu betrinken. Wir hatte drei Flaschen Wein da, vermutlich trank ich zwei oder ein bisschen mehr davon, mein Gastgeber den Rest und am nächsten Tag stand ich verkatert am Straßenrand und trampte nach Hause.

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Es folgte eine öde Zeit. Zwar gelang es mir, mit der Rückbesinnung und einigen älteren Filmen mehrere Filmvorführungen in Jugendzentren, Kulturkneipen und Off-Kinos durchzuführen, außerdem lief die Rückbesinnung auf einem coolen Super-8-Open-Air-Festivals, aber mir schien, als verpuffe die Energie, die ich aus diesen Vorführungen schöpfte, gleich wieder, weil mir der falsche Film viel Mühe machte. Von Anfang an liefen die Dreharbeiten nicht so gut wie erhofft und dann gefiel der fertige Film niemandem so richtig. Mir auch nicht. Meine Freunde, die besessen von der Idee gewesen waren, verschwanden einer nach dem anderen aus meiner Universitätsstadt. Nachdem Martin erfuhr, dass er die Aufnahmeprüfung für die Akademie der digitalen Künste bestanden hatte, zog er innerhalb weniger Wochen nach Berlin, wo Sabine sowieso schon war. Achim fiel durch eine halbwegs wichtige Prüfung und schimpfte hinfort auffällig oft über die schlechten Studienbedingungen. Ein Semester später machte auch er sich auf den Weg nach Berlin. Dort, so sagte er zum Abschied, würde er als Studienabbrecher weniger auffallen oder für den Fall, dass er das nutzlose Studium der Theaterwissenschaft bis zum Abschluss durchhielt, viele Möglichkeiten finden, hochqualifiziert in unbezahlten Kulturklitschen abzutauchen. Holger hatte zwar noch sein Zimmer in meiner WG, aber da er ein Referendariat machte, sah ich ihn oft Wochen lang nicht. Ich selbst hatte nach den Dreharbeiten für den falschen Film bereits mit den Vorbereitungen für die Diplomarbeit begonnen. Dadurch verbrachte ich mehr Zeit an der Universität und mit meinen Studienkollegen, die mit ihrer Vorliebe für handfeste Witze wenig an meiner konzeptionell motivierten Filmidee interessiert waren. Ich gab dem Werk den sperrigen Titel „Der falsche Mann zur falschen Zeit im richtigen Film“. Das machte es aber leider auch nicht wett, und so musste ich mir eingestehen, dass ich das künstlerische Niveau der „Rückbesinnung“ nicht erreicht hatte. Bisher war es mir gelungen, immer an die Qualität der Vorgängerfilme anzuschließen oder sogar besser zu werden. Vom „Falschen Film“ konnte man das nicht sagen. War die Idee eine Schnapsidee gewesen? Hatte ich zu viel auf die Ratschläge der anderen gehört, oder zu wenig? Hätte ich lieber Martin Kamera machen lassen sollen? Oder war ich überfordert, weil ich viel zu oft daran dachte, dass ich den Film hinter mich bringen sollte, um dann endlich mit der Diplomarbeit anzufangen? Nach dem Diplom würde es vielleicht gar nicht mit den künstlerischen Kurzfilmen auf Super-8 weitergehen, das war eine Schreckensvision, die mich einschüchterte.
Als die Premiere stattfinden sollte, war Martins Wohnung schon geräumt, darum kam ich auf die Idee, ich könnte die Premiere im Szene-Kino der Universitätsstadt durchführen. Aber das war eigentlich zu groß, es wurde nicht voll, 200 Sitzplätze sind eben doch eine ganze Menge und die Leinwand war doppelt so groß, wie die Projektion meines Super-8-Bildes. Im Kino tranken die Leute auch nicht viel, zumindest nicht vor dem Film. Das wirkte sich alles auf die Stimmung aus. Es war es eine uncoole Veranstaltung, die bei mir das Gefühl einer verpassten Chance zurückließ, aber keineswegs zur Stärkung des Selbstvertrauens diente.
Die hätte ich aber durchaus gebrauchen können, da die Diplomarbeit mit einigen technischen Schwierigkeiten begann, mit Motivationsproblemen weiterging und in totaler Verunsicherung ihr Ende fand. Zum Glück widerstand ich allen Anfechtungen. Nervlich zunehmend zerrüttet wurschtelte ich mich durch entsetzlich lange neun Monate. Der betreuende Professor quälte mich mit etlichen gutgemeinten Ratschlägen. In schlimmen Momenten spielte ich mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen und auf das gesamte Diplom zu verzichten. Das wäre so kurz vor dem Ende des Studiums der totale Irrsinn gewesen, aber ich dachte mir, wenn ich der Welt zeigen will, wie sehr ich unter der Wissenschaft leide, dann in Form eines Studienabbruchs. Ich tat es nicht, raffte mich immer wieder auf und schleppte mich ins Institut, wo ich dann recht motivationslos weiterforschte, was vermutlich nicht nur mich, sondern auch den Professor frustrierte. Schließlich trat er die Flucht an und flog zu einem Auslandsaufenthalt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich unermüdlich über den Abgabetermin hinaus weitergemacht und gewartet, bis er zurückkommt, um ihm die letzten Korrekturen auf einem silbernen Tablett zu servieren. Aber danach stand mir der Sinn überhaupt nicht. Wenn er verschwindet, warum sollte ich nicht auch abhauen? Inzwischen hatten nicht nur meine Filmfreunde, sondern auch die meisten der Mitstudenten meines Jahrganges die Stadt verlassen. Ich hatte mit der Diplomarbeit spät begonnen und sie zog sich länger hin, als bei den Kommilitonen. Während ich am Zusammenschreiben war, bekamen sie schon ihre Bewerbungen zurück und verteilten sich im ganzen Bundesgebiet. Das kleine Häuflein meiner Freunde und Bekannten in der Universitätsstadt schrumpfte immer weiter und das stimmte mich missmutig.
Da meldete Tina unerwartet, dass sie eine viel zu große Wohnung für wenig Geld irgendwo auf dem Land bezogen habe und dringend einen Beistand brauche, der ihr nicht nur die Leere des Wohnraumes, sondern auch das Nichts, das auf einen Studienabbruch folgt, möglichst anregend und zukunftsorientiert anfülle. Diese Aufforderung kam genau zur richtigen Zeit, ich packte umgehend meine Sachen zusammen und verpisste mich.

2. Abschnitt: Video (analog)

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Obwohl sie ihre nihilistische Weltanschauung plakativ zur Schau trug, war Tina fast immer gut gelaunt. Oft genug nutzte ich das aus. Wenn ich selbst Aufmunterung brauchte, schilderte ich ihr ausgiebig mein Leid an der Welt und ließ mich bevorzugt dann blicken, wenn mir andere, vermeintlich begehrenswertere Frauen die kalte Schulter zeigten. Dass auch Tina mit einigen persönlichen Problemen kämpfte, die ihr das Leben schwer machten, ignorierte ich meist einfach. „Was ich nicht bemerke, gibt es nicht!“ war einer der coolen Sprüche, die Martin in der „Rückbesinnung“ so schön arrogant aussprach. Eine Textzeile, die ich mir zwar ausgedacht, aber nicht ausgesprochen hatte, schon gar nicht mit dieser Überheblichkeit. Nichtsdestotrotz hatte ich meinen Weg gefunden, diesem Satz Gehör zu verschaffen, hatte den Schauspieler zum Sprachrohr und den Film zum Medium gemacht, mich dadurch der Verbindlichkeit sozialer Umgangsformen und der Höflichkeit entbunden und dann die banale Aussage getroffen, dass ich mich für die Probleme anderer Leute wenig interessierte. Für die Probleme Einzelner. Aber als sozial verbindendes Element sind Probleme sehr interessant und schienen mir außerordentlich wichtig als künstlerisches Motiv. Damit bekannte ich mich zu meiner eigenen Gefühlskälte und bedauerte gleichzeitig die Gefühlskälte als gesellschaftliches Phänomen. So stand ich viel besser da, als wenn ich einfach Mitgefühl praktiziert hätte. Dieser Strategie bedienten sich auch andere Menschen, die Methode fiel mir bei Künstlern, Politikern oder Talkshowgästen oft genug auf.
Aber Tina gegenüber konnte ich mich nicht rauswinden. Ich war blauäugig und spontan bei ihr eingezogen und entgegen meiner Erwartungen war sie ausgesprochen schwermütig. Kein Wunder, sie hatte gerade ihr Studium hingeschmissen, oder vielmehr war sie geschmissen worden, weil sie das Chemie-Vordiplom zum dritten Mal nicht bestanden hatte. Ihr Freund, von dem sie dachte, dass sie es mit ihm länger aushalten könnte als mit seinen Vorgängern, war mit einer dummen Tussi durchgebrannt. Die dumme Tussi sah allerdings ziemlich gut aus und war gar nicht dumm. Das wusste ich, weil ich auch schon mal versucht hatte, sie näher kennenzulernen, doch es war bei einigen anregenden Gesprächen geblieben. Aber das verschwieg ich gegenüber Tina. Wir waren ja inzwischen auf einem anderen Planeten. Wir saßen in diesem kleinen Bauernhof in einem Dorf, 100 Kilometer von unserer Universitätsstadt entfernt, aber nur 15 Minuten mit dem Fahrrad in die Kleinstadt, in der sowohl Tina als auch ich zur Schule gegangen waren und in der meine Eltern wohnten. Tinas Eltern waren ein paar Jahre zuvor in die Landeshauptstadt gezogen, wo Tina nie hinwollte. Der Bauernhof, den wir immer nur altmodisch als „das Gehöft“ bezeichneten, gehörte früher ihrem Opa, einem Kleinbauern, der längst die Landwirtschaft aufgegeben hatte, aber das Haus war in Schuss, der Opa tot. Die Erbengemeinschaft aus Onkeln und Tanten fand keinen Käufer, deshalb waren sie froh, dass Tina für eine symbolische Miete die Bude bewachte. Man hätte problemlos zu fünft oder sechst dort wohnen können, aber wir waren die ersten und einzigen, die sich das zutrauten. Oder lag es daran, dass wir uns NICHTS zutrauten? Das Ingenieurstudium hatte mir keineswegs das Gefühl vermittelt, irgendeine Art von Kompetenz erworben zu haben, Tina war sowieso frustriert. Trotzdem redeten wir immer davon, dass wir auf unserem Gehöft das Abenteuer suchten, das Wagnis der Abgeschiedenheit eingehen wollten, die spannende Erfahrung der Selbstfindung beginnen würden. Manchmal formulierten wir es ironisch, manchmal ernst, aber wir gaben nie zu, dass man es auch als Rückzug oder Verzagtheit interpretieren konnte. Vielleicht waren wir uns dessen gar nicht bewusst. Vielleicht verdrängten wir es geschickt durch unsere Kulturambitionen.
Schon am ersten Abend, als ich Tina besuchte, um mir das Gehöft mal anzusehen, stolperte ich beim Eintreten über einen Gitarrenkoffer, der zu Hans gehörte. Trotz seiner langen Zottelhaare behauptete Hans von sich, früher Punk gewesen zu sein und hatte jetzt eine Band gegründet, mit der er unbedingt in der Scheune auftreten wollte. Wenn ich dann auch noch ein Video von diesem Auftritt aufnehmen würde, dann sei unser zwangloses Zueinanderfinden eine wundersame Fügung. Wir gingen in die Scheune, wo Hans mit Gitarre ins Gebälk kletterte und uns von oben ein Lied vorspielte, während wir alte Fahrräder, Zinkbadewannen, Ölkanister und den sonstigen angesammelten Sperrmüll des Großvaters untersuchten. Der Gitarrist sang davon, wie wir die Welt besser und friedlicher machen könnten. Gleichzeitig rätselten wir, ob die Waschmaschine, die von dem anderen, hochgestapelten Kram fast vollständig bedeckt war, noch funktionieren würde. Die Zeit sei jetzt reif, wir bräuchten neue Ziele. Hatte das Bob Dylan nicht 25 Jahre vorher auch schon mal so ähnlich formuliert? Das dialektbehaftete deutsche Gesinge in der Scheune erschien mir zunächst unbeholfen, aber als ich den Kopf in den Nacken legte und den Gitarristen über mir auf dem Balken sitzen sah, da erregte es mich und ich fand es plötzlich ergreifend. Dieser einfache Klang der akustischen Gitarre und vermeintlich tiefsinnige Wortkombinationen aus bedeutungsschwangeren Begriffen wie Zeit, Ende, Frieden und Veränderung jagten mir einen Schauer über den Rücken. Ich war nahe dran zu weinen, mir schien, als sei gerade wirklich ein bedeutender Moment. Vielleicht war es nur der emotional sehr wirksame Wechsel zwischen C-Dur und A-Moll, der mich so beeindruckte? Oder der Blick von unten auf das kräftige Profil der Wanderstiefel des Gitarristen? Die Wanderstiefel weckten in mir Assoziationen an den sprichwörtlichen langen Marsch bis zum Erreichen einer schönen neuen Welt und es versetzte mich in eine Mischung aus Melancholie und Optimismus. Wider besseren Wissens durchströmte mich die Idee, dass Künstler soziale Partisanen seien, die die Gesellschaft voranbringen und den Anstoß zu Erneuerung geben könnten, speziell, wenn sie Schuhwerk mit ordentlichen Sohlen trugen. Vermutlich war es meine spießbürgerliche Erziehung, die mir unterbewusst einflüsterte: Wer etwas erreichen will muss hart arbeiten, und zum harten arbeiten braucht man feste Schuhe. Dabei ließe sich der Kapitalismus vielleicht viel besser bekämpfen, wenn man nichts tat, Leistungsverweigerung, Konsumverzicht, Rückzug aufs Land, Beschränkung auf selbstbestimmte Arbeitsverhältnisse. Tina hatte die Waschmaschine inzwischen so weit untersucht, dass sie mir unbedingt zeigen wollte, warum sie nicht funktionieren könne und riss mich dadurch aus meiner ausschweifenden Betrachtung der Wanderstiefelschuhsohlen. Abgerissene Schläuche, ein fehlender Motor, da gab es keinen Grund zu zögern, ich musste Tina sofort helfen, die Maschine raus zu schleppen, damit sie der Entrümpelung zugeführt werden könnte. Gitarren-Hans verhedderte sich unterdessen in seinen Akkorden und brach das Lied mitten in einer der vielen Strophen ab.

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Als ich zwei Wochen später mit dem Auto meiner Eltern auf den Hof fahren wollte, stand die Waschmaschine noch an genau derselben Stelle. Dabei hatte Tina bei meiner Abfahrt euphorisch davon geredet, dass sie den ganzen Müll sofort wegbringen wolle, damit wir möglichst umgehend die Umgestaltung der Scheune zum Kulturzentrum beginnen könnten. Die Motivation war offensichtlich ganz schnell in Depression umgeschlagen. Inwieweit der Gitarrist mit den schweren Wanderstiefeln zu ihrer schlechten Laune beigetragen hatte, verriet sie mir erst im Lauf des Abends unter dem fortschreitenden Einfluss von Alkohol und THC.
Der gleiche Alkohol sorgte allerdings auch dafür, dass ich mir das meiste, was sie über Hans erzählte, nicht merken konnte. Dabei ging es gar nicht um die Verletzung ihrer weiblichen Gefühle, zumindest nicht primär, sondern um eine Schallplatte, die Tina sehr am Herzen lag, und Hans hätte sie zu entwenden beabsichtigt, was er als Ausleihen bezeichnete, und er konnte zudem nicht erklären, wieso ein entfernter Bekannter von Tina den Eindruck gehabt habe, Hans wolle ihm genau diese Schallplatte zum Sammlerpreis verkaufen, was der Bekannte Tina umgehend mitgeteilt und somit einen emotionalen Erdrutsch verursacht hatte, der letztendlich dazu führte, dass die Waschmaschine trotz bester Vorsätze immer noch die Hofeinfahrt blockierte.
Deshalb schob ich erst die Waschmaschine zur Seite und versuchte dann das gleiche mit Tinas Sorgen. Und wenn ich da nicht vorankam, weil mir nichts Lustiges einfiel oder es mir an Einfühlungsvermögen mangelte, schob ich wieder das Gerümpel hin und her. Zunächst dachte ich, das geht ganz schnell, man muss nur richtig zupacken, aber dann war es ein schier endloser Prozess des Hin- und Hersortierens, schließlich auch des Diskutierens, denn Tina wollte ein Wörtchen mitreden, was wegzuwerfen sei und was nicht. Als ich dann auf die Idee kam, wir könnten die absonderlichsten Dinge mit den letzten verbliebenen Rollen Schwarzweiß-Film verewigen, sorgte dies für eine weitere Verlangsamung. Aber damit war das leidige Aufräumen zu einem kreativen Prozess geworden. Es ging nicht mehr darum, schnell fertig zu werden, sondern um die Dinge, die wir in der Scheune fanden. Nach den Monaten der Anspannung, die mir meine Diplomarbeit beschert hatte, gefiel mir das besser als zunächst erwartet. Natürlich sollte die Premiere des „Filmes über die vergessenen Dinge“ gleichzeitig die Eröffnung unseres Scheunen-Kinos, Kulturzentrums, alternativen Lebensraumes sein. Bis dahin, so beschlossen wir bei einer unserer unzähligen Kaffeepausen, wollten wir uns nicht hetzen lassen, deklarierten die Zeit als Sommerferien und nahmen uns vor, alles andere auf uns zukommen zu lassen.
Es ergab sich, dass immer etwas passierte: Diverse alte Freunde aus Schulzeiten besuchten uns auf dem Land und beteuerten stets, wie idyllisch es sei. Unterdessen durchforstete ich all meine unvollendeten Drehbücher, um Auszüge aus ihnen zu einer Lesung zusammenzustellen, die mit den allerbesten meiner Filme kombiniert werden sollten. Ein paar Abstecher an die Universität waren auch noch nötig, damit man mir irgendwann das Diplom-Zeugnis tatsächlich ausstellte und als ich es endlich hatte, kopierte ich es stapelweise, um einige lustlose Bewerbungen zu schreiben. Tina hatte sich unterdessen einen gebrauchten Synthesizer gekauft oder geschenkt bekommen, denn es war einer von den monophonen Geräten, die zu dem Zeitpunkt total out waren. Zwar übte sie damit eifrig, wie sie knatternde und zischende Geräusche erzeugen konnte, aber solange sie nicht in einer Band mitspielen würde, war fraglich, was sie, außer Special-Effects-Sounds für meine Filme, damit anfangen könnte. Viel Zeit investierte sie in die Wohnraumgestaltung und Renovierung unseres Häuschens. Als sie schließlich auch noch begann, in einer der beiden Szene-Kneipen, die es in der Umgebung gab, als Bedienung zu arbeiten, war ihre Zeit gut ausgefüllt. Für mich war das sehr praktisch, denn ich ging zuerst in die andere Kneipe. Wenn ich dort jemanden zum Unterhalten fand, blieb ich, wenn nicht, was meistens der Fall war, machte ich mich auf zu Tina, der ich erst einmal Bericht erstattete, dass bei der Konkurrenz nichts los sei und dann hatte ich wieder die Auswahl, entweder einen der Gäste vollzuquatschen, oder mit Tina zu plaudern. Bei einem dieser vielen Kneipenbesuche traf ich Gitarren-Hans wieder, der immer noch von einem Video für seine Musik redete und mir den Kontakt zu einem Jugendzentrum in der nächsten Provinzstadt vermittelte. Dort könnte ich ein kleines Videostudio betreuen. Wenn ich den Jugendlichen, für die das Jugendzentrum vorgesehen war, beibringen würde, wie sie mit der Technik umzugehen hätten, könnte ich damit etwas Geld verdienen und das kam mir gerade recht. Die Ersparnisse für die Zeit nach der Diplomarbeit gingen gerade zur Neige und wären schon erschöpft gewesen, wenn ich nicht so billig auf Tinas Gehöft wohnen und bei ihr an der Theke hätte trinken können. Die Chefs vom Jugendzentrum hatten keine Ahnung von Video, aber durch irgendwelche Fördergelder war ein kleines Studio eingerichtet worden, das inzwischen weitgehend unbenutzt verstaubte. Die Röhrenkameras, die damals in der Studiotechnik gebräuchlich waren und von denen auch dort ein veraltetes Modell herumstand, empfand ich zwar als eine besonders umständliche Technik-Missbildung, aber in Verbindung mit dem Schnittplatz hatte ich nun ein Experimentierfeld für die Technik, über die ich oft genug abfällig geredet hatte. Videomischer und Videoeffektgeräte kannte ich von einem ähnlichen Studio an der Universität, wusste so ungefähr, was die spärliche Beschriftung an den vielen Knöpfen bedeuten sollte und jetzt konnte ich es genauer ausprobieren.
Hans spielte Gitarre und sang eines seiner Weltverbesserungslieder, während ich zwei Kameras auf ihn richtete und die dritte auf den Programm-Monitor. Ich färbte die Kamerabilder farbig ein und mischte sie im Rhythmus der Musik mit dem Ausgabebild, was pulsierende Schauer von Video-Rückkopplungen ergab. Damit konnte ich Hans beeindrucken, weil, wie er meinte, seine Gitarrensaiten durch die Videorückkopplung sich der Unendlichkeit zu nähern schienen. Ich sagte, dass das nur banale elektronische Effekte waren, er bezichtigte mich des Understatements. Leider hatten wir keine guten Mikrofone da, deshalb verschoben wir die Aufnahme des Videos, außerdem wollte Hans am Text seines Liedes etwas ändern.
Zwischendurch, eine oder zwei Wochen später, schleppte er eine Sängerin an, die nach eigener Aussage gar nicht singen konnte oder wollte, aber Hans war der Meinung, sie sei genau die Richtige, um seine Lieder im Video zu unterstützen. Vermutlich sollte sie einfach gut aussehen und unser Videostudio bestaunen. Aber sie kannte das schon, erzählte mir, dass ihr Freund Grafik-Design studiert hatte und an der Grafik-Design-Hochschule gab es ebenfalls ein Videostudio. Ihr Freund mit Namen Ulrich behauptete, wenn ich das Jugendzentrumsvideostudio richtig verstanden hätte, dann genüge das, um beim Lokalfernsehen Ober-Techniker, Studio-Leiter oder EB-Kameramann zu werden, er selbst arbeite dort als Cutter. Natürlich zu einer Bezahlung, die den hochtrabend bezeichneten Aufgaben nicht gerecht werde. Was für ein Lokalsender, fragte ich unschuldig, denn ich kannte nur das Regionalbüro des öffentlich-rechtlichen Programms. Weil es hieß, die öffentlich-rechtlichen Sender akzeptierten nur Kameramänner, die fünf Jahre an der Filmhochschule studiert hätten, damit sie ausreichend qualifiziert seien, um einen Maßkrug und die dazugehörige Blaskapelle für die Abendschau zu filmen, wollte ich mit denen nichts zu tun haben. Mich hätten die nur als stellvertretenden Hilfskabelträger genommen, aber beim Lokalfernsehen, da könne man Quereinsteiger wie mich brauchen, sagte Ulrich, zu seiner Freundin und die Freundin zu mir.
Hans und Tina wiederum stellten mir unabhängig voneinander die Frage, was ich dort wolle, bei der Kommerzscheiße und ob ich schon mal den Käse auf RTL und SAT 1 angeschaut hätte. Nein, das hatte ich nicht, ich wollte es auch nicht und die beiden mussten zugeben, dass ihnen selbst bisher auch die persönliche Grenzwerterfahrung fehlte, einen analytischen Blick auf das damals frisch gegründete Privatfernsehen geworfen zu haben. Trotzdem waren sie davon überzeugt: Das ist Mist! Ich widersprach nicht, weil ich überhaupt keine Ahnung hatte. Ungeachtet der ungeklärten moralisch-ideologischen Einordnung des Phänomens Lokalfernsehen besuchte ich Ulrich eines Abends im Kontrollraum des Aufnahmestudios und dann ging alles ziemlich schnell. Ein paar Tage später stellte ich mich beim Chef vor, einem selbstgefälligen Typen, der meinte, er würde schon merken, ob man mit mir was anfangen könne und am darauffolgenden Montag ging es los, und zwar als Assistent im Praktikantenstatus.

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Als Kameraassistent musste ich mir den Rekorder über die Schulter hängen. Die Technologie nannte sich U-Matic und war nur von bescheidener Qualität, durfte sich trotzdem als professionell bezeichnen. Um ein Video zu schneiden, wird es kopiert. Während der chemische Film mit der Schere auseinandergenommen und mit Klebefolie neu zusammengefügt wird, kopiert man beim Videoschnitt die gewünschten Aufnahmen auf ein weiteres Videoband. Allerdings wird die Qualität von U-Matic-Aufnahmen bei jedem Kopiervorgang schlechter. Im Jugendzentrum wurde mit VHS gearbeitet, das war noch schlimmer, denn VHS bedeutet Video Home System, eine Amateurtechnologie.
An der Uni hatte ich das ominöse U-Matic-Videoformat mit den riesigen Kassetten schon kennengelernt, aber nur darüber gelästert, weil ich zum anderen Lager gehörte, zu den Super-8-Ästheten. Jetzt, da das Studium zu Ende war, verlor dieser willkürliche Kultur-Stellungskrieg für mich an Bedeutung, jetzt ging es darum, meine bescheidenen Erfahrungen irgendwie in klingende Münze zu verwandeln und dazu musste ich zunächst dem Kameramann an einer kurzen Leine hinterherlaufen. Die Leine war das Verbindungskabel zwischen der Kamera und dem Aufnahmegerät und beide, die Kamera und der Rekorder waren klobige, schwere Geräte mit riesigen Akkus, die sich im Nu entleerten.
Weil in der Kamera Röhren zur Bildwandlung verbaut waren und Röhren sowohl träge als auch empfindlich sind, musste man höllisch aufpassen. Filmte man eine Lichtquelle, dann verursachte dies in der Röhre ein Signal, das nur langsam wieder verschwand, was bei bewegten Lichtquellen zu einem Schweif führte. Den nannte man „Nachzieher“. Starke Lichtquellen, die zu lange auf die gleiche Stelle des Bildes leuchteten, erzeugten einen bleibenden Fleck, was wiederum als „Einbrenner“ bezeichnet wurde. Direkte Sonneneinstrahlung konnte sogar dazu führen, dass die Aufnahmeröhre ganz schnell total ruiniert wurde, deshalb durfte man die Sonne auf keinen Fall ins Bild nehmen.
Elektronenröhren können verschiedene Funktionen erfüllen. Die wichtigste Funktion der Elektronenröhren, einen starken Strom durch einen schwachen Strom zu regeln, hatten zu der Zeit längst Transistoren übernommen. Auch andere Funktionen, wie beispielsweise die Bildwandlung, also die Umsetzung eines optischen Bildes in ein elektronisches Signal, wurden im Zug der technischen Fortentwicklung von der Halbleitertechnologie übernommen. Leider zu spät für mich, so dass ich noch mit den letzten Röhrenkameras und den dazugehörigen Umhängerekordern von einem unbedeutenden Ereignis zum nächsten geschickt wurde, immer in zwei Meter Kabellänge hinter dem coolen Kameramann, der gemeinsam mit Ulrich direkt von seinem Grafik-Design-Studium zum Lokalfernsehen gewechselt war und stets eine ironische Bemerkung zu den Motiven unserer Bildaufnahme machen konnte.
Sobald wir den Ort des Geschehens verließen und im Auto saßen, rissen wir Witze über die Leute, die wir gefilmt hatten. Oder über unsere Kameras, über den klapprigen Kleinbus, über unser idyllisches Provinzstädtchen. Im Gegensatz zum coolen Kameramann gab es auch den uncoolen Kameramann, einen verklemmten Pedanten, der einerseits den sportlichen Dienstwagen mit den Ledersitzen fuhr und mir andererseits jeden seiner klugscheißerischen Ratschläge mindestens fünf Mal gab: Verbindungskabel nicht spannen lassen, Schatten spenden, Linsendeckel aufsetzen und all diese langweiligen Anweisungen, die ihm einfielen, um mir zu demonstrieren, wie wichtig er das alles nahm. Mit ihm hätte ich den Job nicht lange durchgehalten, aber kaum war ich einen Monat dabei, konnten wir die Früchte der unermüdlichen Forschungsbestrebungen der japanischen Elektronikindustrie ernten. Die nächste Generation von Aufnahmetechnologie wurde geliefert. Schluss mit den Bildröhren und Schluss mit den Umhängerekordern, plötzlich gab es in unserem kleinen Lokalfernsehen riesige Super-VHS-Camcorder mit CCD-Chips. Halbleitertechnologie erlöste uns von der Problematik der Einbrenner und Nachzieher. Da man nun keinen Rekorderträger mehr brauchte, konnte ich als Kameramann eingesetzt werden.
Natürlich ging es mit einem Dreh los, den niemand machen wollte. Es war nach der täglichen Sendung, alle waren in Nach-Hause-Geh-Laune, da kam der Redakteur mit einem Fax in der Hand durch den Flur gelaufen und fragte, wer die Ikonenausstellungseröffnung filmen würde. Welche Ikonenausstellung? fragten der coole und der uncoole Kameramann im gleichen geringschätzigen Tonfall und ich sagte gar nichts. Die wichtige Ikonenausstellungseröffnung, erklärte der Redakteur mit starker Betonung auf dem Wort „wichtig“, weil am nächsten Tag die Ikonenexpertin Studiogast sein solle und jetzt würde unser wichtiger Bürgermeister mit wichtigen Gästen aus der russischen Partnerstadt die wichtige Ausstellung eröffnen.
Die unglaubliche Wichtigkeit beeindruckte weder den coolen noch den uncoolen Kameramann und so kam ich zu meinem ersten Einsatz als sogenannter EB-Kameramann. EB bedeutet elektronische Bildberichterstattung. Aber richtig wichtig kommt man sich vor, wenn man die Bezeichnung ENG-Kameramann benutzt, das bedeutet „electronic news gathering“. Ich schnappte mir also die Kamera und bekam als Begleitung die neue Praktikantin mit, die war erst seit drei Tagen dabei und deshalb hatte sie noch weniger Erfahrung als ich. Für sie war es ebenfalls der erste selbstständige Einsatz als Reporterin vor Ort. Das hielt ich für eine gute Voraussetzung, da würde sie mir keine dummen Vorschläge machen, was ich zu filmen hatte und hübsch war sie auch. Ob sie sich mit Ikonen auskenne, fragte ich und sie gab zu, dass sie von nichts eine Ahnung hätte und am allerwenigsten von Ikonen.
Das sind die besten Voraussetzungen, meinte ich, somit sei sie genauso uninformiert, wie der durchschnittliche Zuschauer und würde die richtigen Fragen stellen. Ansonsten, schlug ich vor, filmen wir ein paar Ikonen, wie es sich für eine Ikonenaustellungseröffnung gehört und, sofern vorhanden, ein paar russische Charakterköpfe, außerdem Funktionäre, die es in allen Bereichen des öffentlichen Lebens gibt. Ich war erfolgreich großspurig, die Praktikantin bemerkte gar nicht, dass ich nur ein paar Wochen vor ihr als Rekorderträger angefangen hatte. Jetzt war ich im ENG-Einsatz und hatte ganz schön mit den Reflektionen zu kämpfen, die das viele Gold der Ikonen im Licht der Scheinwerfer verursachte. Aber mein häufiges Hin- und Herrücken der Kamera, das sorgfältige Justieren und meine kritische Miene sorgten vermutlich dafür, dass ich sehr professionell wirkte. Ich gab mir Mühe, hübsche Nahaufnahmen hinzukriegen, sowohl von den Ikonen, als auch von den zahlreich, gutaussehenden Kultur-Hausfrauen. Außerdem gelang mir trotz der ungünstigen Raumaufteilung eine gelungene Totale, bei der im Vordergrund die Kunstexperten der russischen Delegation mit dem Bürgermeister plauderten. Nach einer halben Stunde waren die notwendigen Aufnahmen erledigt und wir konnten uns ausgiebig dem Wein und den Brezeln zuwenden. Die Pressesprecherin der Genossenschaft, in deren Foyer die Ausstellung gezeigt wurde, kümmerte sich liebevoll um unsere Versorgung. Unaufdringlich brachte sie für Interviews einen Fachmann und einen Funktionär zu uns, wobei Letzterer vermutlich ihr Chef war. Es störte niemanden, dass wir keinerlei kunsthistorisches Hintergrundwissen vorweisen konnten und das fand ich damals sehr entgegenkommend. Später machte ich die Erfahrung, dass es durchaus normal war, wenn Fernsehreporter keine Ahnung von der Thematik haben. Die Praktikantin stellte bei den Interviews mit charmantem Lächeln naive Fragen. Sowohl der Fachmann, als auch der Funktionär gaben brauchbare Antworten. Als wir fertig waren, legte ich ihr zur Anerkennung die Hand auf die Schulter und sagte, dass sie es gut gemacht hätte. Das freute sie und während ich die Kamera wegpackte, besorgte sie schon wieder gefüllte Weingläser. Ich merkte, wie mir der Alkohol in den Kopf stieg und genoss es. Der Tag war lang gewesen, zu essen hatte ich nicht viel bekommen. Die Praktikantin fragte mich, wo ich es gelernt hätte, mit der Kamera umzugehen, und sie stellte die Frage mit dem Unterton der Bewunderung. Sie dachte bestimmt, ich mache das seit Jahren und nicht zum ersten Mal. Trotzdem wusste ich selbst nicht, wo ich mein Wissen herhatte, überall und nirgends, vielleicht lernt man auch beim Lästern.
Ich erzählte ihr, dass mein Spezialgebiet eigentlich die Super-8-Schwarzweißfilmerei sei, aber diesen umständlichen Videokameramonstern, die wir zum Fernsehmachen benutzen, könne man ja kaum aus dem Weg gehen, überall hätten sie sich verbreitet und da spreche es sich eben rum, welcher Knopf welchen Zweck erfülle. Der coole Kameramann hatte mir einiges gezeigt, was ich ansatzweise auch schon bei den Kameras im Universitätsstudio kennengelernt hatte, während mich der uncoole Kameramann in die speziellen Geheimnisse der Technologie einführte. Das machte er aber nur, weil er merkte, dass ich schon Erfahrung hatte und deshalb wollte er mir zeigen, wie weit er mir voraus war. Er, der pedantische Perfektionist, kannte auch die internen Menüs und die verborgenen Knöpfe. Das war hilfreich für mich. Ich hatte sowohl beim coolen, als auch beim uncoolen Kameramann die richtige Haltung gefunden, damit sie mich an ihrem Wissen teilhaben ließen. Man durfte sich nicht zu doof anstellen, aber auch nicht den Schlaumeier raushängen lassen. Gegenüber der Praktikantin tat ich so, als sei mir das Fachwissen einfach zugeflogen und bevor sie das in Frage stellen konnte, wollte ich von ihr wissen, wie sie zum Lokalfernsehen gekommen sei. Sie hieß Maria, ihr Germanistikstudium erschien ihr ausgesprochen nutzlos und zum Praktikum sei sie nur gegangen, weil sie die jungen, unangepassten Moderatorinnen von MTV bewunderte. Sowas würde sie auch gerne machen. Ob ich schon Musikvideos gedreht hätte? Alles, bloß das nicht, dachte ich, doch da fiel mir Gitarren-Hans ein, der immer noch auf den geeigneten Termin für eine Aufnahmesession wartete. Das würde zwar kein typisches Musikvideo werden, schon gar keins für MTV, sondern eher ein Kunstprodukt, aber um Maria zu beeindrucken, tat ich so, als stünden die Dreharbeiten unmittelbar bevor und sie sagte, sie wolle unbedingt dabei sein. „Unbedingt dabei sein wollen“ war eine Formulierung, die mich misstrauisch machte und aufschreckte. In der Vergangenheit hatten das immer diejenigen gesagt, die dann doch nicht kamen. Ich bemerkte, wie betrunken ich schon war und wenn ich an Maria vorbei in die Ikonen schaute, drehte sich deren goldener Schimmer. Wir mussten dringend weg, doch da gab es keine Alternative zu unserem klapprigen Kleinbus, mit dem wir gekommen waren. Ich sollte die Kamera noch im Studio abliefern und das Auto durfte ich danach benutzen, um nach Hause zu fahren, da abends die Verbindung in die Dörfer mit Bus und Bahn noch länger als tagsüber dauerte.
Maria war genauso wenig fahrtauglich wie ich, aber im Kleinbus wollte sie sowieso nicht ans Steuer. Ansonsten schien sie keine Bedenken zu haben, was die Vereinbarkeit von Alkoholgenuss und motorisierten Straßenverkehr anging. Zum Glück war es draußen ziemlich kühl, eine sternklare Nacht, das machte mich munter und ich konnte mich halbwegs konzentrieren den Kleinbus durch die weitgehend leeren Straßen zu lenken. Maria stellte das Radio an und es dudelte einer der vielen Sommerhits, Mainstreamradio. Sie fand das gut, ich gar nicht, sie drehte die Lautstärke auf, ich kurbelte das Fenster zu. Bloß nicht auffallen! Den Führerschein bei der Fahrt mit dem Dienstwagen abzugeben, wäre ein sehr peinlicher Zwischenfall gewesen. Trotzdem wollte ich entspannt erscheinen und ersparte mir, gegen die laute Musik zu protestieren. Maria begann Tanzbewegungen auf dem Beifahrersitz zu vollführen, Gutelaunegezappel, das mich nervte und sie schubste mich an die Schulter, meinte, ich solle nicht die trübe Tasse spielen, aber ich knurrte nur.
Dann fuhren wir unbehelligt an der Polizeihauptwache vorbei, wo trotz meiner Befürchtungen niemand auf uns wartete und bogen in die Straße längs des Flusses ein. Bis zum Studio ging es nur noch geradeaus, das beruhigte mich. Da traute ich mich, ein bisschen Konversation zu riskieren und fragte, wo Maria wohne, und wie sie nach Hause kommen wolle. Sie würde gerne noch etwas trinken gehen, meinte sie, aber wo? Erstmal Kamera abladen, antwortete ich, während ich in die Tiefgarage einbog, in der sich der Stellplatz für den Kleinbus befand. Jetzt war ich erst einmal in Sicherheit.
Mit dem Auto aufs Dorf fahren ging in meinem Zustand auf keinen Fall, doch wo sollte ich dann die Nacht verbringen? Maria wohnte in der Stadt, da konnte sie zur Not laufen oder Taxi fahren. Sie am ersten Abend zu fragen, ob ich zu ihr mitkommen könne, wäre allzu verfrüht, zumal ihre ungehemmte Partylaune in mir den Verdacht weckte, sie könne ein sehr oberflächlicher Mensch ohne den intellektuellen Hang zur Selbstreflektion und Systemkritik sein, den ich stillschweigend für potentielle Sexualpartnerinnen voraussetzte. Dass mir tatsächlich solche Worte im Kopf herumschwirrten, während wir im Lastenaufzug mit der Kamera von der Tiefgarage nach oben fuhren, glaube ich kaum. Aber es war die entsprechende Mischung aus Misstrauen und Sympathie. Maria spulte unterdessen eine Liste aller Kneipen, Bars und Diskotheken ab, die für uns in Frage kämen, um den Abend fortzusetzen und ihre Bewertung der jeweiligen Lokalitäten entpuppte sich als sehr gegensätzlich zu meiner Einschätzung. Was sie als gemütlich bezeichnete, empfand ich als spießig, den Laden, in dem angeblich die angesagtesten Leute verkehrten, hielt ich für einen Treffpunkt von aufgeblasenen Angebern und als ich vorschlug, in das von mir bevorzugte Alternativcafé zu gehen, da spottete sie tatsächlich, dass dort nur Systemkritiker säßen, die in Selbstreflexion schwelgen würden.
Über diese vorlaute Antwort staunte ich erst einmal, musste dann lachen und fühlte mich gleichzeitig ertappt. Die von mir selbst oft benutzten Worte Systemkritik und Selbstreflexion brannten sich für immer in meine Erinnerung an diesen Abend ein. Gleichzeitig verloren beide Begriffe an Bedeutung und an Wert.

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Oben im Studio saß tatsächlich noch Ulrich, mit dem ich mich gleich angefreundet hatte und der ein Auge darauf warf, ob bei mir alles klappte. Schließlich hatte er es eingefädelt, dass ich mich beim Chef vorstellen konnte. Jetzt schnitt er an einem Werbefilm herum. Tagsüber hatte er für so etwas keine Zeit, da mussten die tagesaktuellen Berichte für die Sendung fertig werden. Es war gegen zehn Uhr abends, aber mir kam es vor wie nach Mitternacht. Wir schauten gemeinsam in mein Videomaterial und konnten feststellen, dass alles ordnungsgemäß aufgenommen worden war, was mich erleichterte und ermunterte, ein paar Witze über die Ikonenausstellung und die Ikonenausstellungsbesucher zu reißen. Dann wurde wieder die Frage aufgeworfen, ob und wo wir noch was trinken könnten, ob Ulrich mitkäme, oder ob ich lieber gleich in mein Dorf fahren solle. Schließlich schmiss mir Ulrich seinen Haustürschlüssel hin und meinte, er müsse den Werbefilm fertigschneiden, das brauche noch eine Stunde oder mehr und danach würde er sowieso zu seiner Freundin gehen, um bei ihr zu übernachten. Ich solle auf jeden Fall das Auto stehen lassen, vor allem wenn wir in die Bar gingen, die Maria vorschlug, da in der Gegend ständig mit Verkehrskontrollen zu rechnen sei. Ulrich gebärdete sich, als sei er mein großer Bruder, das war gut, das war sogar sehr gut.
Nachdem ich meine Abfuhr wegen der existentialistischen Stimmung in meinem Lieblingscafé schon weg hatte, wehrte ich mich nicht, als Maria mich in die von ihr angepriesene Angeberbar mitnahm. Ich genoss den Ausblick auf die vielen gutaussehenden Frauen und unterhielt mich mit Maria auf angenehme Weise über ausnahmslos banale Themen. Nach zwei Bier wurde ich von einer großen Müdigkeit übermannt, die zweifellos damit zusammenhing, dass Maria sich plötzlich in ein Gespräch mit einem jungen, ziemlich geschniegelten Typen vertiefte, den sie mir schließlich als ihren Freund vorstellte. Ich hatte gar nicht bemerkt, wann der aufgekreuzt war. Da es damals keine Handys gab und Maria auch keine Telefonzelle benutzt hatte, schien es eine Verabredung zu sein, und damit entpuppte sich Marias lange Überlegung, wo wir hingehen könnten, als Augenwischerei. Das enttäuschte mich und weil es wegen der ansteigenden Lautstärke immer schwieriger wurde, sich zu unterhalten, verabschiedete ich mich, wankte mit wirren Gedanken, die um Systemkritik und Selbstreflexion kreisten, zu Ulrichs Wohnung. Ein paar Tage vorher hatte ich ihn mit unserem klapprigen Kleinbus vor seiner Haustür abgesetzt, deshalb kannte ich die Adresse. In seiner Einzimmerwohnung herrschte ein normales Junge-Männer-Durcheinander, da konnte ich mich ganz ungezwungen verhalten. Ich warf einen schnellen Blick auf seine Schallplattensammlung, die, wie erwartet, ähnlich zusammengesetzt war, wie meine eigene. Dann legte ich mich auf sein großes Bett. Mitten in der Nacht erwachte ich, weil ich aufs Klo musste und ich hatte zunächst überhaupt keine Ahnung, wo ich mich befand, stand auf, suchte den Schalter der Stehlampe, schlug dabei mit dem Schienbein an den Tisch. Nach dem Pinkeln ging es mir besser, aber am nächsten Tag fühlte ich mich schlecht und kraftlos. Dabei gab es einiges zu tun. Immerhin waren sowohl der Chef als auch der Redakteur zufrieden mit meinen Ikonen-Videoaufnahmen, was zur Folge hatte, dass ich gleich wieder losgeschickt wurde. Dieses Mal ging es darum, den neuen, supermodernen Müllwagen der städtischen Müllabfuhr zu filmen. Verkatert wie ich war, schien mir Müll ein dankbares Thema, aber die Bilder gelangen mir nach eigener und Ulrichs Einschätzung nur mittelmäßig. Schließlich ging der Arbeitstag damit zu Ende, dass die Ikonenexpertin live im Studio interviewt wurde und mir danach, obwohl ich als Kameramann unauffällig im Halbschatten stand, plötzlich die Hand schüttelte. Das freute mich sehr, machte mich aber auch stutzig. Hatte sich die Ikonenexpertin bei mir bedankt, weil sie wusste, dass die Aufnahmen von der Ausstellung von mir stammten, oder glaubte sie, dass ich sie beim Studiogespräch im Bild hatte, was ja gar nicht stimmte, denn ich machte die Nahaufnahmen des Moderators, während für sie der coole Kameramann zuständig war, aber dem drückte sie nicht die Hand, den schien sie gar nicht zu bemerken. Oder fand sie mich einfach nett? Während ich mir diese Fragen stellte, glitt die Landschaft am Fenster vorbei, denn es war Freitagabend. Mit dem Zug fuhr ich in die Kleinstadt. Das Kreuz eines Kirchturms blitzte in der tiefstehenden Sonne. Waren Ikonenexperten eigentlich, so rein ideologisch und systemtheoretisch gesehen, gute oder schlechte Menschen? Waren sie schädlich und reaktionär wie ein Kirchenfunktionär oder hatte die Ikonenexpertin eine heimliche Leidenschaft für den Kommunismus und betrieb ihre Forschung, um möglichst unauffällig den Kontakt mit der Sowjetunion zu pflegen? Oder vielmehr mit Russland, denn die Sowjetunion gab es zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr. Vielleicht war sie bei der Stasi oder beim KGB und wenn ich damals in die Zusammenarbeit eingewilligt hätte, wäre sie mein Führungsoffizier geworden. Ich versuchte verzweifelt, diese albernen Gedanken zu verscheuchen, es gelang mir nicht. Meine blühende Phantasie ging mir auf die Nerven. Erst als ich am Bahnhof der Kleinstadt ausstieg, wo ich mit dem Fahrrad noch fünfzehn Minuten bis ins Dorf fahren musste, gelang es mir einen klaren Kopf zu bekommen.

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Kaum war ich zu Hause angelangt, bescherte mir Tina frische Anregungen für den ideologischen Diskurs. Martin hatte angerufen, aus Berlin, er wollte uns eine Woche später besuchen. Wie schön. Er fragte, ob wir eine Filmvorführung des falschen Filmes einplanen könnten, den Film wolle er unbedingt sehen und seine Begleitung auch. Welche Begleitung, fragte ich, Sabine? Tina wusste es nicht, sie wusste nur, dass Martin dann auf dem Rückweg von der „Ars Electronica“ in Östereich wäre, dem wichtigsten Event für elektronische, progressive Kunst weltweit, aber ich würde mich ja nur um dieses banale Lokalfernsehen kümmern. In der Tat, das tat ich, und schon fielen mir die Ikonen wieder ein. Die Ikonen waren Tina egal, sie dachte an die Scheune, wo immer noch ein heilloses Durcheinander herrschte. Meine Filmaufnahmen der vergessenen Gegenstände, die durch den Prozess des Filmens aus dem Vergessen erlöst werden sollten und dadurch in einen ästhetischen und medialen Meta-Sinn überführt werden könnten, waren bisher noch nicht weit fortgeschritten. Die Stirnseite der Scheune, die ich weiß bemalen wollte, damit sie als Projektionsfläche dienen könnte, wartete noch darauf, freigeräumt zu werden. Auch ich wünschte mir, dass unsere künstlerischen Aktivitäten vorangingen, leider kostete das banale Lokalfernsehen nicht nur viel Zeit, sondern auch viel Kraft, so dass ich am Wochenende erschöpft war. Tina konnte es sich nicht verkneifen, mir eine Diskussion aufzudrängen. Sie wollte mir unbedingt einreden, dass mein kleines Lokalfernsehen im Dienste des großen, weltumspannenden Kapitals die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung zermürben sollte. Ja? Wirklich? Und wie? Weil wir darüber berichteten, dass ein neuer Spielplatz eingerichtet wurde und die Baustelle am Markplatz bis voraussichtlich Oktober zu Verkehrskomplikationen führen würde? Ich hatte die Beispiele gut genug gewählt, diesen Nachrichten konnte Tina keine globale Strategie nachweisen. Zum Glück schaute sie unseren Sender gar nicht an, deshalb gelang ihr keine gute Erwiderung. Ihr blieb nur der relativ harmlose Vorwurf, dass wir die Interessen unserer Sponsoren und Werbekunden sublim an die Zuschauer weiterleiten würden, was ich gut entkräften konnte, denn ich sagte, dass wir das nicht sublim, sondern ganz offensichtlich machen und es sei wirklich höchste Zeit, künstlerisch weiterzuarbeiten, bevor ich die billige Bildsprache des Lokalfernsehens zu sehr verinnerliche. Kein „Electronic News Gathering“, lieber den Abend mit Super-8-Aufnahmen verbringen. Anstatt zu diskutieren, ging ich nach draußen und dann in die Scheune. Ein blechernes Sieb, eine kurbelbetriebene Handbohrmaschine, zwei Lampenschirme aus einem undefinierbaren Material, Zahnräder, ein Spazierstock mit angeschraubter Fahrradklingel, Isolatoren. Das waren die ausgewählten vergessenen Dinge, die ich auf einen klapprigen Tisch gelegt hatte. Daneben stand ein wackliger alter Holzstuhl. Das war noch keine aufregende Sammlung, deshalb wandte ich mich dem großen Haufen zu, der noch nicht untersucht war. Als ich einen halb vermoderten Teppich rauszog, kam ein alter Fernseher zum Vorschein, ein Sessel und etliche Kartons voller Zeitungen. Die konnte man wenigstens gleich zum Altpapier bringen und musste nicht erst den Sperrmüll abwarten. Tina kam mit einer Flasche Wein, zwei Gläsern und setzte sich auf den Stuhl. Einen zweiten Stuhl fand ich zwischen alten Matratzen. Also stellte ich ihn zum Tisch, schenkte mir ein Glas Wein ein und wir rauchten erst einmal selbstgedrehte Zigaretten. Sie erzählte mir von einem Streit mit ihrer Mutter und von einer Anfrage des Onkels, der wissen wollte, wie schnell wir ausziehen könnten, wenn jemand das Gehöft kaufen würde. Dabei waren wir mit dem Einziehen noch gar nicht fertig. Vermutlich sei das nur blinder Alarm, niemand kaufe diese alte Bude. Es will nicht mal jemand drin wohnen, obwohl Tina wieder ein paar Kleinanzeigen aufgehängt hatte: WG-Zimmer auf dem Land zu vergeben. Gestern sei einer dagewesen, ein komischer Vogel, der sich beschwert hätte, dass ich nicht da gewesen sei. Wenn er schon aufs Land fahre, wolle er alle Mitbewohner sehen. Tina hätte gar nicht gewusst, wo ich bleibe, und es sei unangenehm mit dem Typen gewesen, der dann aber nach einer Stunde aufgab und verschwand, hoffentlich auf Nimmerwiedersehen. WG zu dritt ist gefährlich, das klappt fast nie, sagte ich, können wir nicht gleich zwei Leute suchen? Die Meisten sind doch sowieso dumme Studenten, die gehen uns dann ganz schnell auf die Nerven, das garantiere ich dir. Seit Tina von der Uni geflogen war, mochte sie keine Studenten mehr, Fernsehleute und das Mediengesindel, wie sie es mir gegenüber provokativ bezeichnete, waren ihr suspekt und wenn Punks oder Arbeitslose kamen, dann beschwerte sie sich, dass die zu nichts zu gebrauchen seien. Die einzigen, die sie kritiklos akzeptierte, waren Künstler. Darum war ich erste Wahl gewesen und hatte ohne Vorbehalte einziehen können. Aber meine blitzschnelle Verwandlung zum Kommerzfernsehkameramann passte ihr gar nicht. Es tröstete sie wenig, als ich beteuerte, nichts vom Kommerz abzubekommen, sondern nur als Praktikant bezahlt werde und deshalb sei ich darauf angewiesen, diesen alternativen Lebensstil mit ihr im entlegenen Bauernhof zu praktizieren. Ich hatte Tina grundsätzlich enttäuscht, das war klar. Mein Gejammer über die Probleme mit der Diplomarbeit und die Probleme mit dem bürgerlichen Leben und die Probleme mit dem Kapitalismus machte viel von dem aus, was uns verband. Dann war aber eines Tages mein Diplomzeugnis als Einschreiben mit der Post gekommen und ich sagte, ich hänge es aufs Klo. Das machte ich tatsächlich, in einem alten Bilderrahmen, der aus dem Nachlass des Opas stammte. Das sah gut und witzig aus, aber irgendwann bemerkte Tina, dass es nur eine Kopie war. Selbstverständlich! Eine von den Fotokopien, die ich für meine erfolglosen Bewerbungsmappen gezogen hatte und nicht das Original. Womöglich kam einer unserer Gäste auf die Idee, einen schlechten Klospruch draufzukritzeln oder den Namen seiner Lieblingsband. Tina fand es heuchlerisch. Ich erwiderte, auch die Aufhängung der Kopie sei ein Bekenntnis und sie fügte hinzu: ein verlogenes Lippenbekenntnis. Damals verzichtete ich darauf, weiter zu diskutieren, denn es lag mir auf der Zunge, Tina darauf hinzuweisen, dass sie ihr Studium nicht aus ideologischen Gründen, sondern wegen ihrer mangelnden Begabung für das Verständnis von chemischen Zusammenhängen beendet hatte. Kurz gesagt, sie war zu doof gewesen, ich nicht. Diese unausgesprochene Beurteilung war unfair, nichtsdestotrotz die Wahrheit.
Als wir dann rauchend in der Scheune saßen, schien es mir, als hinge mal wieder stillschweigend der Vorwurf in der Luft, ich sei einer, der Wasser predige, aber Wein trinke. Ich dachte mir, dass an dem Vorwurf durchaus was dran sei, doch ich sah keine Alternative zum Wein, hob das Glas und prostete Tina zu, die gerade einen Joint zusammenrollte. Das war für mich auch keine Alternative und ich sagte ihr, dass ich nicht mitrauchen wolle.

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Der weitere Abend verlief friedlich und produktiv. In den Hinterlassenschaften des Großvaters fanden wir nicht nur eine hübsche Luftpumpe, sondern auch einen 16-mm-Filmprojektor, der noch zu funktionieren schien. Zumindest drehte sich die leere Auffangspule und warf einen hübschen Schatten an die Wand. Das brachte mich auf die Idee, in den Film der vergessenen Dinge den Schattenwurf dieser Dinge zu integrieren. Verzerrte, vergrößerte und entfremdete Schatten. Dazu brauchte ich Platz und deshalb schleppte ich endlich eine nennenswerte Menge Gerümpel in den Hof, so dass Tina Hoffnung schöpfte, die Umgestaltung der Scheune könne nun in Gang kommen. In der Tat schaffte ich an dem Wochenende die Scheune fast leer zu räumen und während der Arbeitswoche durfte ich an zwei Abenden mit dem klapprigen Kleinbus nach Hause fahren und konnte jeweils am nächsten Morgen eine Wagenladung mit sperrigen Altlasten zum Recyclinghof bringen. Im Videostudio des Jugendzentrums fand ich ein paar Rollen 16-mm-Film, bestimmt etwas pädagogisch Wertvolles. Die nahm ich mit, um den Projektor zu testen.
Am Freitagnachmittag ergab es sich, dass ich mal wieder mit Maria unterwegs war, die mich mit der Neuigkeit überraschte, der coole Kameramann würde aufhören, bei uns zu arbeiten. Obwohl es mich wunderte, von ihr davon zu erfahren, überwog die Freude. Wenn er ginge, wäre meine Position gesichert, dann wäre ich nicht mehr nur der Ersatzmann, sondern kontinuierlich an der Kamera im Einsatz. Maria erklärte auch noch, dass ich ihr Lieblingskameramann sei. Das war natürlich eine Schmeichelei, die vermutlich den Zweck verfolgte, dass ich mich dazu bereit erklärte, mit ihr am Wochenende das Reitturnier zu filmen, oder gar, was sich dann im Laufe des Gesprächs herauskristallisierte, dass ich das Reitturnier FÜR sie filmte, da sie selbst am Wettbewerb teilnehmen würde. Allerdings, so meinte sie, könne sie mich danach mitnehmen, zum Grillen bei ihr im Reitverein, wo es eine Menge gutaussehender junger Mädchen gäbe. Und deren Freunde, entgegnete ich. Nein, noch schlimmer: Ihre Pferde. Auf dem Grill? Ich erlaubte mir schlechte Witze und machte mich über Pferde und Pferdemädchen lustig, denn ich wollte sowieso nicht auf die Pferdemädchenreitturniergrillparty, Martin würde zu Besuch kommen. Je mehr ich über Pferde schimpfte, desto mehr lachte Maria, sie war überhaupt nicht eingeschnappt, schließlich gab sie zu, dass sie mit dem Pferdetheater, das man von den jungen Reiterinnen gewohnt sei, nichts anfangen könne, aber als Sportart gefalle ihr das Reiten. Trotzdem lehnte ich dankend ab, was aber nichts nutzte, denn es stellte sich heraus, dass der coole Kameramann schon mit dem Umzug beschäftigt war, der uncoole erst recht nicht wollte und der Chef meinte, ich solle dankbar sein, wie schnell ich in die wichtige Position als Kameramann hineinwachsen würde. Ich könne stolz sein, dass ich das Reitturnier aufnehmen dürfe. Dann klopfte er mir auf die Schulter und meinte, da gäbe es viele hübsche Frauen. Damit hatte er Recht, wie sich später herausstellte, aber es ärgerte mich die Bestimmtheit, mit der ich dazu abkommandiert wurde, mir den Samstag verderben zu lassen. Tina hätte mich trösten können. Das tat sie aber nicht, sie machte mir stattdessen Vorwürfe, weil sie sich dann um die Gäste kümmern müsse. Vermutlich empfand sie Genugtuung, dass mir mein Fernsehjob endlich mal zu viel wurde und ich ärgerte mich über ihre stille Schadenfreude. Was aber letztendlich alles nur Verschwendung von Emotionen war, denn am Freitag rief Martin bei Tina an und ließ ausrichten, sie kämen erst Samstagabend. Tina hatte wieder nicht nachgefragt, wer „wir“ sein würde. Ich meckerte sie an, dass es von Wichtigkeit sei, wie viele Menschen bei uns übernachten wollten. Wieso, wir haben doch genug Platz, antwortete sie. Für mich ging es nur um die Frage, ob mit Sabine zu rechnen sei, was ich aber Tina nicht verriet.
Daran musste ich denken, als ich die Pferde filmte. So ein Turnier kann ganz schön lange dauern, vor allem, wenn man sich nicht die Bohne für Pferde und ihr Gehopse über die Hindernisse interessiert. Am Anfang war es anspruchsvoll, die besten Positionen für die Kamera zu finden. Weil ich genügend Zeit hatte, übte ich bei einigen Durchläufen, ohne die Aufnahme zu starten. Ich wollte möglichst wenig Material aufnehmen, aber trotzdem das richtige, um mich bei den Cuttern beliebt zu machen, speziell bei Ulrich, der immer wieder mal sagte, zehn Minuten seien genug, wenn sie gut sind. Für alles, was über eine halbe Stunde hinausginge, hätte er keine Zeit, würde er sich gar nicht ansehen. Nachdem schließlich Maria vorbeigeritten war, die ich in voller Länge aufnahm, weil ich mich auch bei ihr beliebt machen wollte, langweilte ich mich bis zur Preisverleihung und erinnerte mich daran, wie Sabine damals gefragt hatte, was denn später aus uns und unseren Ambitionen werden würde. Dass ich Samstag am Reitplatz stehe und Pferde filme, wäre mir damals nicht als Antwort eingefallen. Aber abgesehen von meiner Ungeduld und dem ungünstigen Termin, war es eine angenehme Aufgabe, die mir sogar noch ein paar Grillwürste hätte einbringen können. Maria tat etwas enttäuscht, weil ich gleich fahren wollte, aber da kam auch schon ihr Freund und küsste sie. Ich hingegen packte meinen Kram, die Kamera und das Stativ und räumte alles ins Auto, wo schon einige Bierkisten standen, die ich am Vormittag für die Filmvorführung am Abend eingekauft hatte. Als Entschädigung für die Samstagsarbeit hatte mir der Chef den klapprigen Kleinbus fürs ganze Wochenende überlassen und den Camcorder nahm ich auch mit nach Hause, um mir den Umweg ins Studio zu sparen. Gutgelaunt fuhr ich die kurvigen Landstraßen zwischen den hügeligen Äckern entlang. Ein einsamer Fahrradfahrer quälte sich die langgezogene Steigung hinauf, die zu unserem Dorf führte. Beim Überholen sah ich, dass es Gitarren-Hans war und bremste so kräftig, dass der Pseudo-Sportwagen hinter mir, dessen Fahrer schon die ganze Zeit vergeblich versucht hatte, mich zu überholen, ebenfalls quietschend bremsen musste. Dann, als der Gegenverkehr vorbeigezischt war, preschte er hysterisch hupend und die Arme wedelnd mit einem Affenzahn davon. Hans war verwirrt von dem plötzlichen Autotrubel um sich herum, aber als ich ausstieg, erkannte er mich. Das seien völlig unzurechnungsfähige Menschen, emotional getunt wie ihre übermotorisierten Karren, mit denen sie über die kleinen Straßen rasen, sagte er schnaufend, während wir sein Fahrrad auf die Bierkisten luden. Er war auf dem Weg zu Tina, oder vielmehr zu uns. Die beiden wollten für den Filmabend noch einen Drogenkuchen backen. Offensichtlich hatten sie ihre Zwistigkeiten wegen der Lieblingsschallplatte inzwischen vergessen.
Tina empfing ihn mit einer Umarmung und mich mit der Nachricht, dass wiederum Martin vor Kurzem angerufen hätte. Er, beziehungsweise sie, drei Männer, seien jetzt schon in Deutschland an der Grenze und die drei Männer fragten an, ob auch ein paar Frauen zum Filmabend eingeladen sein? Also keine Sabine! Und keine Grillpferdemädchen. Aber Tina hatte schon den Teig angerührt und Gitarren-Hans eine weitere wichtige Zutat dabei. Der Kuchen, der daraus entstehen sollte, war nicht nur für Martin und seine Kumpels, sondern auch für Tinas Bardamenkollektiv, wie sie sich und ihre Kolleginnen hinter dem Tresen bezeichnete. Sie und einige der Stammgäste wollten endlich mal sehen, wo wir uns auf dem Dorf versteckt hielten und hatten versprochen, auf jeden Fall zu kommen. Ulrich hatte ich als einzigen meiner Fernsehkollegen eingeladen, aber er musste zu irgendeinem Familienfest, das fand ich schade. Martin würde noch einige Stunden auf der Autobahn verbringen, Hans und Tina waren in der Küche zugange und ich konnte in aller Ruhe die drei Projektoren aufbauen, den guten Super-8-Projektor in der Scheune, den alten im Hof.
Dann kümmerte ich mich um den 16-mm-Projektor, für den ich im Jugendzentrum eine Filmrolle mitgenommen hatte. Ich putzte ihn ordentlich aus und als ich den Film einlegte, stellte sich heraus, dass der Projektor einwandfrei funktionierte. Also konnte ich eine Endlosschleife herstellen. Ich musste nur eine geeignete Passage im Filmmaterial finden. Der Film aus dem Jugendzentrum schien zunächst ziemlich öde, es ging wie erwartet um die Probleme von Jugendlichen. Er zeigte, wie diese Probleme durch die Besinnung auf den christlichen Glauben gelöst werden. Die meiste Zeit wurden Interviews geführt, oder langweilige Diskussionsrunden. Erst am Ende des Filmes gab es einige gelungene Aufnahmen der Probleme, da führte eine Kamerafahrt zwischen unglaublich vielen leeren Bier- und Weinflaschen hindurch und dann war da auch noch ein kotzendes magersüchtiges Mädchen, dessen Gekotze man nicht richtig sehen konnte, aber die Körperhaltung und Bewegung waren eindeutig.
Da hatte ich also ein schönes Stückchen Film, das ich in den Projektor einfädelte und dann den Anfang an das Ende klebte. Zwar fehlte mir eine entsprechende Klebelade, aber die war nicht unbedingt nötig. Bei 16-mm-Film konnte man jedes einzelne Bild gut mit bloßem Auge erkennen. Einfach die Perforation übereinanderlegen, zur Deckung bringen, dann ein schneller Schnitt mit der Haushaltsschere, die Enden stumpf aneinandergefügt und mit Tesafilm zusammengeklebt, schon fertig. Außerdem hatte ich inzwischen die erste Rolle Schwarzweiß-Film entwickeln lassen und es gab ein paar Sekunden, die die drehende Spule des Projektors und ihren riesigen Schattenwurf an der Scheunenwand zeigten. Diese Aufnahme, etwa 50 cm, kam als Endlosschleife in den alten Super-8-Projektor und gleichzeitig wurde der laufende 16-mm-Projektor mit einer Lampe angeleuchtet, so dass dessen Spule, die bei einer Endlosschleife eigentlich gar nicht nötig ist, einen bewegten Schatten warf, der sich mit der Projektion überlagern würde.
Tina und Gitarren-Hans kamen in den Hof, eine Weinflasche und Gläser in den Händen. Während des Einschenkens startete ich die beiden Schleifen zum ersten Mal gleichzeitig. Es war noch etwas zu hell, aber vage zeichnete sich das Bild an den Wänden ab. Ich hatte einiges ausprobiert. Inzwischen kotzte das Mädchen rückwärts und das Bild stand auf dem Kopf, da konnte man durchaus auf die Idee kommen, es sei ein Ausschnitt aus einem Pornofilm. Auf der anderen Mauer überlagerten sich die echten und gefilmten Schatten der Projektorspule, das gefiel mir sehr gut. Es fehlte nur noch ein Soundtrack. Ich schlug vor, dass Tina ihren monophonen Synthie holen könnte, was ihr nicht in den Kram passte, aber schließlich erlaubte sie Gitarren-Hans, den Synthie zu bedienen, wenn er sich selbst um alles kümmern würde. Hans kannte sich überraschend gut mit dem Gerät aus oder verstand es intuitiv. Während er die ersten zaghaften Töne erzeugte, rückte ich nochmals meine Projektoren herum, suchte die jeweils optimale Position und da es inzwischen dunkel geworden war, sah es sehr beeindruckend aus. Gitarren-Hans drehte an Tinas altem Gitarrenverstärker die Höhen raus, die Bässe rein und holte knatternde, tiefe Töne aus dem Synthie, die er durch das Drehen an den Filtern ganz langsam veränderte. Wieder traf er bei mir eine Resonanz, die mich mitnahm, mich durchdrang, dieser spröde technische Ton, der kein Ende zu haben schien, sondern nur einen Puls, während die Schatten rotierten und das auf dem Kopf stehende Mädchen aussah, als kotze und vögle sie gleichzeitig. Der erste Schluck Rotwein dieses Abends, ein dazu gereichter Joint, ich spürte es in der Kehle, in der Lunge und schon kurz darauf im Kopf, wie es brummte. Gitarren-Hans drückte auf die Tastatur, es ging einen Halbton runter, noch tiefer, dazu ein Blubbern und Knarzen, das ich so empfand, als würde uns dieser Klang einschließen, einhüllen, beschützen, als sei der Klang unsere Welt, hier sind wir sicher und unter uns, keine Ikonen oder Turniere, keine fragwürdigen Gedanken, was wir tun und lassen mussten, um an Geld zu kommen, sondern einfach SEIN und machen, was ICH will, einfach loslegen, wir erzeugen mentale Energie auf unserem eigenen Planeten, und da kam das erste Auto mit Gästen, die Autoscheinwerfer überstrahlten für einen Moment gleißend die Projektion und erloschen schnell wieder, aber es war nicht Martin, sondern zwei von den Bedienungen aus der Szenekneipe, Tinas Bardamenkollektiv, die Blonde und die Rothaarige, und die Blonde schien mich zu mögen, küsste mich zur Begrüßung, fragte irgendetwas, was ich nicht verstand und ich war so verwirrt, dass ich sie einfach noch mal umarmte. Ich fand es toll, sie hier zu haben. Das sagte ich ihr und meinte, sie solle es sich gemütlich machen, auf unserem kleinen Planeten.

15
Die blonde Bedienung machte es sich tatsächlich gemütlich, holte sich einen Klappstuhl, den sie neben meinen Clubsessel hinstellte und so saßen wir in der Mitte des Hofes mit dem besten Blick auf die Endlosschleifen. Sie verwickelte mich in ein Gespräch über die Stammkundschaft in ihrer Kneipe, zu der auch ich gehörte und das war ein schier unerschöpfliches Thema. Am Anfang fand ich es sehr interessant, dann ergriff mich zunehmend die Ungeduld, denn ich fragte mich, wann Martin ankommen würde. Stattdessen trafen weitere Freunde und Bekannte ein, mit denen ich teilweise kurz plauderte, aber letztendlich saß ich immer wieder neben der blonden Bedienung in der Mitte des Hofes. Gitarren-Hans kündigte an, dass er nicht mehr lange an den Reglern des Synthies drehen würde, andere Gäste wollten Musik hören, wieder andere forderten die Filmvorführung. Auf den dreihundert Kilometern von der Grenze bis zu uns konnte es viele geplante oder ungeplante Verzögerungen geben. Womöglich traf Martin erst um Mitternacht ein, solange wollte ich nicht warten. Darum holte ich den Camcorder in den Hof, um die Projektion abzufilmen, solange Gitarren-Hans den Synthie am Laufen hielt. Er drehte feinfühlig an den Filtern, so dass das Blubbern an Intensität gewann und wunderbar zu meinen, leider etwas lichtschwachen Endlosschleifen passte. Schließlich tanzte die blonde Bedienung als dunkle Silhouette vor den kreisenden Schatten und das sah sehr gut aus. Die Videoaufnahme meiner Installation wäre später oder am nächsten Tag gar nicht mehr möglich gewesen, denn im Lauf des Abends riss die Super-8-Schleife und im 16-mm-Projektor brannte die Birne durch. Aber erstmal kamen zwei Autos voll mit Stammgästen der Szenekneipe, von denen mir die blonde Bedienung erst kurz zuvor diverse Details erzählt hatte. Sie johlten laut, als sie mit zwei Bierkästen in den Hof traten. Ganz schön prollig, dachte ich mir, deshalb ließ ich zur Einstimmung meinen damals einzigen Zeichentrickfilm laufen, ganz einfache Strichmännchen, die zunächst Bierkrüge leerten, diese dann aufaßen und letztendlich kotzend umfielen. Das gefiel den prolligen Gästen und ihre Stimmung blieb gut, auch als Tina frühen Elektro-Punk auf den Plattenteller legte. Das war keine Konsensmusik. Der Großteil der Landbevölkerung schwelgte musikalisch immer noch in den 70er-Jahren. Zwischendurch zeigte ich ab und zu einen meiner frühen Filme. Schließlich fädelte ich auch „Die Rückbesinnung“ ein, die nach meiner ursprünglichen Planung erst nach Martins Ankunft laufen sollte. Es war schon halb zwölf, die Gäste betrunken, lange konnte ich nicht mehr warten und startete den Film. Kurz vor der Schlussszene tauchte ein ankommendes Auto den Hof in grelles Licht und während der Abspann lief, traten Martin, Achim und ein Unbekannter in die Scheune.
Sie erkannten, dass es ihr Film gewesen war und die Gäste erkannten die Hauptdarsteller, was auf beiden Seiten Begeisterung auslöste. Wir umarmten uns zur Begrüßung und ohne viel zu reden, waren wir uns sofort einig, dass ich gleich den falschen Film einlegen sollte, den Film, bei dem nichts zusammenpasst und eigentlich passte das ja wirklich nicht, es passte eben auch nicht zu den sogenannten normalen Zuschauern, aber diesmal, da war das eben anders, denn schon in der ersten Szene machte Martin flüsternd einen Witz, woraufhin Achim und der unbekannte Dritte laut lachten und ab diesem Moment taten die drei so, als sei alles, was in dem Film passierte, umwerfend witzig. Sie grölten und klopften sich auf die Schenkel, was auch die anderen dazu animierte, es irrsinnig lustig zu finden. Schließlich verstand man kaum noch die absurden Dialoge, weil das Publikum außer Rand und Band war, so dass ich den Film gleich nach dem Zurückspulen noch einmal einlegte und wir schauten ihn mit der gleichen Begeisterung zum zweiten Mal an. Danach begeisterten sich Martin und Achim genauso, wie damals bei der Rückbesinnungs-Premiere in Martins Wohnung, als wir uns so sehr über die Idee amüsierten, was wir falsch machen könnten und jetzt amüsierten wir uns, wie ich es tatsächlich falsch gemacht hatte.
Ab und zu fiel von Martin, Achim und dem unbekannten Dritten, von dem ich am nächsten Tag erfuhr, dass er ein Studienkollege Martins an dieser digitalen Kunstakademie war, eine abfällige Bemerkung über die Gepflogenheiten der wichtigen Künstler in Berlin. Seitenhiebe und zynische Kommentare über das große, verkopfte Kulturestablishment, zu dem meine Gäste, leider noch nicht gehörten. Später vermutete ich, dass die digitalen Erstsemesterkünstler und Achim, der ewige Student für nutzlose geisteswissenschaftliche Fächer nach der schwierigen Eingewöhnung in die Verhältnisse der Metropole und einem Trip zur elektronischen Weltkultur endlich aufatmeten, denn hier, zwischen den Rüben- und Getreideäckern, in der aus Muschelkalk gemauerten Scheune unseres bescheidenen Bauernhofes war die Hierarchie der Verhältnisse plötzlich auf den Kopf gestellt oder vielmehr: wieder zurück auf die Füße.
In meinem Film war alles falsch, doch die Vorführung rückte es in die richtige Rangordnung, in unsere Rangordnung. Die Dreierbande aus Berlin hatte sich schon durch die Ankündigung ihres Kommens mit mir verbündet und gemeinsam konnten wir die Stimmung des Abends kontrollieren und das taten wir genussvoll. Hier waren wir die Kulturelite. Es gab schließlich noch die Vorführung einer meiner kurzen Super-8-Klassiker, „Sulos Tod“, der ausschließlich zeigte, wie ich eine Metall-Mülltonne zerstörte, nichts Besonderes, aber emotional effektiv. Bevor die Plastikmülltonnen eingeführt wurden, stand auf allen Mülltonnen „Sulo“, vermutlich der Hersteller. Tina kam auf die Idee, dass wir auch noch eine alte Mülltonne hätten, die können ich jetzt und hier spontan zerstören. Also drückte ich Martin den Camcorder in die Hand, damit er meine Performance filmte, positionierte den Scheinwerfer, der den ganzen Abend nur dazu gedient hatte, den Schatten der Filmspule zu erzeugen, und dann steigerte ich mich in die banale Zerstörung der Mülltonne hinein, als ginge es darum eine untergehende Welt zu retten.
Ich drosch mit dem Vorschlaghammer auf die Tonne ein, bis sie nur noch ein Klumpen verbeulten Blechs war. Die anderen feuerten mich an und grölten, wenn mir ein Schlag gelang, der die Tonne deutlich verformte. Es machte einen Heidenlärm. Zwischendurch bekam ich es mit der Angst zu tun, die Nachbarn könnten uns die Polizei auf den Hals hetzen, aber da unser Gehöft etwas abseits stand, schien im verschlafenen Dorf niemand das Bedürfnis zu verspüren, uns den Spaß zu verderben. Ich zog mir den Pullover aus und keuchend und schwitzend schlug ich auf die verbeulten Überreste der Mülltonne ein. „Sulos Tod“, Version Zwei, diesmal mit dem Originalton.
Die erste Version, die wir ein paar Jahre zuvor in einem Steinbruch gedreht hatten, war vollständig nachsynchronisiert worden. Im Bild schlug ich wie ein Wilder mit der Axt auf die Tonne ein, aber die Geräusche hatte ich im Keller meiner Eltern mit einigen Blecheimern und einem normalen Hammer erzeugt. Bei der Videoaufnahme in der Scheune knallte es hingegen richtig und das Raunen und Jubeln der Zuschauer war auch mit auf der Tonspur. Wir, also Martin und ich, schauten uns einen Teil der Zerstörungsorgie im Sucher der Kamera an, der sie nur schwarzweiß und stumm wiedergab, trotzdem waren wir hellauf begeistert. Von allem. Nicht nur die Aufnahme, sondern auch das Zusammentreffen, die Übereinstimmung, der Konsens und die Freundschaft. Und alles andere auch noch. Jetzt konnten wir uns endlich einfach unterhalten, über meine Aufgaben als Kameramann und Martin über seine Akademie und Achim über geheime Kellerbars in Ostberlin und der Studienkollege von der digitalen Akademie über die „Ars Electronica“. Jetzt war Schluss mit der Angeberei, wir wollten schließlich voneinander erfahren, was in der Zwischenzeit passiert war. Das Reizthema Sabine hatte ich dabei völlig vergessen, aber Martin erzählte ganz beiläufig, dass er mit ihr schon längst nicht mehr zusammen sei, das wäre nur eine kurze Sache gewesen. Er überlegte, rückte aber nicht damit heraus, was er Schlechtes über sie sagen wollte. Mir war es egal, ich war sowieso gerade sehr euphorisch und hin und wieder wechselte ich einen Blick mit der blonden Bedienung. Als Martin sich dann in eine zu lange und zu komplizierte Abhandlung über Bildbearbeitung mit Computern verstrickte, konnte ich beim besten Willen nicht mehr folgen, seilte mich ab und fand wieder den Platz in der Mitte des Hofes, wo sich die blonde Bedienung auch gleich neben mich setzte. Jetzt erzählte ich ihr über meine Filme, was ein ebenso unerschöpfliches Thema war wie ihre Stammgäste. Aber es gelang uns, verbale Ausschweifungen zu vermeiden und relativ bald lagen wir bei mir im Bett, während die Party draußen bereits leiser wurde.

16
Der Sonntag war viel zu kurz. Ich hatte im Morgengrauen noch Spaß mit der blonden Bedienung, aber sie ging dann ohne Frühstück, musste irgendwohin und fuhr, bevor die anderen aus den Betten krochen. Bei Tina war offensichtlich auch jemand geblieben, sie holte sich zwei Tassen Kaffee aufs Zimmer. Obwohl sie es schaffte ihren Gast vollständig meinem Blick zu entziehen, war mir klar, dass es Gitarren-Hans sein musste. Martin, Achim und der Studienkollege von der digitalen Akademie kamen gegen zehn in die Küche und wollten möglichst schnell aufbrechen, weil die Fahrt nach Berlin jetzt, mit geöffneter Grenze, keineswegs schneller ging, sondern wegen einiger Baustellen manchmal in einem großen, endlosen Stau versank. Beim Kaffee ereiferte sich Martin nochmal über den grandios sinnlosen Auftritt seiner Gummientensammlung im falschen Film und versteifte sich auf die Forderung, dass der Film unbedingt in Berlin laufen müsse, möglichst schnell.
Ich widersprach, meinte, ich hätte schon mehrmals Filme zu Festivals geschickt, aber die zeigten immer nur das, was ich als sogenannten konzeptionellen Edelmist bezeichnete. Genau, aber der falsche Film sei doch konzeptioneller Edelmist, wie man ihn sich besser nicht vorstellen könne. Nein, überhaupt nicht, der ist Trash, Genialer Dilettantismus, aber ein bisschen zu wenig genial. So ein Schmarrn, warf Achim ein, und Martin sagte, ich sei vom Leben auf dem Land desensibilisiert für die ästhetischen Nuancen, woraufhin ich die kulturelle Überfütterung in den Metropolen anprangerte, die die Künstler scharenweise in stilistische Extremgebiete hineintreibe, wo es nur noch darum ginge, dass man was „total Abgefahrenes“ mache, auch wenn es keinen Sinn hätte, oder vielmehr sei die totale Sinnlosigkeit eines der typischen Merkmale dieser „total abgefahrenen“ Kunstverwirrungen und das fände eben auch in den Film- und Videofestivals seinen Niederschlag. Rein konzeptionelle Kopfgeburten, humorlos, aber unermüdlich von Sinn-Totalverweigerern zusammengefummelt, dominierten oder vielmehr blockierten die Leinwände, so dass für die unverkrampften Werke kein Platz mehr sei. Jetzt begann der Studienkollege von der digitalen Akademie zu widersprechen, der sowohl bei der „Ars Electronica“, als auch in irgendwelchen Kulturkinos unzählige beeindruckende filmische Werke gesehen hätte, die er mir am liebsten alle erzählen wollte, inklusive der darin steckenden Konzepte. Damit durfte ich mir nicht das Frühstück verderben lassen. Ich gab nach und holte die Spule mit dem falschen Film, drückte sie Martin in die Hand, er solle darauf aufpassen und dann könne er sich drum kümmern, eine Vorführung in Berlin zu organisieren, ich würde dann vielleicht auch mal wieder vorbeikommen, zumal, was Sabine anging, inzwischen die Luft rein war. Umarmungen am Auto, dann brausten sie davon.
Im Hof stand das Fahrrad von Gitarren-Hans und Tina war nur ein paar Mal als vorbeihuschender Schatten zu sehen. Stattdessen überraschte mich Maria, die mich anrief, ob ich mit ihr Kaffee trinken wolle und ob ich dann auch die Videokassette mit den Reitturnieraufnahmen mitbringen könnte. Charmant, aber vergebens, denn auf Pferde hatte ich gerade gar keine Lust, es graute mir auch schon vor dem Montag, an dem ich wieder zurück zum Schrebergartenfernsehen musste. Viel lieber hätte ich mir die Aufnahmen meiner Mülltonnenperformance auf einem großen Monitor angeschaut, aber da wir weder einen S-VHS-Rekorder noch einen Fernseher zuhause hatten, packte ich die Kamera an dem Tag gar nicht aus. Ich musste dann aber am Montagmorgen dringend Ulrich sagen, dass meine wichtigen künstlerischen Aufnahmen auf dem gleichen Band aufgezeichnet waren wie das Turnier, damit er die Kassette nach dem Schnitt beiseitelegte und mir eine Kopie zog.
Aber als ich ins Büro kam, Kamera am Arm und das Stativ geschultert, wollte mich der hektische Redakteur am liebsten gar nicht rein lassen, denn ich solle dringend in die Kirche, genaugenommen in den Dom, dort sei die Polizei am Spurensichern, weil ein Diebstahl geschehen sei, und wenn ich zu spät am Tatort einträfe und die Polizei schon weg sei, dann hätte ich den wirklich schrecklichen Fall, dass ich das NICHTS filmen müsse und das sei das Schlimmste, was uns Fernsehbildberichterstattern passieren könne. Er erlaubte mir gerade mal, die bespielte Kassette mit den Pferdeaufnahmen auf den Stapel zu legen, wo sie Ulrich oder ein anderer Cutter, wer immer es auch sein möge, finden könnte, denn es hatte geheißen, dass die Pferdegeschichte gleich am Montag geschnitten werden solle. Dann schnappte ich mir einen Stapel frischer Akkus und ging mit dem Redakteur in den Dom, der nur ein paar hundert Meter vom Büro entfernt war. Das ist ganz schön weit, wenn man es eilig hat und schwer tragen muss. Es stellte sich heraus, dass die Hetzerei unnötig gewesen war, da die Polizeibeamten, die in einem Seitenschiff rings um eine Absperrung herumstanden, sehr wortkarg waren. Wir konnten nicht erkennen, ob sie etwas taten und, wenn ja, was. Diese unidentifizierbare Tätigkeit schienen sie in Extremzeitlupe zu erledigen. Keiner verriet, ob er etwas wissen würde, oder ob er dieses Wissen preisgeben durfte. Trotzdem machte ich einige Aufnahmen, wobei mich die Polizisten mürrisch anschauten, aber offensichtlich hatten sie keine klare Anweisung erhalten, ob das Filmen und Fotografieren erlaubt sei.
Schließlich hastete ein Geistlicher in brauner Kutte vom Seiteneingang auf uns zu, zwei Fotografen klebten an seinen Fersen. Er gestikulierte und redete ununterbrochen, schaffte es dabei, uns zu begrüßen, ohne in seinem Redeschwall nachzulassen. Während die Fotografen wild losblitzten, bekamen wir erklärt, dass der heilige Liborius entwendet worden sei, oder vielmehr der letzte Knochen, der von ihm übriggeblieben war. Den heiligen Liborius kannten wir natürlich nicht, aber so langsam verstanden wir, dass eine Reliquie samt Reliquiar fehlte, also das Überbleibsel eines Heiligen mitsamt der Aufbewahrungsdose. Da gab es wirklich nicht viel zu filmen, zumal die Polizisten trotz des Redeschwalls des Geistlichen nicht aus ihrer Zeitlupe erwachten. In der Dombibliothek sollte es ein Foto vom geklauten Reliquiar geben, da gingen wir also auch noch hin und filmten das Foto ab. Das machte man damals so, weil es keine E-Mail und keine digitalen Fotos gab. Bestenfalls gab es Faxgeräte, die die Fotos zu schwarzweißen Bilderbrei verunstalteten. Im Nachrichtenbereich waren die Faxgeräte damals das bevorzugte Kommunikationsmittel. Alles, was es an Pressemitteilungen und Neuigkeiten gab, wurde über Faxgeräte gesendet. Als wir in die Redaktion zurückkamen, hatte sich dort schon ein beachtlicher Haufen an Faxpapier angesammelt. Alles unbearbeitete Themen, um deren Sortierung sich der Redakteur nicht kümmern konnte, weil er den gestohlenen Heiligen zu wichtig genommen hatte. Das ärgerte ihn jetzt.
Maria, die als Praktikantin an einem Schreibtisch in der Ecke saß, bekam einen Anschiss, weil sie die Faxe noch nicht vorsortiert hatte, woraufhin sie sich verteidigte, dass sie ihre Zeit mit der Suche nach dem Pferdeturniermaterial verplempert hätte und Ulrich würde mich dringend brauchen, um ein Problem zu lösen. Der Redakteur, der gerade das meterlange Faxpapier überflog, meinte, ich solle jetzt mal kurz dableiben, damit wir gleich besprechen könnten, was heute zu tun sei und ich erklärte Maria gereizt, dass ihr Reitturnier doch dort sei, wo es hingehöre und sie meinte wiederum, dass sie es aber nicht finden könne. Um elf sei die Pressekonferenz im Rathaus, da müsst ihr hin, ließ der Radakteur ungeachtet unseres Disputes verlautbaren, und um 14 Uhr kümmert ihr euch um das Technische Hilfswerk, die haben eine neue Koordinationszentrale für Katastropheneinsätze.
Jetzt durfte ich abtreten, zu Ulrich in den Schnittraum, bei dem auf allen Monitoren Bilder vom letzten Hochwasser zu sehen waren. Ich glaube, es ist was schiefgelaufen, meinte er, während er eine Kassette wechselte. Was denn, fragte ich. Du musst zurückspulen, weil wir hinter den Pferden noch was aufgenommen haben. Eben nicht! Über die Pferde, da schau … hier ist ein Pferd … er zeigte mir eine kurze Aufnahme, die ganz am Anfang des Turniers entstanden sein musste, dann flimmerte das Bild, Störstreifen und es baute sich langsam das neue Bild auf, ich und die Mülltonne. Mach lieber mal die Tür zu, sagte Ulrich und ich starrte gebannt auf meine Performance, von der weite Bereiche im tiefen Schwarz verschwanden, aber das Blech schepperte bei jedem Schlag unglaublich laut, so dass man gut hören konnte, was man wegen der schlechten Belichtung nicht sah. Das ist nicht lang, stotterte ich, und in der Tat, Ulrich spulte kurz weiter, da sahen wir, wie ich gerade mit der Mülltonne fertig war und den Vorschlaghammer hinschmiss. Es erschien wieder ein Pferd, hoppelte über den Parcours, dann nochmal Aufnahmen von unserer Party, auf denen Martin seine beiden Freunde filmte und ich gar nicht zu sehen war. So ein Mist, das konnte doch nicht wahr sein, was hatte Martin, dieser Idiot gemacht? Ulrich spulte wieder etwas vor, bis erneut Maria zu sehen war, wie sie ins Ziel einritt, eine mittelmäßige Aufnahme, weil ich es darauf angelegt hatte, ihren gesamten Parcours zu erwischen. Dann die Siegerehrung und schon brach das Bild wieder zusammen. Es folgte meine Aufnahme von der Filmschleifeninstallation. Das konnte doch nicht wahr sein! Wir Idioten hatten das Material vom Pferdeturnier teilweise überspielt, also unwiederbringlich gelöscht! Die Mühe, die ich mir gegeben hatte, alles möglichst kurz und knapp zu filmen, bewirkte nun, dass kaum etwas übrigblieb. Ich brauche immer erst mal zehn Sekunden für den Preroll, sagte Ulrich, dann ist der kleine Rest auch noch unbrauchbar. Es sei denn, ich ziehe erst mal ‘ne Crash-Kopie. Das sollen wir aber nicht machen, wegen dem Qualitätsverlust beim Kopieren. Wenn Cutter mit ihren vielen Fachausdrücken argumentierten, war ungewiss, ob sie nicht wollten, oder wirklich nicht konnten. Du musst da noch was rausholen, bat ich ihn, und er antwortete, das wird anstrengend. Maria steckte plötzlich ihren Kopf zur Tür herein. Ich schaute sie schuldbewusst an und sagte, Scheiße, es ist das Schlimmste passiert, was passieren kann. Ulrich drückte wirr auf ein paar Tasten seiner Schnittanlage und fügte ganz sachlich hinzu, es sei nur das Zweitschlimmste. Maria reagierte überhaupt nicht darauf. Wir müssen los, sagte sie, ins Rathaus, Pressekonferenz. Tatsächlich, schon 20 vor elf. Also wieder ran an die Kamera, Akkus holen, Kassette einlegen und möglichst geschäftig tun, um von der Katastrophe mit den Pferdebildern abzulenken. Solange Maria nicht fragte, brauchte ich nichts sagen, aber das waren nur 30 Sekunden. Als wir am Lift standen und warteten, schaute sie mich mit einem merkwürdig undefinierbaren Gesichtsausdruck an und fragte, ob ich denn nun das Material vom Reitturnier gefunden hätte. Ja! Ich konnte bestätigen, dass ich es gefunden hatte, aber ich musste, als wir im Lift nach unten fuhren, einschränkend hinzufügen, dass das Material nicht ganz in Ordnung sei. Wie? Nicht in Ordnung? Nicht vollständig, da fehle wirklich ein Teil, eigentlich der größte Teil und ich könne auch nicht erklären, wie das habe passieren können. Gleichzeitig dachte ich mir, dass ich natürlich wusste, dass es daran lag, dass wir das Material gelöscht hatten, dass es total fahrlässig gewesen war, die Kamera unbeaufsichtigt auf der Party herumstehen zu lassen, dass es das mindeste für einen Kameramann gewesen wäre, eine eigene Videokassette zu benutzen und die Pferdeturnierkassette an einen sicheren Ort zu verwahren, aber ich redete um dieses Schuldgeständnis herum, dass ich mir nicht erklären konnte, WIE wir es gelöscht hatten, zumal wir nur geringfügig betrunken gewesen waren. Wenn wirklich was schiefgeht, soll es so aussehen, als sei die Technik schuld, die Technik verstehen nur die Techniker und wenn ich genauer darüber nachdachte, schien es mir wirklich nicht nachvollziehbar, wie uns das passieren konnte, die einfachste Erklärung war wirklich, dass der Camcorder von alleine die Rückspulfunktion ausgelöst und uns damit einen bösen Streich gespielt hatte. Vielleicht waren es aber auch die Mainzelmännchen gewesen. Wie unvollständig, fragte Maria, weil ich gar nichts mehr sagte, sondern nur vor ihr her zum Auto trottete und die Technik verstaute. Sollte ich ihr gleich gestehen, wie unglücklich die Lage war, oder konnte ich sie ein bisschen vertrösten, damit sie noch Hoffnung hatte, während wir gemeinsam unterwegs waren? Ziemlich unvollständig, sagte ich schließlich beim Einsteigen, ich drehe dir dafür einen schönen Bürgermeister. Aber ich will keinen Bürgermeister, sondern die Pferde! Oh nein, du brauchst auch den Bürgermeister, vergiss die Pferde! Die vergesse ich nicht, und weißt du, dass in zwei Wochen das nächste Turnier stattfindet? Sie war hartnäckig, aber offensichtlich trug sie es mit Fassung. Die Pressekonferenz erheiterte uns, weil der Schlips des Bürgermeisters genau die gleiche Farbe hatte wie die Bluse seiner Referentin und der Pressesprecher die passenden Socken dazu trug. Sie berichteten über die üblichen Banalitäten: Straßenbau, Gebührenerhöhung und Hochwasserschutz. Zu guter Letzt fiel ihnen aber tatsächlich ein, dass im Dom die Reliquie des heiligen Liborius entwendet worden sei, was gar nicht ihre Zuständigkeit berühre, da es sich um eine reine Kirchenangelegenheit handle, aber der Bürgermeister mit seinem orangefarbenen Schlips wies darauf hin, dass die Stadt unter dem besonderen Schutz des Heiligen stehe und er inständig hoffe, dieser Schutz bliebe auch erhalten, wenn die Reliquie verschwunden sei. So ein Unfug, dachte ich mir und freute mich, dass die Referentin den Bürgermeister angesichts dieser Aussage stirnrunzelnd und strafend anschaute. Aber der Pressesprecher setzte noch einen drauf und empfahl den Bürgern der Stadt, zu beten. Da hätte ich mich fast verschluckt und musste meinen Heiterkeitsausbruch unterdrücken. Die hofften, sie könnten die Reliquie wieder herbeibeten. Und ich hoffte, Ulrich würde unterdessen irgendwie unser gelöschtes Pferdematerial herbeizaubern, tat er aber nicht. Als wir zurückkehrten, war er immer noch mit den Hochwasserbildern beschäftigt, die für den Studiogast vom Katastrophenschutz vorgesehen waren. Er schimpfte leise vor sich hin, dass ihm das alles nicht gefalle, das Rohmaterial nicht, der Schnitt nicht und die Probleme mit Kameramännern, die ihr eigenes Material löschten, gingen ihm auch ganz schön auf den Sack.
Und mir geht die Kamera auf den Sack, entgegnete ich, denn ich war gerade dabei, einen Test durchzuführen. Am Schnittplatz gab es eine große Digitaluhr mit Sekundenanzeige, die filmte ich, stoppte dann die Kassette und spulte zurück. Schaute mir dann die Uhr im Sucher an. An der Uhr konnte ich genau ablesen, wann ich die Kassette stoppte. Man hörte am Geklacker des Laufwerkes, dass der Rekorder das Band ausfädelte. Als ich in Aufnahmebereitschaft ging, klackerte es nochmal, der Rekorder fädelte das Band wieder ein. Bei Videorekordern wird das Band um eine große Kopftrommel herumgeschlungen, und die Kopftrommel dreht sich in einem Affenzahn, denn es müssen 25 Bilder in jeder Sekunde aufgenommen werden, und jedes Bild besteht aus 768 Zeilen und für jedes Bild schreibt der Magnetisierungskopf, der sich auf der rotierenden Kopftrommel befindet, eine schrägliegende Spur auf das Magnetband. Es war beachtlich, dass das überhaupt funktionierte. Aber wie ich bei der Aufnahme von der Digitaluhr sehen konnte, sorgte dieser Mechanismus dafür, dass das Band beim Einfädeln oder beim Ausfädeln, zwanzig Sekunden nach hinten gezogen wurde, und deshalb wurden diese zwanzig Sekunden gelöscht, wenn man das Bandmaterial spulte, stoppte und erneut eine Aufnahme startete. Das erklärte, warum beim Reitturnier einige kleine Stellen fehlten, aber es war natürlich keine Entschuldigung für unser Versagen auf der Party. Trotzdem erleichterte es mich. Ich konnte dem Camcorder zumindest eine Mitschuld anhängen und von mir ablenken. Das versuchte ich sofort, als Maria nochmal zu uns kam. Sie fragte, ob wir gerade löschten oder was Konstruktives machten. Die Kamera ist schuld, rief ich und es schien sie zu freuen. Obwohl der launische Chef nichts von unseren Problemen wusste, hatte er gesagt, dass vom Turnier nur eine Kurznachricht gesendet werden solle, weil wir einen anderen Beitrag dringend auf Sendung bringen müssen, damit der Werbekunde nicht sauer werde. Ich atmete auf und Ulrich sagte, eine Kurznachricht könne er uns schnell zusammenhacken, inklusive Maria auf dem Pferd, auch wenn das mit dem zerstückelten Material und den daraus resultierenden Timecodesprüngen etwas komplizierter sei als sonst. Ich hätte gerne ein paar spöttische Bemerkungen gemacht, zu diesen vielen Widrigkeiten, die angeblich den Cuttern das Leben erschweren, dabei sitzen die doch immer im Warmen, amüsieren sich über die Fehler der anderen und das wichtigste Ziel ist es, die vielen Knöpfe ihrer Schnittsteuerung so schnell zu bedienen, dass kein Außenstehender es jemals begreifen wird, was sie da überhaupt machen. Als Kameramann war man angreifbarer, wenn da was schiefgeht, war es im schlimmsten Fall unwiederbringlich verloren, so wie Marias Pferdeaufnahmen. Die paranoide Angst, ich gehe irgendwo hin und filme, aber dann, wenn ich zurückkehre, ist nichts auf den Bändern, oder das falsche, oder ich schaffe es gar nicht, bis zu dem Ort zu kommen, wo ich die Aufnahmen machen soll, ließ im Lauf der Jahre nach, machte sich aber in schwachen Momenten immer wieder bemerkbar. Diesmal kam ich trotz allem glimpflich davon, stattdessen war es Maria, die eine kritische Bemerkung vom Chef über sich ergehen lassen musste. Das war nicht fair, quasi ein Kollateralschaden der Bemühungen von meinem Versagen abzulenken. Denn bei der Abendbesprechung hielt ich einen geschwätzigen Vortrag darüber, dass man mit den neuen Camcordern höllisch aufpassen musste, weil sie, wie ich herausgefunden hätte, bis zu 20 Sekunden löschen würde, wenn man im Material herumspult. Das hatte noch nicht mal der uncoole Kameramann gewusst und der Chef bedankte sich für meine gewissenhafte Technikkontrolle, ohne zu fragen, wieso ich diese Tests eigentlich gemacht hatte. Die Kurznachricht über das Pferdeturnier wurde dann erst im weiteren Verlauf der Besprechung vom Chef als ziemlich unzusammenhängender Mist beschimpft, wobei er Maria als Sündenbock ausmachte und ihr empfahl, sie solle nicht selber reiten, wenn sie fürs Fernsehen unterwegs sei. Mein peinliches Versagen blieb dabei unerwähnt, Maria und Ulrich, die als einzige davon wussten, hielten die Klappe und ich sagte auch nichts.

17
Der Chef konnte ein ziemliches Ekel sein, deshalb waren wir uns untereinander immer einig, dass er an allem schuld sei. Auch in Fällen von unbestreitbarem Fehlverhalten, wozu zweifellos mein gelöschtes Pferdematerial gehörte, galt die alles umfassende Standardausrede, dass wir viel zu wenig Geld bekämen und viel zu viel Überstunden leisten müssten und der ganze Laden ein Ausbeuterparadies erster Güte sei. Drastische Pannen könnten unter den bei uns herrschenden Bedingungen nicht grundsätzlich vermieden werden. In der Livesendung gab es manchmal falsche Einblendungen, falsche Beiträge oder falsche Blueboxbilder. Aber meistens klappte es am frühen Abend eine fertige und fehlerfreie Sendung live in das Kabelnetz einzuspeisen, obwohl wir ein zusammengewürfelter Haufen von Praktikanten und Quereinsteigern waren. Jeder hatte seinen Stolz und wollte seine Aufgaben erfolgreich erledigen. Wir fanden unsere Sendung schwachsinnig, die Zuschauer doof und der Chef löste manche Hassattacke bei uns aus. Trotzdem kamen wir pünktlich und arbeiteten bis in den Abend, wenn es notwendig erledigt.
Mir genehmigte der Chef nach drei Monaten die erste Gehaltserhöhung, die mich von einem niedrigen auf einen mittleren Praktikantenlohn anhob. Maria ging nach dem Ende der Semesterferien zurück in die Universität, aber weil es bei uns viel zu tun gab, machte sie im Nebenjob als Reporterin weiter. Wenn wir beide zum Dreh fuhren, waren wir ein eingespieltes Team, auch wenn wir keine Versuche mehr unternahmen, die Freizeit gemeinsam zu verbringen. Weder Pferdemädchengrillpartys noch Kaffeetrinken in meinem Lieblings-Alternativcafé für Systemkritiker. Nur einmal genehmigten wir uns eine gemeinsame Flasche Wein. Es war wieder ein Wochenende, diesmal ein Sonntag, an dem wir drehen mussten. Es ging um den stärksten Mann der Welt, der für einen wohltätigen Zweck auf einem Volksfest ein ganzes Kinderkarussell hochheben wollte. Der Erlös sollte dem Kindergarten in dem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt galt, zugutekommen. Es war zu erwarten, dass wir das schnell erledigten. Wenn die Einsätze nicht lange dauerten, kamen sie mir manchmal vor wie ein Familienausflug. Zuvor saß ich zu Hause, wir tranken im Hof Kaffee: Gitarren-Hans, Tina und die blonde Bedienung, die zu dem Zeitpunkt immer noch meine Geliebte war. Dann klingelte das Telefon. Diejenigen, die meistens anriefen, waren alle da. Als ich zum Telefon ging, dachte ich, es sei bestimmt Maria, die mir irgendeine Terminänderung mitteilen wollte, aber sie war es auch nicht, sondern Martin. Der hatte nichts mehr von sich hören lassen, seit er damals auf der Party an der Löschung des Videomaterials beteiligt gewesen war, es herrschte Funkstille zwischen uns beiden. Abends, nach der Arbeit, hatte ich ihm damals schwere Vorwürfe auf den Anrufbeantworter gesprochen. Letztendlich kam ich zu der Einsicht, dass ich selbst schuld gewesen sei. Als Kameramann hat man auf die Kamera aufzupassen, auf das gefilmte Material ebenfalls. Aber Martin hätte sich durchaus entschuldigen können. Wenn er sich entschuldigt hätte, hätte ich ihm gesagt, dass ich es nicht mehr schlimm fand und es sowieso keinen nennenswerten Schaden angerichtet hatte.
Als er dann an jenem Samstag anrief und mir sagte, dass der falsche Film weg sei, wusste ich erst gar nicht, was er mir sagen wollte, denn so, wie ich es verstand, ging es darum, dass mein Super-8-Film „Der falsche Mann zur falschen Zeit im richtigen Film“ verlorengegangen sei und das konnte nicht sein, der Film war ein Unikat, es gab ihn nur als einzelnes Exemplar, es existierte nicht einmal eine schlechte Videokopie und er war erst zwei Mal in der Öffentlichkeit gezeigt worden, bei der Premiere und in unserer Scheune. Wenn er verschwunden wäre, gäbe es ihn nicht mehr und das wäre eine absolute Katastrophe, doch je länger ich auf Martin einredete und ihn fragte, ob das ein Witz sei, ob er mich verarschen wolle oder das Verschwinden des Filmes als Kunsthappening oder Performance zu inszenieren beabsichtige, desto klarer wurde, dass ihm der Film schlicht und ergreifend in der U-Bahn gestohlen worden war.
Die ganze Tüte sei entwendet worden, in der sich leider auch noch unglaublich wichtige Disketten befunden hätten, wobei ich mir gar nicht vorstellen konnte, was auf diesen Disketten hätte gewesen sein können, damit sie auch nur halb so wichtig wie mein unwiederbringlicher, unersetzlicher falscher Film waren. Digitaler Kram kann doch einfach noch einmal kopiert werden, aber mein Film, der darf nicht weg sein, maulte ich Martin durchs Telefon an und er gab zu, dass die Disketten Daten enthielten, die er sträflicher weise nirgends gesichert hätte, da sei ihm jede Menge Arbeit verlorengegangen, die er dann ganz schnell, in durchgemachten Nächten, nochmal reinstecken musste, um seine Semesterarbeit zu retten, aber gleichzeitig sei er ja auch zur Polizei und zum Fundamt gerannt und habe alles probiert, alle verrückt gemacht, wegen seiner geklauten Aldiplastiktüte. Ja, es sei tatsächlich eine banale Aldiplastiktüte gewesen, die ihm gestohlen worden sei, aber ohne Whiskey, Wein oder Zigaretten, nur ein paar Bücher und eine Jacke für den Abend und, wie gesagt, der Film und die Disketten. Ich solle mir nicht vorstellen, dass er die Aldiplastiktüte flaschenklappernd durch die U-Bahn getragen hätte, da würde man die Diebe anlocken wie die Motten mit Licht, es sei wirklich keine Fahrlässigkeit gewesen. Er wäre auf dem Weg zu einem total engagierten Hinterhofkino gewesen, wo er schon zwei Mal mit dem Programmdirektor gesprochen habe wegen dem falschen Film und jetzt hätten sie sich den Film anschauen wollen, aber da war plötzlich die Tüte weg. Einfach verschwunden! Da war auch ein Musiker in der U-Bahn, vielleicht hatte der ihn abgelenkt, vielleicht auch nicht, es sei ihm ein Rätsel, wie das habe passieren können und er entschuldige sich, obwohl er wüsste, dass es dafür keine Entschuldigung gab. Er halte es für einen entsetzlichen Verlust und dann sei er verdattert vor dem Programmdirektor gestanden, der eigentlich auch nur ein erfolgloser Filmemacher sei und habe sagen müssen, dass er den Film soeben verloren habe, was den Programmdirektor fast zu Tränen gerührt habe. Er habe gefragt, ob es eine Kopie gäbe und Martin antwortete nein und er habe gefragt, ob es eine Videoabtastung gäbe und Martin sagte wieder nein, also sei es das alleinige Original und Martin sagte ja und da empfände er natürlich ein wahnsinniges Mitgefühl mit ihm, und sie bekamen einen riesen Hass auf diese Junkies, die überall alles wegklauten, nur um ihre dreckigen Drogen zu bezahlen und das Verheerende sei ja, dass so ein Junkie, aber auch jeder andere Dieb überhaupt keinen Nutzen von so einer Super-8-Spule mit dem tollen Film habe, der schmeißt das bestimmt in den nächsten Mülleimer oder in die Spree. Es sei denn, er versucht, ihn auf dem Flohmarkt zu verkaufen, dann könnte der Film vielleicht wieder auftauchen, oder gerät an einen Sammler, vielleicht sogar einen Produzenten.
Martin verstummte, ich fragte: Und jetzt? Er antwortete, er hätte schon alles versucht, aber er würde auch weiterhin alles versuchen, nochmal zum Fundbüro gehen oder nochmal zur Polizei und auch zum Flohmarkt und schauen, ob jemand meinen Film anbiete, er kenne da ein paar Händler, aber, das müsse er gestehen, die Chancen seien so gut wie null Komma null null null. Da gab ich ihm Recht. Der Film war futsch und Martin ein Idiot. Das sagte ich ihm und haute den Hörer hin. Die anderen hatten aufgrund meiner erregten Antworten schon verstanden, dass irgendwas Schlimmes passiert sei, aber ich musste los, ich warf ihnen nur ein paar Halbsätze hin, der Film ist futsch, durch Martins Schuld. Im Gehen schnappte ich mir Jacke und die Mütze und fuhr mit dem klapprigen Kleinbus davon. Unterwegs regte ich mich zuerst allein über Martin auf, dann stieg Maria ein. Sie musste sich alles anhören, meinen Ärger, meine Wut und so viel Negatives, was mir zu Martin einfiel. Jetzt band ich Maria auch auf die Nase, dass vermutlich Martin die Hauptschuld daran trug, dass das wahnsinnig gute Material vom Reitturnier, das ich ihr zuliebe mit besonders viel Mühe gedreht hatte, verlorengegangen sei. In meiner Erregung drehte ich mir alles so zurecht, wie ich es gerade brauchte. Es ging nur darum, meine Wut zu rechtfertigen. Martin war weit weg, Maria ganz nah und eine geduldige Zuhörerin. Ich nutzte die Gelegenheit und entschuldigte mich bei ihr dafür, dass ich die Vorwürfe des Chefs damals auf ihr sitzen ließ und schon schimpfte ich weiter über Martin, den Blödmann.
Wir erreichten das Stadtteilkinderfest genau zur richtigen Zeit, denn der stärkste Mann der Welt fing seinen Rekordversuch genau in dem Moment an, als die Kamera drehfertig in der Stativplatte einrastete. Er, ein mehrfacher Olympiamedaillengewinner, stieg auf das hohe Podest, warf sich riesige Gurte über die Schulter und zog dann das Karussell mit den 12 Kindern, was summa summarum 462 kg Gewicht ergab, für 30 Sekunden ein paar Zentimeter nach oben, so dass es sich einmal im Kreis drehte, die Kinder jubelten, dann stieß er ein gigantisches Stöhnen aus und setzte das Karussell wieder ab. Die Zuschauer klatschten, irgendein Sponsor übergab der Kindergartenchefin den Scheck über 4.620 Deutsche Mark, wir interviewten den Gewichtheber, fertig. Das alles bei fantastischem Herbstwetter mit einem dunkelblauen Himmel zwischen großen Bäumen, deren Blätter in einem kräftigen Grün leuchteten.
Beim Einladen der Technik wurden wir daran erinnert, dass wir eine Kiste mit Weinflaschen im Wagen hatten, die uns ein Werbekunde bereits einige Tage vorher mitgegeben hatte. Weil wir beim Ausladen immer die Hände mit der Kameratechnik voll hatten, war sie im Auto geblieben. Wir nahmen uns eine Flasche, holten uns vom Kinderfest Pappbecher und spazierten dann am Parkplatz vorbei zu einer kleinen Wiese mit Grillplatz, von der man einen wunderbaren Blick auf die Stadt hatte, die vor uns im Tal lag. An den Hängen des Tals die Weinberge, aus denen der Wein stammte, den ich gerade entkorkte. Maria und ich ließen den Blick über die Stadt schweifen und redeten über die vielen Orte, an denen wir schon gedreht hatten. Mir fiel beim Blick auf die Stadt zum ersten Mal auf, wie unglaublich viele Kirchtürme zwischen den Häusern in die Höhe strebten. Aber wir befanden uns noch weiter oben, an der Kante, wo der Hang des Tales in die Ebene übergeht. Ich fand, dass Maria an dem Tag besonders gut aussah und besonders nett zu mir war. Wir saßen nebeneinander, wegen des Blicks in das Tal. Nachdem wir mehrmals nachgeschenkt und die Weinflasche geleert hatten, waren wir soweit zueinander gerückt, dass wir uns berührten. Damit war allerdings der Höhepunkt an Intimität zwischen uns erreicht, nicht nur in Bezug auf diesen Tag. Wir brachen auf, um die Technik ins Studio zu bringen, von dort wollte sie zu Fuß in ein Café gehen, wo ihr Freund auf sie warten würde. Ich fuhr aufs Dorf und zu Hause nahm ich noch eine Flasche aus dem Auto, trank sie mit Tina und am Abend blieb ich lang in der Kneipe, in der meine Geliebte hinter der Bar stand. Der Abend war ruhig, ein Sonntagabend eben, aber ein paar Gäste waren dann doch so hartnäckig, dass ich den Thekenschluss nicht schaffte und allein mit dem Fahrrad nach Hause fuhr.
Am nächsten Morgen wäre ich gern liegen geblieben. In der Hoffnung, es könnte ein ruhiger Tag werden fuhr ich zur Arbeit. Dort empfing mich Maria hektisch mit der Neuigkeit, dass der heilige Liborius wieder aufgetaucht sei, aber niemand wusste, wo er war. Zwar gab es ein Fax der Polizei, in dem mitgeteilt wurde, die Reliquie sei in einer Kirche gefunden und zur Polizei gebracht worden, aber als wir sie filmen wollten, hieß es, die Reliquie sei nicht, oder nicht mehr im Polizeipräsidium. Auch im Dom und bei der Kirchenverwaltung wusste zunächst niemand Bescheid. Schließlich stellte sich heraus, dass sich die Reliquie bei einem Goldschmied befand, der sie im Auftrag der Kirche überprüfen und reinigen sollte. Da zog mich Maria hinter sich her, damit wir die ersten seien, die den verschwundenen Liborius vor die Linse bekämen mitsamt einem Statement des offiziellen Bistumsgoldschmiedes. Der war auch ganz aufgekratzt, aber empfing uns freundlich, denn es war ja ein Glückstag! Nicht nur für ihn, sondern für alle Bürger der ganzen Stadt, weil nun die Reliquie zurückgekehrt sei, weil der Dieb durch die Gebete der Gläubigen sich seiner Verfehlung bewusst und reumütig geworden sei und das Reliquiar in einer Plastiktüte in einer Stadtteilkirche abgelegt hätte, genaugenommen soll es eine Aldiplastiktüte gewesen sein, fügte der Goldschmied hinzu und erging sich, ohne eine Zwischenfrage zuzulassen, in einer langen Ausführung über das fromme Leben und das Leiden des seligen Liborius, der den Peinigungen seiner Widersacher mit Gottesfurcht und Standhaftigkeit entgegengetreten sei, dessen Rückenwirbel zum Zeichen der Standhaftigkeit in Perlen, Diamanten und Gold gefasst seien, vielleicht aber auch in etwas anderem, denn es folgten unglaublich viele Details, die ich mir nicht merken konnte und die, wie ich dem Zählwerk meiner Kamera entnehmen konnte, stolze 11 Minuten lang waren. Er beendete seine Rede mit der Aussage, er selbst sei der festen Überzeugung, dass für das Wiederauffinden der Reliquie der starke Glaube der Gemeindemitglieder und die Standhaftigkeit des Heiligen ausschlaggebend waren. Nun wusste ich also, woran es mir mangelte.

3. Abschnitt: 16mm

18
Der Winter kam und das Leben wurde anstrengender. Mit dem Fahrrad zwischen Stadt, Bahnhof und Dorf hin und her zu fahren machte bei Kälte keinen Spaß und wenn ich dann nach Hause kam, war es ungemütlich, weil unser Gehöft nur in der guten Stube und in der Küche ordentlich zu beheizen war. Obwohl die Arbeit den Reiz des Neuen inzwischen verloren hatte, empfand ich es als spannende Herausforderung, die reale Welt mit der Kamera so einzufangen, dass ich dies als ästhetische Aufwertung sah. Also, vereinfacht gesagt: Wenn meine Bilder schöner waren, als die Realität, dann war ich zufrieden. Das ist Jahrzehnte später immer noch die gleiche Problemstellung und es bleibt eine anspruchsvolle Aufgabe, an der man sich beweisen kann und die mich immer noch beschäftigt. Aber zum Glück nicht in der Fließbandarbeitsweise wie damals beim Lokalfernsehen, wo ein Termin den nächsten jagte. Wo die Mitarbeiter ständig wechselten. Wo man es kaum schaffte, eine private Verabredung einzuhalten, weil so oft unerwartete Termine dazwischenkamen.
In unserer Scheune war immer noch kein Kulturzentrum entstanden, aber ein notdürftig eingerichteter Proberaum, in dem Gitarren-Hans mit Tina und einigen anderen Musikern eifrig übte. Die Akustikgitarre hatte Hans an den sprichwörtlichen Nagel gehängt, er sang jetzt in Englisch und Tinas Brumm-Synthie passte nicht so richtig zum restlichen Sound. Es gab immer wieder Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden, was aber bestimmt nicht nur am Sound lag, sondern vermutlich an der ungeklärten Hierarchie, wer diesen Sound zu bestimmen habe. Wenn eine Beziehungskrise angesagt war, kam Tina abends zu mir und wir unterhielten uns über die Welt und andere Banalitäten. Wenn es hingegen gut mit den beiden lief, sah ich sie oft tagelang gar nicht. Als es im Januar und Februar noch kälter wurde, wollte niemand mehr in der Scheune proben und Tina blieb oft mehrere Tage lang in der Wohnung von Gitarren-Hans. In der Szenekneipe lies ich mich mit beginnendem Frühling nicht mehr blicken, weil die blonde Bedienung die Nase voll von meiner Unverbindlichkeit hatte. Sie fragte mich an einem Abend ganz unerwartet, was ich von ihr will und weil mir keine romantische Antwort einfiel, schwieg ich. Daraufhin holte sie sich ihre Zahnbürste aus dem Bad und ging. Vielleicht schlief sie jetzt mit einem anderen oder verzichtete erst einmal auf Sex. Ich verbrachte also viele Abende allein in unserem Gehöft.
Wenn ich mich an die Schreibmaschine setzte, um etwas Geistreiches oder Konzeptionelles zu schreiben, fielen mir meist nur unzusammenhängende Kleinigkeiten ein, es fehlte entweder an Konzentration oder an Inspiration. Darum zeichnete ich viel, zeichnete Blatt für Blatt eines kritzeligen Animationsfilmes. Das war nach der anstrengenden Arbeit beim Lokalfernsehen eine gute Entspannung. Beim Zeichnen musste ich ab und zu eine neue Szene entwerfen, das war der anstrengende Teil, aber danach vergingen etliche Stunden oder Tage mit der routinehaften Ausarbeitung. Ich zeichnete mit Füller und verwendete Schreibmaschinendurchschlagpapier, das damals noch überall billig zu haben war. Weil das Papier so dünn war, wuchs der Stapel mit den fertigen Bildern sehr langsam.
Nebenbei hatte es geklappt, einige Filmabende mit Lesung zu organisieren, also eine Mischung aus meinen Filmen und Texten. Die Idee dazu war mir gekommen, weil mir der „Falsche Film“ fehlte. Das Filmprogramm mit denjenigen Filmen, die mir gefielen und gut zusammenpassten, war zu kurz. Dann stellte sich heraus, dass meine Kurzgeschichte, die sich mit dem unrühmlichen Ende des verloren gegangenen Filmes beschäftigte und die Auszüge aus dem Drehbuch, die ich vortrug, viel besser beim Publikum ankamen als der Film selbst.
Durch Zufall ergab es sich, dass ein Kontakt nach Berlin zustande kam, genau zu jenem Hinterhofkinoprogrammdirektor, der in Martins Anwesenheit den Verlust des falschen Filmes mit echter Anteilnahme beweint hatte. Ich lernte seine Schwester, die ganz in meiner Nähe in Süddeutschland lebte, bei einer meiner Lesungen kennen. Wir unterhielten uns nach meinem Programm angeregt erst über meine, und dann über die damals angesagten intellektuellen Filme, die ich zum größten Teil nicht gesehen hatte, über die ich aber trotzdem genügend wusste, um mitreden zu können. Schließlich versuchte ich das Gespräch so zu lenken, dass sie mir ihre Telefonnummer geben würde, aber dann erwähnte sie das Hinterhofkino ihres Bruders in Berlin und letztendlich kam ich in beiderlei Hinsicht voran: mit ihr traf ich mich danach immer wieder in unserem ambitionierten Kleinstadtkino und gleichzeitig vermittelte sie mir den Kontakt zu ihrem Bruder, was bewirkte, dass wir einen Filmabend an einem Samstag im Sommer organsierten. Als der Termin festgelegt war, ging ich gleich zum Chef und sagte, dass ich an dem Wochenende auf keinem Fall arbeiten könne, irgendwann muss man auch mal Urlaub haben. Er nickte nur und tat so, als würden wir doch sowieso frei über unsere Zeit verfügen. Inzwischen war ich seit fast einem Jahr dabei, hatte noch eine zweite Lohnerhöhung bekommen und gehörte wegen der hohen Fluktuation tatsächlich schon zum angestammten Personal.
Diesmal wollte ich mit dem Zug nach Berlin fahren, denn die Autobahnstrecke durch die neuen Bundesländer entwickelte sich gerade zur Endlosbaustelle und Trampen verlor zunehmend an Sozialprestige, was mich nicht weiter gestört hätte, aber da ich gleich am Freitag nach der Arbeit los wollte, bot es sich an, mit dem Bummelzug zu starten und dann in einen Nachtzug umzusteigen. Damals gab es in den sogenannten D-Zügen sechssitzige Abteile, die man zu einer großen Liegewiese zusammenschieben und dann die Vorhänge zuziehen konnte. Wenn man eines der Abteile ergattert hatte, war das Reisen sehr komfortabel. Zunächst standen Tina und ich ratlos im Flur. Wir zogen einige Türen auf, aber in jedem Abteil kauerten entweder südeuropäisch wirkende Großfamilien oder bunt zusammengewürfelte Reisegruppen. Platz gab es für uns anscheinend keinen. Schließlich setzten wir uns in den Flur auf die Klappsitze und rauchten erst einmal.
Tinas Entschluss, mich zu begleiten, war schnell und spontan gefasst worden. Am Mittwoch hatte sie mich gefragt, was ich am Wochenende tun wolle, am Donnerstag sagte sie mir, dass sie mitkomme. Sie werde bei einer alten Freundin übernachten und gemeinsam mit der Freundin wolle sie zu meiner Filmvorführung kommen, da die Freundin nur ein paar Straßenecken entfernt vom Hinterhofkino wohne und selbst auch einen Film zu drehen beabsichtige. Dann soll sie es versuchen, sagte ich mit leichter Boshaftigkeit. Womöglich war es eine von denen, die glaubten, sie müssten die Kamera nur in die Hand nehmen und könnten dann alles besser. Nein, das würde ihre alte Freundin bestimmt nicht denken, sie wisse nicht mal, wie die Kamera funktioniere, und Tina solle mich mitbringen, weil sie erstmal herausfinden müsse, was da für Filme reingehörten. Oh Gott, die weiß also gar nichts, da muss sie sehr hübsch oder sehr nett sein, damit ich sie in die Geheimnisse des filmischen Filmens einweihe. Das ist sie, beteuerte Tina, ohne auf meine Provokation einzugehen, und sie, Tina, würde dann Kamera führen, wenn ich herausgefunden hätte, was für ein Format es sei. Aha, und wann soll das alles stattfinden, vor allem wo, und mit wem?
Mal sehen, sagte Tina, dann musste sie aufstehen, ein schlaksiger junger Kerl mit wirren Locken und einem riesigen Rucksack wollte an uns vorbei. Hinter ihm seine kleine Freundin, die den größeren ihrer beiden Rucksäcke auf dem Rücken und den kleineren vor dem Bauch trug, außerdem noch eine Jutetasche in der Hand. Obwohl sie kaum durch den engen Gang passte, schaffte sie es dann doch, sich an uns vorbei zu quetschen. Tina wollte sich schon wieder auf den Klappsitz fallen lassen, aber erst einmal mussten wir prüfen, wo die beiden herkamen. In der Tat stellte sich heraus, dass sie ein ganzes Abteil für sich alleine gehabt hatten, alle Sitze zusammengeschoben, die Gardinen zugezogen. Wir sprangen schnell rein. Als der Zug am Bahnhof hielt, lagen wir unter unseren Schlafsäcken und taten so, als seien wir schon seit Stunden im Tiefschlaf. Es stiegen nur wenige Reisende ein, niemand interessierte sich für unser Abteil und so blieben wir allein.
Wir hätten die besten Bedingungen gehabt, gut zu schlafen, ohne Aufpreis und ohne Reservierung, aber wir taten es nicht, stattdessen beschwerte sich Tina darüber, dass unser Leben auf dem Land langweilig sei, dass sie keine Lust mehr hätte, an der Theke meiner ehemaligen Lieblingskneipe zu stehen und den völlig verblödeten Trinkern, die dort allabendlich herumlungerten, ihre traurigen Dorfalltagsneurosen zu therapieren, dass ihr auch Gitarren-Hans eigentlich am Arsch vorbei ginge. Seine selbstgefällige Weltverbesserungsinszenierung diene nur seinem auf Dur und Moll getrimmten Ego, aber sie würde sich ja immer in die falschen Typen verlieben, die falschen Freunde haben, Freunde, die entweder teilnahmslos und antriebsschwach wären, oder angepasste Spießer und eigentlich sei ich es doch gewesen, auf den sie immer ihre Hoffnung gesetzt hätte, ich und meine Filme, da wäre doch so viel Wahrheit drin gewesen, in den Dialogen, wenn man genau hinhöre und sie verstehe. Vieles sei einfach nur Unfug und witzig, aber sie habe die Filme schon so oft gesehen, sie wisse, dass da mehr drinstecke als eine billige Aneinanderreihung von Gags, das sei nicht nur Komikerhandwerk, wie es die Unterhaltungs- und Fernsehbranche tagtäglich ausspucke. Die Filmemacher, die Filme fürs Fernsehen oder fürs Kino machten, seien, mit wenigen Ausnahmen, nur Handwerker, die ihr Handwerk dazu benutzten, den emotionalen Gaumen der Zuschauer im richtigen Rhythmus zu kitzeln, eine Prise Humor, ein bisschen Gesellschaftskritik und ein fetter Batzen Spannung, oder, noch schlimmer, „Action“, das sei doch alles nur eine industrielle Instrumentalisierung unserer Gefühle, um uns dann ein Happy End überzustülpen wie wärmende Filzpantoffeln.
Sie habe es so sehr genossen, als Martin in der „Rückbesinnung“ den schönen Satz: „Was ich nicht bemerke, gibt es nicht.“ gesagt habe. Das werde mich vielleicht wundern, dass gerade dieser Satz solch eine Wirkung auf sie gehabt habe, aber es sei nicht der einzige gewesen, viele Sätze in meinen Filmen schienen ihr wie ein Ausgang aus der Scheinwelt, in der wir behütet und ruhiggestellt vor uns hinlebten, ein Ausgang hinein in eine andere Welt, die eine Essenz dessen sei, was wir fühlten, was wir liebten, was uns in den Wahnsinn treibe, diese Gefühlsverwirrung, die wir für das einzig Erstrebenswerte hielten. Lieber ein vergeblicher kreativer Kampf, als diese Konsumendlosschleife, in die wir langsam aber sicher hineindriften, unauffällig, unbemerkt, ungebremst. Wir müssen die Reißleine ziehen! Wie soll denn das gehen, das ist doch völlig irreal, das ist doch esoterisch, warf ich ein, doch sie war nicht zu bremsen, das muss gehen, mit echter Emotionalität! Das muss es gar nicht! Sie widersprach hartnäckig. Sie glaube nicht, dass ich nicht daran glauben würde. Oder hast du schon alles vergessen? Was sollte ich vergessen haben? Ich wusste es nicht, ich wusste gar nicht, was ich glaubte, aber vermutete, dass Tina das Zitat, von dem sie redete, ganz anders verstand, als ich es gemeint hatte. Beruhte ihre Begeisterung zu meinen Texten auf einer falschen Interpretation. Sollte ich ihr das sagen und sie desillusionieren. Dazu kam es nicht, sie brach die Diskussion ab, drückte ihren Körper an meinen und küsste mich.
Unsere Zungen umschlangen sich, als könnten sie die mangelnde Übereinstimmung unserer Gedanken wieder wettmachen, die Hände schoben sich unter die Unterhemden, in die Unterhosen. Tina hatte einen unvorstellbar sanften Hintern, der sich fantastisch anfühlte. Sie küsste mich immer noch leidenschaftlich und ich dachte mir, dass wir jetzt miteinander schlafen müssten, denn es könnte sein, dass sich nie wieder im ganzen Leben die Gelegenheit bieten würde, im Zug Sex zu haben und alle davorliegenden Gelegenheiten, es waren ganz wenige, hatte ich ungenutzt verstreichen lassen. Das dachte ich damals, obwohl ich gar nicht wissen konnte, dass sich der Schienenverkehr immer mehr zu individualisiertem Reisen in Großraumabteilen entwickeln würde, wo alle nur noch in ihre mitgebrachten Laptops und Tablets hineinschauen. Was Tina dachte und wollte, versuchte ich zu verstehen, doch ich kam zu keinem Ergebnis. War es Sehnsucht? Ihre Sehnsucht, der bösen Realitätswelt zu entkommen, die sie in meine Arme trieb? Waren es meine Vorurteile und mein mangelndes Einfühlungsvermögen, die mir die Vermutung nahelegten, Tina beginge gerade den fatalen Fehler, dass sie Liebe als Handlungsoption sah, um der schlechten Welt zu entkommen und dann, wiederum falsch, Sex mit Liebe gleichsetzte? Auch die Liebenden bleiben in der schlechten Welt drin, müssen drinbleiben, es gibt kein Entkommen. Vielleicht leiden sie sogar noch mehr? Aber das waren nur wirre Gedankenfetzen, während ich zur Kenntnis nahm, dass sich nun tatsächlich Sex im Zug anbahnte, der dann etwas fahrig, aber weitgehend ruhig vollzogen wurde. Als sich der Zug verlangsamte und verdächtig viele Lichter vor dem Fenster vorbeihuschten, zog ich mir meine Unterhose wieder an. Das musste mal sein, sagte Tina, und ich rätselte: Musste es mal mit mir oder musste es mal im Zug sein?

19
Weil unser Zug früh um sieben ankam, und ich Martin, den notorischen Langschläfer nicht wecken wollte, begleitete ich Tina zu ihrer „alten“ Freundin, die auffallend klein und ein paar Jahre jünger war als wir. Sie hieß ebenfalls Tina. Die beiden kannten sich aus irgendeinem gemeinsamen Urlaub und durch die danach geführte Brieffreundschaft. Die kleine Tina öffnete uns die Tür mit betont müdem Blick, bekleidet nur mit einem riesigen Schlaf-T-Shirt. Gleich beim Kaffeetrinken kamen wir auf die Kamera zu sprechen. Die kleine Tina verschwand kurz in ihrem Zimmer. Als sie zurückkam, brachte sie eine Ledertasche mit, die unten flach, aber oben halbkreisförmig abgerundet war und ausgesprochen elegant aussah. Tina hatte sich eine schwarze Strumpfhose angezogen, im Schneidersitz saß sie auf dem Stuhl, die Tasche auf ihrem Schoß. Sie gehörte zu den Frauen, die in der Küche nicht auf dem Stuhl sitzen, sondern kauern, also immer mindestens ein Bein auf der Sitzfläche ablegen, aber meistens beide.
Sie öffnete die Tasche mit einem breiten Grinsen, das uns auf die Überraschung vorbereiten sollte und sagte, was sie gerade tat. Also: Ich öffne jetzt die geheimnisvolle Ledertasche. Ihr könnt aber nichts sehen, denn die geheimnisvolle Kamera ist in einem schwarzen, samtenen Tuch eingeschlagen. Dann holte sie die eingeschlagene Kamera heraus und faltete feierlich das Tuch zurück, immer noch mit Erklärungen wie im Kindertheater. Dann hob sie die letzte Ecke des Tuches und vor uns blitzte eine Beaulieu-Kamera im Licht der Küchenlampe. Die Kamera sah so funkelniegelnagelneu aus, dass die große Tina und ich wirklich staunten, zumal das fremdartige, französische 60er-Jahre-Design den totalen Gegensatz zu meinen beiden eckigen Super-8-Kameras, aber auch zu allen anderen Geräten und Dingen unseres Alltags darstellte.
Darf ich? fragte ich nach einer angemessenen Bewunderungspause, streckte die Hand aus, nahm ihr die Kamera ab. Sie war ganz schön schwer. Das bestätigte meinen Verdacht. Und was muss da nun rein? Normal oder Super? Nichts von beiden! Noch zweifelte ich an meiner Vermutung, weil ich mich mit den französischen Kameras nicht auskannte, aber dann öffnete ich vorsichtig den Deckel und sah die Spule und die Perforationsgreifer vor mir. Das war weder Super- noch Normal-8, sondern eine 16-mm-Kamera. Beim genauem Hinsehen konnte man lesen, dass die mit elegant geschwungenen Plastikbuchstaben angebrachte Bezeichnung der Kamera Beaulieu 16R lautete.
Was bedeutet das? fragte Tina etwas verzagt, offensichtlich eingeschüchtert von meinem bedeutungsschwangeren Tonfall. Ist das gut oder schlecht? Sie zog beide Knie vor die Brust, zündete eine Zigarette an, ihr Blick pendelte zwischen mir und der Kamera hin- und her. Das ist toll! sagte ich, da kann man eine viel bessere Qualität erzielen als mit Super-8. Dabei betastete ich die schönen, blitzenden Transporträder des Kameralaufwerkes. Tinas Großonkel, aus dessen Nachlass die Kamera stammte, hatte sie offensichtlich so gut wie nie benutzt. Die simple, aber präzise Mechanik versetzte mich in Euphorie, zumal ich mich an den schmerzlichen Totalverlust meines falschen Filmes erinnerte. Super-8-Material ist Umkehrfilm, so wie ein Dia, erklärte ich. Wobei die Bezeichnung Umkehrfilm irreführend ist, denn im Umkehrfilm ist nichts umgekehrt, sondern alles ist richtig herum, umgekehrt wird nur das Negativ. Die kleine Tina stülpte ihr T-Shirt über die Beine und zog die Arme durch die Ärmel an den Körper, so dass sie unter ihrem großen Schlaf-T-Shirt wie unter eine Plane versteckt war. Ich überlegte, wie ich meine Erklärungen beginnen sollte, damit die beiden Tinas verstehen könnten, worauf ich hinauswollte. Deshalb versuchte ich es nochmal ganz langsam: Wenn man einen sogenannten „normalen“ Film entwickelt, dann erhält man das Negativ und das Negativ ist der Film, der tatsächlich in der Kamera drin war. Von diesem Negativ macht man Abzüge, die wiederum negativ zum Negativ sind, also positiv. Beide Tinas nickten. Beim sogenannten Umkehrfilm wird ein anderer chemischer Entwicklungsprozess angewandt, der das Material, das in der Kamera war, direkt zum Positiv entwickelt. Der Super-8-Film, der zunächst in der Kamera belichtet wird ist derselbe, der später im Projektor an die Wand geworfen wird. Ein Unikat, und deshalb hat man gar nichts mehr, wenn der Film verlorengegangen ist, nur die Erinnerung.
Für die kleine Tina erzählte ich ausführlich die Geschichte von Martin, dem die Tüte mit meinem falschen Film in Berlin verlorengegangen war, wobei Martin vermutlich sogar direkt vor Tinas Haus vorbeigekommen sein musste, da sich das Hinterhofkino nur ein paar Blocks weiter befand und natürlich, so erzählte die kleine Tina, schaue sie dort immer wieder absonderliche Filme, die sonst nirgendwo zu sehen seien. Mit betroffenem Gesicht hörte sie sich an, dass mein Film rückstandslos für immer verschwunden sei. Dann stand sie auf, nahm sich die Strickjacke aus dicker Wolle vom Haken an der Küchentür, zog sie an und verschwand fast darin. Ich blickte wieder auf die 16-mm-Kamera, die ich immer noch geöffnet auf den Oberschenkeln liegen hatte, spielte mit dem kleinen Türchen für die Bildfensterabdeckung, zeigte den beiden Frauen diesen Mechanismus, was sie in Staunen versetzte und die Stimmlage meiner Erklärungen wurde wieder euphorisch.
Mit 16-mm wäre der Totalverlust nicht passiert! Zwar gibt es auch 16mm-Umkehrfilme, aber die werden selten benutzt. Als Filmemacher dreht man auf Negativfilm. Der fertige Film, der vorgeführt wird, ist dann nur ein Abzug des geschnittenen Negativs und wenn er verlorengeht, dann zieht man eine neue Kopie in der gleichen, hohen Qualität. Je länger ich redete und gleichzeitig mit spitzen Fingern die Mechanik der Kamera befühlte, die verschiedenen Knöpfe und Regler untersuchte, desto mehr reizte es mich, mit dieser Kamera zu arbeiten und Schluss zu machen mit dem popeligen Herumgefingere an diesen winzigen Super-8-Bilderchen.
Schon als ich die Projektion mit der 16-mm-Filmschleife im Hof vorbereitet hatte, faszinierte mich, dass die einzelnen Bilder bei 16 mm groß genug waren, um sie mit dem bloßen Auge gut zu erkennen, während das Hantieren mit Super-8 immer etwas Grenzwertiges hatte, das Gefühl vermittelte, mit einer Notlösung, mit einer Minimalanforderungstechnologie zu arbeiten. Der Projektor auf unserem Gehöft war eine alte, verstaubte Kiste gewesen, als wir ihn fanden. Trotzdem hatte es mich begeistert, das Surren des Motors und das Klackern der Mechanik zu hören. Die blitzende Kamera, die ich jetzt in der Hand hielt, faszinierte mich noch viel mehr.
Rückblickend muss ich sagen, dass ich die beiden Tinas im Überschwang auf geradezu unverschämte Weise zutextete und das nicht einmal uneigennützig. Der gesamte Produktionsprozess in 16-mm sei aufwändig, begann ich meine Erläuterungen, denn vom Negativmaterial werde eine sogenannte Arbeitskopie gezogen, das sei eine billige Kopie ohne Helligkeits- oder Lichtkorrektur, die Arbeitskopie sei für den Cutter, an ihr werde rumgeschnitten, und zwar nicht nur weggeschnitten wie bei Super-8, da könne man dann auch wieder was hinschneiden und einen schlechten Schnitt rückgängig machen, was bei Super-8 de facto nicht gehe und eine riesige Unzulänglichkeit sei. Habe man dann die Arbeitskopie zu einer Sequenz zusammengeschnitten, die der eigenen Vorstellung vom Film entspreche, dann werde das Negativ von Spezialisten im Kopierwerk genauso geschnitten, wie es die Arbeitskopie vorgebe. Von dem geschnittenen Negativ könne man eine Kopie ziehen, die aus einem Stück bestehe. Wenn genug Budget vorhanden sei, mit Farbkorrektur. Farbkorrektur bedeute, dass im Kopierprozess vom Negativ zur Vorführkopie Farbfolien eingeschoben werden, die die Farbigkeit verändern, also kann man zum Beispiel das Bild wärmer machen, womit ein eher rötliches Bild gemeint ist, oder kälter, das bedeutet bläulich. Auch die Helligkeit des Bildes ist bei der Kopie beeinflussbar. Negativmaterial ist sehr tolerant und habe viele Reserven, was die Belichtung angeht, sagte ich mit Begeisterung, obwohl ich es zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht ausprobiert hatte, sondern nur aus Büchern kannte.
Trotzdem steigerte ich mich in eine redselige Techniklobpreisung hinein, während die kleine Tina feststellte, dass sie sich wohl verkühlt hatte und ein Tuch um ihren Hals wickelte. Dann schnäuzte sie sich und fragte, wo sie denn nun so einen Film kaufen könne und wo sie dann damit hingehen müsse, wenn sie diesen Negativschnitt und die Farbkorrektur und all das, was ich da eben erzählt hätte, haben wolle. Und was das dann koste. Während ich großspurig eine umfangreiche Kalkulation für einen Zehnminüter runterspulte, bei dem sich etliche Kostenpunkte im dreistelligen Bereich bewegten, da verschwand die kleine Tina endgültig in ihrer großen Strickjacke und machte sich nur durch gelegentliches Schnäuzen ins Papiertaschentuch bemerkbar.
Ich kam dann auf eine Endsumme von über tausend DM, reine Materialkosten, betonte immer wieder, dass das sehr knapp kalkuliert sei, aber vermutlich hörte Tina gar nicht mehr richtig zu. Schließlich fragte sie, wo an der Kamera eigentlich das Mikro sei. Da konnte ich nochmal mit meinem Fachwissen aufdrehen: Mikro? Das gebe es da nicht, das sei doch bekannt, dass chemische Filmaufzeichnungsverfahren „stumm“ seien, wie die Fachleute sagen. Für den Ton sei eine völlig separate Aufzeichnung notwendig, aber da diese äußerst schöne Beaulieu den großen Vorteil habe, dass die Bildgeschwindigkeit stufenlos regelbar sei, was sowohl Zeitraffer als auch Zeitlupe ermöglichen würde, sei sie leider nicht „gequarzt“ und Filmaufnahmen, die von Kameras mit ungequartzem Motor stammten, könne man gar nicht ordentlich mit dem Liveton synchronisieren. Was den Ton anginge, stünde man mit der Beaulieu 16R genauso schlecht da wie beim Super-8-Film, man müsse alles komplett nachvertonen.
Während mir selbst klar wurde, dass ich in unmittelbarer Zukunft unbedingt auf 16-mm drehen musste und zwar genau mit dieser Kamera, war für die kleine Tina der Traum vom eigenen Film mit der eigenen Kamera erst einmal geplatzt. Ich gab ihr noch einen kleinen Abriss, wie teuer das gleiche Filmprojekt in Super-8 sein würde. Auch da staunte sie, aber natürlich konnte sie es sich eher vorstellen, zweihundert Mark auszugeben als eineinhalbtausend. Sie gab sogar zu, dass sie eineinhalbtausend Mark bereit liegen habe, weil sie nach Indien fliegen wolle, für vier Wochen, und wenn sie wählen müsse zwischen Indien und einem zehnminütigen Film, da sei doch alles klar, da gäbe es keine Zweifel, da fliege sie nach Indien. Ich nicht, sagte ich!
Nachdem sie sich eine weitere Packung Papiertaschentücher geholt hatte, traute ich mich, die gewagte Frage zu stellen: Ob sie nicht einfach die Kamera mit mir tauschen wolle, ich gäbe ihr eine von meinen Super-8-Kameras, lege noch einen Stapel Filmkassetten dazu, genug, um das Projekt durchzuziehen und ich bekomme die Beaulieu. Wobei ich noch testen müsse, ob die Beaulieu wirklich funktioniere. Auch wenn sie funkele, sei nicht klar, ob Motor und Akkus noch in Schuss seien. Die große Tina schaute mich skeptisch von der Seite an, während die kleine Tina zu glauben schien, was ich ihr eingeredet hatte: Dass meine alte, praktische Super-8-Kamera genau das richtige Rettungsboot sei, mit dem sie ihre ambitionierten Nachwuchsfilmemacherinnenpläne ins Trockene bringen könnte. Außerdem kennt sich Tina mit meiner Kamera aus, sagte ich, und das bestätigte die große Tina, so dass die kleine Tina weich wurde und einwilligte. Ich gratulierte ihr herzlich zu dieser Entscheidung und sang noch ein kurzes Loblied auf Super-8. Inzwischen war der Vormittag fast vorbei.
Ich hängte mir die elegante Kameratasche mit ihrem wertvollen Inhalt über die Schulter, bedankte mich bei der kleinen und umarmte die große Tina, dann ging ich nach draußen, wo ein paar schräge Kreuzberger Gestalten meinen Weg kreuzten. Dann eine türkische Familie. Und zwei Frauen über 30, mit asymmetrischen Frisuren, die typischen schwarzen Klamotten, schick, aber nicht sexy, die sahen aus, als ob sie im Kreativbereich arbeiteten würden. Vielleicht wussten sie, was es bedeutet, eine 16-mm-Kamera in der Tasche bei sich zu tragen. Hoffte ich im Stillen, während ich durch die Straße lief und dabei darüber nachdachte, wieso man mich, speziell mich, toll finden könnte. Meine Phantasie lieferte zu diesem Thema viele sehr exotische Antworten. Der Besitz einer 16-mm-Kamera war, verglichen mit dem, was mir sonst einfiel, eine geradezu realistische Erklärungsoption für meine genialische Besonderheit.
Ich ging kurzentschlossen in Richtung Hinterhofkino. Wie erhofft, war der Hinterhofprogrammdirektor gerade da, er musste putzen und aufräumen. Ich stellte mich vor und band ihm sofort auf die Nase, dass ich gerade ein Schnäppchen gemacht hatte. Ihn konnte ich mit der Kamera richtig beeindrucken. Auch er befühlte die blitzende Mechanik der Transportrollen und des Bildfenstertürchens. Aus dem Nachlass des Großonkels der Freundin einer Freundin, sagte ich. Verschwieg, dass ich die Kamera der Besitzerin abgeschwatzt hatte. Dabei tranken wir Kaffee und redeten über den bevorstehenden Abend. Telefonisch kündigte ich Martin meine Ankunft an, der darauf bestand, dass ich zunächst zu einem geheimen Ort in Ostberlin kommen solle, man würde mich abholen.
Während ich mit dem Hinterhofkinoprogrammdirektor das Kino für den Abend vorbereitete, was letztendlich nur darin bestand, dass wir einen Tisch mit Leselampe vor die Leinwand rückten und meine Filme im Vorführraum zurecht legten, kam auch schon Achim an. Wie ich es nicht anders erwartet hätte, begrüßte er mich, überschwänglich und mit dick aufgetragenem übertriebenem Lob. Der wichtigste Filmemacher des Untergrunds sei endlich da, wo er hingehöre, in Berlin, sagte er, machte dann aber auch gleich noch die Bemerkung, dass drüben, auf der anderen Seite der Spree, im Osten, alles viel spannender und aufregender sei als hier, wo der Subkulturbetrieb von spießig gewordenen Kriegsgewinnlern des Häuserkampfes oder verbohrten Linksideologen gerade zu Grabe getragen würde. Von der eigenen Polemik erheitert lachte Achim laut, während der Hinterhofkinoprogrammdirektor überlegte, ob er sich angegriffen fühlen sollte. Inzwischen hätten sich die Hausbesetzer in Hausbesitzer verwandelt, damals vom Sozialismus geredet und jetzt verdienten sie sich eine goldene Nase mit Seminarräumen und Computerpools, die sie für vom Arbeitsamt finanzierte Umschulungen vermieteten. Achim war gleich voll in Fahrt, das kannte ich ja. Später erfuhr ich, dass seine Wohnung auch einem Vermieter dieser Kategorie gehörte und weil Achim immer seine eigene Meinung durchsetzen zu müssen glaubte, war er mit ihm heillos zerstritten, tat aber so, als läge das ausnahmslos an den charakterlichen Defiziten des Vermieters. Die Kunst, pointiert über alles und alle herzuziehen, über das Establishment, über das alternative Establishment, über die Hochkultur und die Subkultur, über Bürokratie und Funktionäre, beherrschte Achim meisterhaft, so dass ich seine Schimpftiraden über die Berliner Verhältnisse sehr genoss, zumal er oft genug unvermittelt in maßlose Anpreisungen meiner kulturellen filmischen Leistungen wechselte.
Ich hatte einen Teil meines Gepäcks im Hinterhofkino gelassen und wir spazierten durch eine wunderbar sommerliche Stadt zur Brücke, um in die sensationelle Ruinenlandschaft des kollabierten Sozialistenterritoriums, wie Achim es bezeichnete, zu gelangen. Martin hatte Achim zu mir ins Hinterhofkino geschickt, weil er selbst mit dem Auto und der Videotechnik zu einer gerade zugänglichen Industrieruine fahren wollte, wohin wir zu Fuß spazierten. In Friedrichshain krochen Achim und ich zwischen baufälligen Gemäuer herum, über ein paar kaputte Zäune, dann durch ein kaputtes Fenster in eine Halle, die voller riesiger Maschinen stand. Dort machte Martin mit seinem Studienkollegen, der damals auch auf meiner Party im Gehöft anwesend war, Videoaufnahmen, ein Projekt für ihr Studium. Zwei Blondinen in Arbeitsoveralls agierten vor der Kamera und auch Achim und ich bekamen Overalls, wurden auf einem rostigen Laufsteg hoch oben über den Kesseln gefilmt, wo mir angesichts der verrosteten Laufgitter und fehlenden Geländern etwas mulmig wurde. Eine erkennbare Handlung schien der Film nicht zu haben, aber er war ästhetisch sehr ambitioniert. Da in den folgenden 20 Jahren jeder Nachwuchsregisseur mindestens einen existenzialistischen Kurzfilm in einer DDR-Industrieruine drehte, kann man nicht unbedingt von einer originellen Idee sprechen, trotzdem machten uns die Dreharbeiten viel Spaß.
Dann packten wir die Technik zusammen, fuhren ohne die Blondinen mit dem Auto wieder in den Westen, weil man ja an den Imbissbuden im Osten noch nichts Vernünftiges zu essen bekäme und letztendlich saßen wir den Rest des Nachmittags mit Falafel und Schawarma beim angeblich besten Araber der Stadt. Wir waren in super Laune und freudiger Erwartung des Abends. Ich verspürte gegenüber Martin keinerlei Ärger mehr wegen des verlorengegangenen Films, vielmehr gebrauchte ich sogar die Formulierung, dass er mich von dem falschen Film befreit habe, wofür ich ihm dankbar sein könne. Martin fand diese Antwort befremdlich, schließlich hatte ihm der Film sehr gut gefallen. Dann begeisterte ich mich an den unausgegorenen Ideen, die ich mit der 16-mm-Beaulieu-Kamera realisieren könnte. Martin und sein Studienkollege hielten mit ihren Akademieprojekten dagegen und Achim schmiss noch ein paar witzige verbale Attacken gegen das Kulturestablishment in die Runde. Schließlich waren wir alle davon überzeugt, dass unsere Aktivitäten zwangsläufig in die richtige Richtung führen würden.

20
Die beiden Blondinen, die beim Videodreh in der Maschinenhalle dabei gewesen waren, kicherten während meiner Filmvorführung ziemlich oft. Achim fiel mal wieder durch sein polterndes Lachen und Zwischenrufe auf. Die große und die kleine Tina saßen ganz vorn, so dass ich sie gut sehen konnte, aber sie hörten ehrfürchtig zu und ließen sich keine Gemütsregung anmerken. Dahinter eine Gruppe von jungen Männern, von denen ich glaubte, dass sie zu Martin und der Akademie für digitale Künste gehörten. Dann noch einige junge Unbekannte, die gemeinsam saßen und Unbekannte, die schon viel älter waren und einzeln oder zu zweit auf die Sitzreihen verteilt waren.
Wenige Sekunden, bevor ich die Veranstaltung startete, als es im Raum schon dunkel war und ich im Schein meiner Leselampe am Tisch vor der Leinwand saß, huschte noch eine Gestalt zur Tür herein und setzte sich weit hinten hin, dort, wo ich Achim vermutete und nur wenig erkennen konnte. Es blieb bei einer Vermutung, denn es war zu dunkel, als dass ich mir hätte sicher sein können. Egal, ich musste anfangen, las meine erste Kurzgeschichte, löschte dann die Lampe. Das war für den Mann in der Vorführkabine das Signal, den ersten Film zu starten. So ging es immer abwechselnd: Ein Film, eine Geschichte, wobei sich die meisten Kurzgeschichten um Anekdoten rankten, die mit dem Filmemachen zu tun hatten. Der falsche Film wurde mehrmals thematisiert: als Konzept, dann Drehbuchauszüge und schließlich durch die traurige Geschichte, dass er in einer Aldiplastiktüte verlorengegangen sei. Achims Zwischenrufe sorgten für zusätzliche Lacher.
Gegen Ende brach ich das starre Schema auf. Es lief eine Version des Films der vergessenen Dinge, zu der ich einen tiefsinnigen, eher poetischen Text vortrug, der zunehmend in meditative Wiederholungen überging, und dazu mischte sich Tinas Stimme, die von der Tonspur des Films stammte. Schließlich sah man die nutzlosen Dinge gar nicht mehr, sondern nur noch ihre Schatten, bewegte Schatten, verzerrte Schatten, unscharfe Schatten. Es entstanden und zerfielen permanent abstrakte Muster aus schwarzen und weißen Flächen. Ich widerholte in der Schlusssequenz immer wieder den Satz: Das Ende der Dinge ist der Anfang der Gedanken und Tinas Stimme, verstärkt und unterstützt durch einen Halleffekt, sagte: Du kannst dich nicht lösen von dem, was die Welt ist, ohne zu verschwinden. Deshalb verschwinde ich! Jetzt!
Beim letzten Wort ging der Film schlagartig in schwarz über und ich löschte gleichzeitig die Taschenlampe, mit der ich meinen Textzettel spärlich beleuchtet hatte. Es war stockdunkel und still im Raum. Alle waren irritiert, ob ich fertig sei, oder ob noch etwas passieren sollte. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich die Leselampe erst einschalten würde, wenn der Applaus begann, und fast wäre ich von meinem Vorsatz abgewichen, denn die Stille erschien mir schrecklich lang, aber schließlich begann das Publikum zu klatschen und da schaltete ich das Licht an und verbeugte mich. Der Applaus war herzlich, aber nicht euphorisch. Mir schien es genug, um es als Aufforderung für eine Zugabe zu aufzufassen. Deshalb las ich eine kurze Geschichte und gab dann dem Vorführer das Zeichen, den dafür vorgesehenen Film abzuspielen, „Sulos Tod“, das Original auf Super-8, jener Film, in dem ich eine Mülltonne mit der großen Axt kaputthaue. Die erste Version, die schon zu Beginn meines Studiums entstand, lange bevor ich mich mit Videokameras beschäftigte. Als der Film startete, schlüpfte ich zwischen den Vorhängen hindurch in einen kleinen Backstageraum, von dem aus ich ins Foyer des Kinos gelangte. Sulos Tod war damals aus einer einzelnen Spule Film entstanden, also knapp drei Minuten lang. Als er zu Ende war, schaltete der Vorführer das Licht im Kino an.
Am Tresen der kleinen Bar lehnend, beobachtete ich, wie die Zuschauer herauskamen. Zuerst einer von den älteren Unbekannten, dann trat Sabine ins Foyer. Sie war der letzte Gast gewesen, also doch. Ihr lautes Lachen, an dem ich sie hätte erkennen können, bekam ich erst nach der Vorführung im Foyer zu hören, als ich ihr auf die Schnelle einige meiner Abenteuer beim Lokalfernsehen erzählte. Die Lesung habe ihr gut gefallen, meinte sie, durch die Texte sei ihr aber auch bewusstgeworden, dass die Filme ernster seinen, als ihr das zunächst schien, damals, als wir uns in unserer Universitätsstadt ausgetauscht hätten. Martin und Achim kamen mit Bierflaschen in den Händen zu uns, Anstoßen, Flaschenklappern, Martin und Sabine umarmten sich zur Begrüßung, aber emotionslos, dann gaben die Männer ihre Kommentare ab, vor allem zum letzten Teil meiner Lesung, der Performance mit Tinas Stimme und den nutzlosen Gegenständen aus unserer Scheune. Sie fanden das alle beeindruckend, aber zur Begeisterung fehlte noch ein bisschen. Sabine mischte sich wieder ins Gespräch und meinte, das Ende des Stückes sei zu schwach, es passe zwar zum Text, aber trotzdem müsse ein Knalleffekt hin, auch wenn ich das Wort Knalleffekt hassen würde, bräuchte ich ihn trotzdem, zur Not solle ich einfach den Zugabenfilm direkt danach abspielen, den Applaus nicht aussitzen, sondern ihm zuvorkommen. Wir konnten nicht darüber diskutieren, weil ein älterer Zuschauer dazu trat und fragte, ob es die Filme auf Videokassette gäbe, was ich verneinen musste, dann kam der Hinterhofkinoprogrammdirektor und klopfte mir auf die Schulter, Martin und Achim verabschiedeten sich von der Clique, die ich für die Studenten der digitalen Akademie hielt und dann besprachen sie, in welcher Bar man sich später treffen könnte.
Endlich hatte ich die Gelegenheit, mit Sabine alleine zu reden. Da konnte ich ihr von meinem Leben auf dem Land erzählen, brachte sie zum Lachen, aber ich merkte, dass sie wegwollte. Und du? fragte ich, um das Gespräch herumzureißen, aber damit gab ich ihr erst recht die Gelegenheit, den Abschied einzuleiten, denn unerwartet heiter erklärte sie mir, dass sie schwanger sei und deshalb dürfe sie weder trinken noch rauchen, da sei ihr der Aufenthalt in solchen angenehmen Lokalitäten wie dem Hinterhofkino leider völlig verleidet und die Schwangerschaft sei ein echter Unfall gewesen, der Mann schon über alle Berge, wieder in Afrika, ja, ein Schwarzer, ein toller Typ, aber als Familienvater völlig undenkbar, das müsse sie jetzt alleine durchstehen, wovor sie keine Angst hätte, ihr Masterplan für das Studium sei allerdings total über den Haufen geworfen, zumal das in Berlin doch viel komplizierter sei und nicht so, wie sie es erwartet hätte. Beim Erzählen lachte sie die ganze Zeit, das fand sie alles komisch, als wäre es nur ein Spiel. Mit nicht nachvollziehbarer Heiterkeit erklärte sie mir, dass sie viel besser beraten gewesen wäre, in Süddeutschland schnell fertig zu machen und dann in Berlin einen Doktor dranzuhängen. Nach Möglichkeit eine Dissertation mit Assistentenstelle. Oder in Berlin zu wohnen und sich an einer der vielen Unis in den neuen Bundesländern einen Arbeitsvertrag unter den Nagel zu reißen und sich dann erst schwängern zu lassen. Aber so sei es nun mal nicht gekommen. Tschüss, schönen Abend, ein Küsschen und zu guter Letzt sagte sie noch: Komm doch auch nach Berlin. Sie rauschte davon und ich verbrachte den Rest des Abends mit Martin und seinen Freunden.
Mit dem typisch großstädtischen Selbstverständnis, dass nur das Außergewöhnliche gut genug sei, gingen wir in eine Bar, in der die Studienkollegen von Martin schon warten würden. In der Tat erwies sich die Bar als recht kurios, denn wir stiegen auf einem unbebauten Grundstück durch ein Loch in der Mauer hinein in den Keller eines Altbaus und tranken dort in einem muffigen Raum mit rohen Backsteinwänden an einer zusammengezimmerten Bar einige Flaschen tschechischen Biers. Als wir irgendwann mitten in der Nacht bei Martin ankamen, wollte er mir unbedingt etwas am Computer zeigen, fand es aber nicht, und weil der Computer sowieso schon eingeschaltet war, startete er das Spiel mit der Schlange, die durch ein Labyrinth kriecht, ein Spiel, das wir später immer wieder mal spielten. Als ich es zum ersten Mal in den zweiten Level schaffte, wurde es draußen schon hell. Da immer nur einer von uns spielte, weil wir uns abwechselten, konnte der andere viel erzählen.
Ich glaube, in jener Nacht hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Internet“. Weil es mich nicht sonderlich interessierte, konnte ich mir nicht merken, um was es eigentlich ging. Es war eben wieder eine von Martins digitalen Aktivitäten und er benutzte zu viele unbekannte Worte, diese Nerd-Sprache, wobei ich damals noch nicht einmal gewusst hätte, was ein Nerd ist. Wenn ich nüchtern gewesen wäre, hätte ich gefragt, was das alles soll, doch betrunken, mit der Schlange vor mir, die im Labyrinth immer länger wird und bei der man höllisch aufpassen muss, dass sie sich nicht in den Schwanz beißt, nahm ich nur zur Kenntnis, dass Martin etwas über Hyperlinks erzählte, die von irgendwo nach irgendwo führen würden und ich musste dabei an Science-Fiction-Groschenromane denken. Dort verschwinden die Raumschiffe in den Hyperraum, um die Begrenzung der Lichtgeschwindigkeit zu überwinden. Es wird nur die Information übermittelt, beteuerte Martin, keine Raumschiffe und dann scheiterte ich an der entscheidenden Kurve im Labyrinth und die Schlange biss sich mal wieder in den Schwanz. Also wechselten wir, Martin übernahm das Spiel. Weil er besser war, schaffte er drei Levels. Das gab mir Zeit, Anekdoten aus unserem Fernsehsender zu erzählen, dann spielte wieder ich und Martin attackierte mich mit den unverständlichen Worten Host, Modem und HTML, Computersprache, die ich mit Widerwillen zur Kenntnis nahm. Er erklärte mir zwar all diese Begriffe, aber leider mit Worten, die ich auch nicht verstand.
Das kommt mir vor wie im Krankenhaus, sagte ich und überlegte danach, was ich damit überhaupt ausdrücken wollte. Martin sagte nichts, sondern schickte die Schlange um die richtige Kurve und hüpfte dadurch in den nächsten Level. Ich plapperte vor mich hin: Wie eine Intensivstation, künstliche Beatmung mit Kommunikation, Dateninfusion und soziale Quarantäne. Darauf läuft das doch hinaus. Martin verneinte entschieden, aber ohne Begründung, denn er musste sich auf die Steuerung der Schlange konzentrieren. Mir fiel nichts mehr ein. Ich schaute schweigend zu, wie er nochmals einen höheren Level erreichte, dann stand ich auf und rollte den Schlafsack aus. Einmal muss ich es noch probieren, antwortete Martin und startete die Schlange, als ich ihm Gute Nacht wünschte. Er verbrachte wohl noch zwei oder drei Stunden vor dem Bildschirm, aber ich schlief tief und fest.

21
Kaum war ich wieder zurück aus Berlin und für das Lokalfernsehen unterwegs, musste ich ins Rechenzentrum der Universität, weil man dort einen neuen Großrechner einweihte. Die vielen Redner benutzten auffällig oft das Wort Internet und auch die anderen Fachbegriffe, mit denen Martin trotz Betrunkenheit so lässig um sich geworfen hatte, führten die Grußwortredner vom Wissenschaftsministerium ständig auf den Lippen, wobei ihnen diese Anglizismen sichtlich Mühe beim Formulieren bereiteten. Man merkte ihnen an, dass sie gerade Neuland betraten. Nur der Informatikprofessor, der die Rechenmaschine für ein paar Millionen gekauft hatte, schaffte es, eine flirrende Kaskade von Spezialbegriffen mit extremer Selbstverständlichkeit von sich zu geben. Die wichtigen Fremdworte, die mehrmals auftauchten, zogen eine lange Fahne anderer Spezialbegriffe nach sich, was den anwesenden Medienvertretern den Schweiß auf die Stirn trieb. Wie sollten sie das ihren Lesern oder Zuschauern und Zuhörern begreiflich machen? Zumal sie es selbst erst mal verstehen mussten. Auch mir blieb die Einsicht verwehrt, welchen Zweck der Professor mit dem neuen Computer verfolgte.
Wenn ich Martin wieder treffen würde, war eine Fachdiskussion im nüchternen Zustand dringend notwendig, sagte ich mir, aber bis dahin hatte ich genug damit zu tun, die reale Welt mit meiner Fernsehkamera Tag für Tag zu durchstreifen, videografisch zu dokumentieren und damit das große Regal, das in unserem kleinen Sender als Archiv diente, immer weiter zu füllen. Inzwischen stapelten wir die Videobänder auf dem obersten Brett. Ambitionen, ein zweites Regal aufzustellen, verspürte ich nicht. Nicht mehr. Das Wochenende in Berlin hatte seine Spuren hinterlassen, die Welt auf dem Dorf war für mich nicht mehr so wie zuvor. Die Lage zwischen Tina und Gitarren-Hans spitzte sich weiter zu. Vielleicht hing das mit der Sängerin zusammen, die inzwischen in die Band eingestiegen war. Ihr Gesang war eigenwillig, aber sie bewegte ihren Körper auf sehr beeindruckende Weise, wirklich klasse. Tina dagegen stand immer steif und ohne Gemütsregung hinter ihrem knatternden Synthesizer, drehte an den Potentiometern oder wartete auf den Einsatz. Nach der Probe stritt sie sich oft mit Gitarren-Hans, da sparte sie nicht mit Gemütsregungen.
Unser Entschluss, die ländliche Einöde in Richtung Metropole zu verlassen, reifte vermutlich zur gleichen Zeit, aber unabhängig voneinander. Weil wir uns oft tagelang gar nicht sahen oder nicht allein waren, oder dachten, es sei gerade der falsche Zeitpunkt, war es bereits Ende Oktober, als ich ihr sagte, dass ich zum Jahreswechsel abhauen, den Job beim Fernsehen hinschmeißen und nach Berlin ziehen werde. Aber anstatt mir, wie befürchtet, Vorwürfe zu machen, war Tina erleichtert, denn sie hatte bereits mit dem Onkel vereinbart, dass sie im Lauf des folgenden Jahres das Gehöft räumen würde, was sie mir aus Mangel an einer geeigneten Gelegenheit noch nicht mitgeteilt hätte. Jetzt sei alles geklärt. Damit brachen die letzten beiden Monate an. Um eine unproduktive Wartezeit zu vermeiden, nahm ich mir vor, meinen ersten 16-mm-Film umgehend zu beginnen, damit nicht nur die vergessenen Dinge, sondern auch unser Dorf, die Landschaft und der Hof festgehalten würden.
Die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors sollte mir helfen. Bisher verstrickte sie mich nur in hochintellektuelle Diskussionen über kulturell hochwertige Filme, wobei sie auch vor hochprozentigen Getränken nicht zurückschreckte. Darum sagte ich ihr, es sei höchste Zeit, um von der Theorie zur Praxis überzugehen und zwar sofort! Natürlich könne man das auch im November tun, Grenzerfahrungen mit schlechtem Wetter seien ein Grund, aber kein Hindernis, zumal sie, die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors, für mich eine sehr herbstliche Persönlichkeit sei, die genau die richtige Stimmung für den Abschied von den traurigen, abgeernteten Äckern und Wiesen versinnbildlichen könne. Da schaute sie mich sehr entsetzt an, so dass ich schon befürchtete, sie sei beleidigt, aber als ich fortfuhr und ihr erklärte, dass sie vermutlich Fellini mehr als Tarkowski schätzen würde und deshalb nicht empfänglich sei für das Kompliment, das in dieser Charakterisierung stecke, hatte ich sie wieder auf meiner Seite. Mit einigen Verweisen zu Buñuel fanden wir wieder den Konsens in der Diskussion, verwarfen zunächst alle vorherigen Konzepte und entwickelten an einem Wochenende an der Bar unseres gemeinsamen Lieblingskinos ein neues. Für mich war alles geklärt, aber sie fragte immer wieder, wann wir am Konzept weiterarbeiten. Das weckte in mir den Verdacht, dass sie wohl nur übers Filmemachen reden wollte. Vielleicht dachte sie, ich hätte sie nur ins Projekt hineingezogen hatte, weil ich mit ihr schlafen wollte und spekulierte darauf, dass es eine Abkürzung ohne Filmaufnahmen geben könnte. Daraus wurde nichts, ich sagte, wir müssten loslegen und der Film solle „Mein Land im Herbst“ heißen, was später gar nicht stimmte, aber als Argument war es hilfreich. Wir müssen drehen, bevor der Winter da ist, bestimmte ich und legte den zweiten Advent als Drehtermin fest, ein fürchterlicher Tag. Es hatte schon tagelang geregnet und nieselte immer noch. Die Feldwege waren voller Pfützen und die Äcker aufgeweicht. Gitarren-Hans hatte das Glück, dass er in seinen Wanderstiefeln spielen durfte, während die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors in ihren coolen Stoffturnschuhen durch den Matsch laufen musste. Bei uns allen bildeten sich Batzen von Dreck an den Füßen, mit jedem Schritt klebte noch mehr feuchter Ackerboden an den Sohlen. Ich wollte nur, dass die beiden mit einem Musikinstrument, also sie mit einem Geigen- und er mit einem Gitarrenkoffer, einsam über die Felder wandern, in einer verlassenen Landschaft, die müden Körper nach Möglichkeit über dem Horizont. Diese eigentlich einfachen Aufnahmen erwiesen sich bei den gegebenen Wetterbedingungen als extrem kräftezehrend. Meine beiden Darsteller sahen nicht nur müde aus, sondern total mitgenommen. Es wehte ein Wind, der die feuchten Haare zerzauste, die Klamotten flatterten, die Matschfüße bekamen sie beide kaum noch hoch und ich musste mich, um eine Untersicht hinzukriegen, auf die Knie begeben. Da spürte ich sofort die kalte Feuchtigkeit des Bodens durch die Jeans hindurch, aber die Position war nicht tief genug, also legte ich mich hin, hinein in den Matsch und ich musste dabei aufpassen, die Hände nicht schmutzig zu machen, damit die Kamera sauber blieb. Also stützte ich mich beim Hinlegen und Aufstehen immer mit den Ellenbogen ab, die dabei weit in den Boden einsanken.
Mir gelang eine phantastische Einstellung wie sich die beiden Schauspieler kraftlos näherten und dann, ohne sich zu beachten, aneinander vorbeigingen. Gitarren-Hans, der ungemein dürr war, wirkte wie ein Gespenst und die Schwester des Hinterhofkinodirektors war mit den flatternden Haaren und dem wehenden Rock für mich der Inbegriff des Trotzes, dieser „Ich muss das tun“-Haltung, eine Überzeugungstäterin, die dann kläglich im Nichts einer grauen Herbstlandschaft verschwindet. Für die letzte Einstellung wollte ich beide Schauspieler ganz weit weg von der Kamera am Horizont gehen sehen, aber das schafften wir nicht mehr, ich trickste den Abgang mit einem billigen Rückzoom, eine filmästhetisch schäbige Notlösung, trotzdem blieb mir keine Wahl. Beim echten Film hätte man drei Wohnmobile auf den Acker gestellt, damit sich die Schauspieler aufwärmen können, und einen Hubschrauber, der sie zum Horizont fliegt. Das hatten wir alles nicht, wir standen zu dritt verfroren im Nieselregen und dann steckte auch noch das Auto von Gitarren-Hans im Schlamm fest. Die Schwester vom Hinterhofkinoprogrammdirektor musste ans Steuer und wir beiden Männer versuchten, die Karre aus dem Dreck zu schieben. Als wir es geschafft hatten, waren wir von oben bis unten verschlammt und schlotterten wegen der Kälte. Zum Glück war Tina an dem Abend zu Hause geblieben und hatte ordentlich eingeheizt. Trotzdem hüllten wir uns nach dem Dreh verfroren in Decken, tranken Tee und Rotwein. Als ich begann, die Kamera zu putzen, die ein paar Spritzer abbekommen hatte, öffnete Gitarren-Hans den Koffer und spielte seit langem mal wieder auf der akustischen Gitarre. Die aufgelösten Akkorde seines gleichmäßig tröpfelnden Fingerpickings wirkten sofort, das war das Gefühl, zu Hause zu sein und sich wohl zu fühlen. Was er spielte, schien bekannt, klang nach Klischee, aber das machte die Musik nicht banal, sondern es gab ihr sogar eine gewisse Erhabenheit. Als würde diese Musik schon immer durchs Weltall schweben, und Hans hätte sie sich nicht ausgedacht, sondern eingefangen. Die perfekte Musik, um den Film zu vertonen, aber ich hatte kein Tonaufnahmegerät zu Hause und selbst wenn ich eins gehabt hätte, wäre ich nach den anstrengenden Dreharbeiten vermutlich zu faul gewesen, Technik zu suchen oder aufzubauen.
Daran musste ich denken, als ich ein paar Monate später in Berlin saß und wieder fror. Vor mir flimmerten die Filmaufnahmen unseres anstrengenden Drehs. Den Filmtitel „Mein Land im Herbst“ hatte ich inzwischen verworfen, das Werk sollte lieber „Kein Abschied ohne Begegnung“ heißen. Außer dieser Umbenennung war mit dem Material so gut wie nichts passiert. Ich saß an einem 16-mm-6-Teller-Schneidetisch, das ist ein mehrere hundert Kilo schweres mechanisches Monstrum. Oder Wunderwerk. Je nachdem, ob die persönlichen Vorlieben eher den elektronischen oder den mechanischen Lösungen zugeneigt sind, wird man einen Schneidetisch unterschiedlich bewerten. Für Menschen wie mich, die sich an den Umlenkrollen mit Perforationszahnrädern erfreuen können, ist ein Schneidetisch eine Sensation. Die ganze Tischplatte ist voll mit diesen Umlenkrollen, symmetrisch angeordnet und in verschiedenen Gruppen zusammengefasst. Der Riesenaufwand dient dazu, den Film so an der Projektionsoptik vorbeizuführen, dass man ihn sowohl schnell, als auch langsam, vorwärts und rückwärts ansehen und direkt auf dem Bild mit einem speziellen weißen Stift Markierungen machen kann oder ihn gleich an der richtigen Stelle auseinanderschneidet, zusammenklebt und so weiter. Außerdem können zwei Rollen mit perforiertem Tonband parallel zum Film eingelegt werden und wenn der Film sich gemeinsam mit den zwei Tonspuren bewegt und all diese vielen Rädchen auf dem Schneidetisch miteinander gekoppelt sind, gleichzeitig starten oder stoppen, dann ist es ein Vergnügen zuzusehen. Doch die Zeit der mechanischen Filmtechnik ist längst vorbei. Sie war damals voll entwickelt, aber am Aussterben. Im Fernsehgeschäft, wo der Produktionsablauf billig und schnell sein sollte, hatte man die Filmschneidetische schon längst durch Videoschnittplätze ersetzt. Der Schneidetisch, an dem ich saß, gehörte einigen Liebhabern, die vom No-Budget-Gedanken beseelt waren und ihre betagte Schnitttechnik für lächerlich niedrige Geldbeträge an andere Liebhaber, Filmemacher und Künstler wie mich vermieteten. Auch das Budget für die Briketts schien knapp zu sein, denn sie waren alle und der Kachelofen kalt. So saß ich mit Strickjacke vor dem Schneidetisch und sortierte das Material. Um die passenden Takes zu einem ersten, groben Entwurf zusammenzuschneiden, brauchte ich etwas mehr als eine Stunde, danach war ich so durchgefroren, dass ich mich zwingen musste, aufzuräumen, also meine restlichen Filmschnipsel zusammenzurollen und mitzunehmen. Das wichtigste war die kleine Spule mit dem geschnittenen Material. Ich brauchte noch die passende Musik, aber Gitarren-Hans war weit weg. Den Schlüssel für den Schnittraum warf ich in den vorgesehenen Briefkasten, dann trat ich auf die winterliche Straße. Draußen war es noch viel kälter und der eklige Geruch von Kohleverbrennung hing in der Luft. Vor meinem geistigen Auge sah ich Gitarren-Hans vor dem grauen Filmhorizont, doch ich selbst lief durch eine lange Straße an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg. Irgendwann nach der soundsovielten Kreuzung sollte die richtige U-Bahnstation kommen. Ich dachte beim Gehen an den letzten Abend im Dorf. Die Schwester des Hinterhofkinoprogrammdirektors hatte mich beim Abschied geküsst. Tina auch, aber nur ganz kurz und dann sagte sie, diesmal solle ich mich um die günstige Wohngelegenheit kümmern, bald käme sie nach.

22
Ich hatte mich bei Martin eingenistet, der eine von diesen typischen Zweizimmer-Altbauwohnungen im Hinterhaus bewohnte, wie ich sie in verschiedenen Variationen immer wieder zu Gesicht bekam. Wobei die meisten Berliner, die in so einer schäbigen Bude hausen, keineswegs scharf darauf sind, Freunde zu sich einzuladen, vielmehr bevorzugt man, sich dort zu treffen, wo es als besonders cool galt. Wegen unserer langjährigen Freundschaft konnte Martin nicht Nein sagen, als ich einzog, obwohl der Platz ohnehin knapp und die Raumaufteilung mit dem Durchgangszimmer ziemlich ungünstig war. Ich sagte, ich suche mir einen Job und ich suche mir eine Wohnung! Leider passierte monatelang so gut wie nichts. Ich sagte auch noch, dass ich hochmotiviert sei. Abends hatte ich in der Tat viele Ideen, wen ich ansprechen könnte, der eventuell jemanden kennt, der wiederum jemanden anderen kennt, der dann ein kleines Türchen öffnet, durch das ich hineinschlüpfe. Dort hinein, wo man mich brauchen könnte. Tagsüber kümmerte ich mich dann aber doch nicht darum. Immerhin fand ich die No-Budget-Liebhaber und ihren kleinen Laden, so dass ich mich ein bisschen um den Schnitt des 16-mm-Films kümmern konnte. Ab und zu sortierte und ergänzte ich das, was ich für eine Bewerbungsmappe hielt. Wesentlich öfter spielte ich das Spiel mit der Schlange im Labyrinth auf Martins Computer und außerdem zeichnete ich manchmal stundenlang an Trickfilmsequenzen.
Natürlich durchstreifte ich auch die Stadt. In Mitte und Prenzlauer Berg eröffneten viele Bars und in Friedrichshain tobte der Kampf um besetzte Häuser. Die Ruinenromantik im Osten der Stadt hatte etwas Faszinierendes, aber da Martins Wohnung ganz im Westen, in Charlottenburg, lag und das Hinterhofkino und das Büro der No-Budget-Liebhaber in Kreuzberg, verbrachte ich die meiste Zeit dort, wo man von den Umwälzungen gar nicht viel mitbekam. Das störte mich nicht, denn ich wollte auf keinen Fall als Trendnutte gelten. Meine Ausflüge in den Osten waren quasi Exkursionen, damit ich auf dem Laufenden blieb. Die Begründung, dass ich in Berlin sei, weil ich den Anblick von abblätterndem Putz und krummem Straßenpflaster als geiles Lebensgefühl empfinden würde, wies ich stets weit von mir. Der viele Müll, den das große Experiment Sozialismus hinterlassen hatte, machte mich traurig und träge. Vielleicht war das gar kein Müll, sondern wurde nur von den Rechthabern der Geschichte zu Müll erklärt. Letztendlich waren aber nicht nur viele Exkursionen zur Erforschung der kulturellen Aktivitäten nötig, immer wieder schlich ich auch um neu entstandene Medienzentren oder Niederlassungen der Fernsehsender herum, die sich im Osten eingenistet hatten, um Hinweise darauf zu bekommen, wer mir beim Broterwerb behilflich sein könnte.
Neben meiner Matratze lagen der Stadtplan, die Gelben Seiten und das beliebte Buch über die Kunst des Drehbuchschreibens. Laut Achim gab es dieses Buch sowieso in jedem zweiten Berliner Single-Haushalt, warum also nicht auch bei mir. Leider fand ich niemanden, den ich von meinen Drehbuchschreiberqualitäten hätte überzeugen können. In der Fachabteilung des Arbeitsamtes, wo sie speziell die Künstler und Medienschaffenden betreuten, fragte man mich ganz unverhohlen, wieso ich denn ausgerechnet nach Berlin gekommen sei; damals war Berlin trotz seiner Größe nur ein zweitrangiger Medienstandort. Arbeitslose Fernseh-Ossis und Künstler, die mit ihrer Kunst nichts verdienten, drängten in den Arbeitsmarkt. Je weiter westlich, desto besser, meinte der Sachbearbeiter. Ansonsten fiel ihm nichts zu meinen dürftigen Bewerbungsunterlagen ein. Arbeitslosengeld bekam ich sowieso nicht, weil ich beim Lokalfernsehen die meiste Zeit ohne Sozialabgaben als Praktikant gearbeitet hatte. Insofern war die Ausbeute meines Termins beim Arbeitsamt sowohl an hilfreichen Tipps als auch an finanziellen Hilfen unergiebig und demotivierte mich für ein paar Wochen, in denen ich gar nichts tat, was mit Bewerbungen zu tun hatte. Danach ergab sich noch ein anderer Termin, der zu viel Hoffnung in mir erweckt hatte aber rückblickend völlig nutzlos war. Ein älterer Kollege aus dem Lokalfernsehen, eigentlich schon Rentner, der Zeit seines Arbeitslebens große Sachen beim großen Fernsehen in Berlin gemacht hatte, drückte mir zum Abschied ein Empfehlungsschreiben in die Hand, das an seinen alten Kumpel adressiert war, der irgendwo in den oberen Etagen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sitzen würde. Allerdings saß der zu weit oben in der Hierarchie, direkt unterhalb des Intendanten und war ein großer Chef von irgendeiner wichtigen Abteilung. Ich rätselte ausführlich darüber, was mein Empfehlungsschreiben wert sein könnte, was ich sonst noch für Bewerbungsunterlagen brauchen könnte und am liebsten hätte ich das Treffen immer weiter vor mir hergeschoben, aber irgendwann hatte ich die Sekretärin des großen Chefs angerufen, die mir ein Datum nannte, das wiederum gut einen Monat nach dem Telefonat lag. Ich wurde zwar empfangen, doch der große Chef wusste auch nicht, was er mit mir anfangen sollte, vielleicht erinnerte er sich gar nicht mehr an den Fernsehrentner, dessen persönliche Empfehlung ich ihm in die Hand drückte und außerdem sei ich eigentlich in der falschen Abteilung, um mich vorzustellen und was ich über die öffentlich-rechtlichen Anstalten eh schon wusste, dass sie sich zu fein für Quereinsteiger waren, bestätigte er im Lauf des Gespräches. Letztendlich verabschiedete er mich nach fünfzehn Minuten und er hatte mir keinen anderen konkreten Ansprechpartner genannt, was zweifellos bedeutete, dass ich mich getrost verpissen konnte. Das Stimmungsbarometer blieb daraufhin noch eine Weile im Keller, es schwankte zwischen schlechter und ganz schlechter Laune. Immer wieder blätterte ich die Gelben Seiten durch, wo unter dem Stichwort Film- und Fernsehproduktion eine Menge Einträge zu finden waren, da hätte ich überall eine Bewerbung hinschreiben können. Habe ich aber nicht, mein Einfallsreichtum war schier unerschöpflich, wenn es darum ging, Gründe zu finden, weshalb jede einzelne dieser vielen Firmen speziell für mich unpassend sei, so unpassend, dass eine Bewerbung nicht nur wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, sondern sogar eine Anmaßung sei, oder ein Fettnäpfchen, wenn nicht gar ein Skandal.

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Aber mit einem Mal veränderte sich die Lage schlagartig, denn Ulrich traf in Berlin ein. Der Chef vom Lokalfernsehen hatte ihn nach einem Streit rausgeworfen, unterwegs war ihm das Auto liegen geblieben und mit Rucksack und zwei Plastiktüten, in die er seine Habseligkeiten aus dem Auto gestopft hatte, kam er per Anhalter in Berlin an. Seine Übernachtungsbekanntschaft, die ihn einen Tag vorher erwartet hatte, war nicht mehr erreichbar und so musste er auch noch bei Martin einquartiert werden. Es war nur eine Nacht, dann brach er schon wieder auf, um die Verschrottung seines Autos, das irgendwo in den neuen Bundesländern auf einem Autobahnrastplatz stand, zu organisieren. Und ich sollte gefälligst sofort die Wohnung klar machen, sagte er mir beim Abschied. Denn zwei Tage vor Ulrichs Ankunft hatte ich Sabine und ihre drei Monate alte Tochter auf einen Kaffee besucht. Ihr war gerade eine gute Wohnung in einer der abgefucktesten Gegenden der Stadt angeboten worden. Sie hatte abgelehnt, denn nach kurzem Abwägen bevorzugte sie, mit dem Kind lieber in einer Anliegerwohnung in der Villa ihrer Eltern einzuziehen, irgendwo dort, wo nur gut situierte Menschen lebten. Das Wohl des Kindes war ihr vermutlich wichtiger als die soziale Tarnung in einem Proletenstadtteil. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, dass Sabines Unnahbarkeit durch ihre großbürgerliche Herkunft zu erklären sei, die sie nur zögernd preisgab. Inzwischen hatte ich auch erfahren, dass der Vater des Kindes aus diplomatischen Kreisen stammte, aber ich konnte es mir nicht merken, zu welchem der vielen afrikanischen Staaten er gehörte. Die Wohnung in Neukölln, die sie abgelehnt hatte und nun mir anbot, schien mir zunächst zu groß und zu teuer, ich wollte keinen Mietvertrag am Hals haben, solange kein Job in Aussicht war. Aber als Ulrich auftauchte, der davon redete, dass auch noch ein Design-Kollege nachkommen könnte, überzeugte er mich sofort zuzugreifen, damit wir zu dritt diese Wohnung teilen, um uns dann kompromisslos auf die Jobsuche zu konzentrieren. So kam es, dass Martin mich nach einem quälend langen halben Jahr loswurde und endlich wieder seine Wohnung für sich allein hatte.
Ich brachte meine Matratze, die Transportkisten und die Schallplattensammlung mit einem gemieteten Kleintransporter in die neue Wohnung und noch bevor ich mir Regale und ein Bett besorgen konnte, zwang mich Ulrich, gemeinsam mit ihm loszuziehen, zu den vielen Film- und Fernsehproduktionsfirmen, deren Namen ich seit Monaten in den Gelben Seiten angeglotzt hatte. Immer noch fand ich bei jeder einzelnen meine Gründe, weshalb ein Erfolg unwahrscheinlich oder aussichtlos sei, doch Ulrich ließ keine Ausreden gelten, wir fuhren mit der U-Bahn durch die Stadt und gingen leibhaftig zu jeder der vielen Adressen, eine nach der anderen. Hallo, wir sind neu in Berlin, er ist Kameramann, ich arbeite als Cutter, könnt ihr uns brauchen? Schon nach ein paar Tagen gab es die ersten heißen Spuren, die dann zum Erfolg führten. Ulrich bekam die Gelegenheit, für einige Auftraggeber als Tagelöhner zu arbeiten, was bei Cuttern weit verbreitet war. Ich fing einige Wochen nach dem Umzug tatsächlich in einer kleinen Videofirma an.
Mein Privatleben wurde nun wie mit einem Schalter ausgeknipst, ein dreiviertel Jahr lang war ich ständig mit der Kamera unterwegs. Wir drehten billige Kurzbeiträge die irgendwo im Privatfernsehen gesendet wurden. Feuilletonistisches aus den neuen Bundesländern, kurioses aus Berlin. Damit sich das bei unserem niedrigen Minutenpreis für die fertiggestellten Reportagen lohnte, musste jeder Beitrag an einem, oder bestenfalls an anderthalb Tagen komplett abgedreht werden. Früh um sieben in Berlin losfahren, um zehn kamen wir dann in Rostock, Halle, Cottbus oder sonst einer medial unterversorgten Stadt an und dann hielt ich drauf, bis alles im Kasten war. Abends, zu unbestimmter Zeit, kamen wir zurück, steckten die Akkus ins Ladegerät und am nächsten Morgen fuhren wir wieder los. Ab und zu drehte auch der Chef, ein lässiger Selfmademan, der angeblich als Kameramann im Balkankrieg zu Geld gekommen war. Jetzt war ich der Kameramann, allzeit verfügbar für die sechs bis acht Reporterinnen, alles attraktive Frauen, die mit einer eher theoretischen Ausbildung direkt von der Uni kamen und die sich dann für ein bescheidenes Pauschalhonorar um alles kümmern mussten: Thema finden, Kontaktpersonen recherchieren, Drehtermine ausmachen und letztendlich mit mir und einem Praktikanten hinfahren, filmen, interviewen, zurückfahren, schneiden, texten.
Den Schnitt machten sie mit dem Chef oder einem Tagelöhner, aber da war ich schon wieder auf der nächsten Tour, filmte Ostalgietreffen, Pantoffelwerkstätten, Erfindermessen, Puppendoktoren, Wendeverlierer und alles, was den gelangweilten Fernsehzuschauer auf harmlose Weise unterhalten könnte. Beim Lokalfernsehen hatte ich das auch gemacht, aber nun waren die Auftraggeber pingeliger, die Reporterinnen ambitionierter und die Drehorte lagen teilweise Hunderte von Kilometern entfernt. Unzählige Staus, die sich an den Baustellen des Verkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ bildeten, mussten wir überwinden, um dorthin zu gelangen, wo wir das Wesen der geschundenen Ossi-Seele zu ergründen suchten. Solange wir uns als Team gut verstanden, waren unsere Touren spannende Ausflüge mit Kamera, aber nach einem halben Jahr schwirrte mir der Kopf und wenn man mich fragte, wo ich zwei Wochen zuvor gewesen war, dann fiel es mir nicht mehr ein. Ein klarer Fall von Reizüberflutung. Aber es fragte mich niemand, da ich mich meist nur mit den Leuten unterhielt, mit denen ich bei der Arbeit gemeinsam im Auto saß.
Ab und zu traf ich mich zum Bier trinken und lästern mit Achim. Mein Mitbewohner Ulrich war inzwischen auch ganz gut im Geschäft. Bei ihm häuften sich die Spätschichten, denn er war ein ausgesprochener Nachtmensch. Auch Wochenendschichten übernahm er gern, da sie besser bezahlt wurden, was dazu führte, dass wir uns in der Wohnung oft Tagelang überhaupt nicht sahen. Dann zog Henry ein, von dem ich später erfuhr, dass er gar nicht Henry hieß, sondern eigentlich Herbert, aber das war ihm zu altmodisch. Mit großem Hallo begrüßte er mich, obwohl wir uns noch nie gesehen hatten. Er behauptete, Ulrich hätte viel von mir erzählt und meine Filme kannte er angeblich auch. Er musste also in einer meiner Filmvorführungen gewesen sein. Henry kam am gleichen Tag, an dem Achim mir die Theaterstückeschreiberin vorstellen wollte. Seit Wochen oder Monaten war kein Besuch bei uns vorbeigekommen und dann plötzlich so viele. Henry saß, als ich nach Hause kam, in dem kleinen Zimmer, das Ulrich und ich nur für den Wäscheständer benutzten, auf einem großen aufblasbaren Ball an einem ganz kleinen Tisch, vermutlich ein Klapptisch und auf dem kleinen Tisch stand einer von diesen kleinen Macs mit dem 7-Zoll-Bildschirm. Neben dem Computer lagen ein kleines Notizheft und ein sauber angespitzter Bleistift. Er sei heute Nachmittag eingezogen, Ulrich hätte ihn hereingelassen, sagte er. Alles sei prima und er schon fertig mit dem Einräumen, da er nichts besitzen würde außer der Matratze und einem Koffer mit ein paar Klamotten. Beim Reden deutete er auf die Dinge, von denen er gerade sprach und ansonsten hätte er nur den „Kleinen“, wobei er den Mac tätschelte. Im Kühlschrank sei Bier und er habe Chili con Carne gekocht. Als er das sagte, fiel mir auf, dass ich mich beim Betreten der Wohnung über den Essensgeruch gewundert hatte. Unser größter Topf war bis oben voll, damit es sich lohnen würde und Chili con Carne könne man drei Tage lang problemlos aufwärmen. Das war gut, denn ich hatte Hunger.
Kaum saßen wir in der Küche, die Bierflaschen gerade geöffnet, klingelte es und Achim mit der Theaterstückeschreiberin, die ich noch nie gesehen hatte, standen vor der Tür. Kein Wunder, erklärte Achim, sie sei gerade erst nach Berlin gekommen, irgendeinen Nachwuchstheaterschreibepreis hätte sie schon eingeheimst und jetzt würde sie ganz in der Nähe wohnen, weil er, Achim, ihr eine günstige Unterkunft besorgt hätte und da Theater eine dem Untergang geweihte Kunst sei, wolle er sie mit mir bekanntmachen. In seiner überheblichen Art fügte er hinzu, dass 99 Prozent der Theater zurecht untergehen würden, weil sie quasi mit Absicht und vollsubventioniert von unfähigen Theaterleuten an die Wand gefahren würden, aber es gäbe ja noch dieses eine Prozent von guten Leuten, von Theatermachern, die tatsächlich auch mal eine originelle Idee hätten und da würde die Theaterstückeschreiberin, obwohl sie noch blutjung sei, dazugehören. Jetzt stellte sich für Achim allerdings die Frage, ob er das zu lassen dürfe, ob es sich lohnen würde, der Theaterstückeschreiberin dabei zu helfen, sich gegen die 99 Prozent der unfähigen, aber in hochbezahlten Intendanten- Regie- und Dramaturgenpöstchen verschanzten Theaterkunstverderber aufzulehnen, oder ob es nicht sinnvoller sei, sie von ihrem Theaterstückschreibewillen zu exorzieren und der Filmkunst zuzuführen.
Ich will keine Filme machen, das machen doch alle, sagte die Theaterstückeschreiberin. Jetzt bemerkte ich, dass sie, wenn sie sich erregte, in ein deutliches Sächseln verfiel. Filmkultur ist Leitkultur, proklamierte Achim und Henry fügte hinzu: im Guten wie im Schlechten. Denn es sei doch der Film einerseits vom Mainstreamwillen, vom Blockbusterwahn, von der selbstgewählten Einschaltquotenhörigkeit völlig korrumpiert, aber andererseits sei der Film, also genaugenommen der Kinofilm, auch das Medium, das ernstgenommen werde, in dem die Weltkultur stattfinde. Der Film sei DIE Kunstform des 20 Jahrhunderts. Das war Wasser auf Achims Mühlen, da zog er sogleich über die Theatermacher her, die angeblich immer noch nicht kapiert hätten, dass sie all das, was der Film sowieso viel besser könne, nicht mehr zu tun bräuchten, aber unbeirrt würden sie in zwangsneurotischer Symbiose mit ihrem vergreisten Bildungsbürgerspießerpublikum an dem festhalten, was nicht mehr zu retten sei. Und Henry: Die Filmfestivaltouristen von heute sind die Bildungsbürgerspießer von morgen. Ich stellte unterdessen fest, dass das Chili con Carne wirklich gut schmeckte, wollte auch mal was sagen: Die Avantgarde kann nichts dafür, wenn sie irgendwann bei den Spießern ankommt. Dafür dürfen wir sie nicht verachten, ganz im Gegenteil. Wenn ihr niemand folgt, dann verdient sie ihren Namen gar nicht. Das ist banal, entgegnete die Theaterstückeschreiberin, obwohl ich damit für sie Partei ergreifen wollte und Henry widersprach mir auch noch: Die vermeintlichen Spießer, die der Avantgarde folgen, sind keine Spießer, Spießer sind die, die zurückbleiben. Achim wiederum: Inzwischen sind doch die, die sich unreflektiert an den neuesten technischen Errungenschaften aufgeilen, die wahren Reaktionäre, das sähe man an dem allgegenwärtigen Videodreck. Damit meinte er wohl pauschal das Privatfernsehen, oder etwa Videokünstler? Achim hatte, so kannte ich ihn, das Bedürfnis, immer noch etwas deftiger zu schimpfen als die anderen. Henry hingegen war der kritische Kulturfeingeist, ein Designer eben, der überall auf der Suche nach der feinen Trennlinie zwischen dem Geschmacklosen/Schlechten, und dem Edlen/Guten war.
Die hübsche Theaterstückeschreiberin, der wir alle drei imponieren wollten, saß zwischen uns und vermied es, irgendjemandem zuzustimmen. Auch nicht mir, obwohl ich versuchte, mit meiner Argumentation weit und poetisch auszuholen, was mir in der hitzigen Diskussion nur gelang, weil Achim sich gerade Chili con Carne auf den Teller schaufelte, und Henry, dadurch abgelenkt, kurze Erläuterungen zur Zubereitung gab. Das kollektive Menschheitsbewusstsein werde sich durch die geistige Entwicklung verändern. Und vermutlich sei die Veränderungsgeschwindigkeit relativ konstant, da jeder einzelne Mensch seine Zeit brauche, um sich an neue Lebensbedingungen anzupassen, und gleichzeitig finde der Austausch der Menschen durch das Wegsterben der Alten und das Nachwachsen der Jungen ebenfalls in einer konstanten, oder sogar sinkenden, Geschwindigkeit statt. Die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung sei allerdings keineswegs konstant, sie habe sich in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten drastisch beschleunigt. So wie beim Überschallknall, der dann auftrete, wenn die Geschwindigkeit der Schallquelle höher sei als die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Schalles, gebe es auch bei der Menschheitsbewusstseinsentwicklungsgeschwindigkeit einen kritischen Wert, der dadurch definiert werde, dass die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts die Entwicklungsgeschwindigkeit der mentalen Auffassungsgabe überhole. Dann befänden wir uns im kritischen mentalen Überschallbereich, den man vielleicht als „Entwicklungshypergeschwindigkeit“ bezeichnen könnte.
Das sagt mein Opa auch, kommentierte Henry und Achim lobte das Chili con Carne. Wo ist denn der Flaschenöffner? fragte die Theaterstückeschreiberin, die tatsächlich schon ihr erstes Bier leer hatte. Dann kam auch noch Ulrich nach Hause, der sich ebenfalls auf das Bier und das Chili con Carne stürzte und dabei ein paar Sätze mit Henry austauschte, ob er in dem kleinen Zimmer zurechtkommen würde. Während das Gespräch begann, sich um WG- und Lebensumstände zu drehen, schaute Ulrich die Theaterstückeschreiberin immer wieder verwirrt an, bis er plötzlich mit der völlig unvermittelten Frage herausplatzte, ob sie denn gerade im Rahmen eines Stipendiums an einem Theaterstück über eine Doppelkopf spielende Männerrunde schreiben würde, und die Doppelkopfspieler seien eigentlich eine linke Spaß-Guerilla, die Aktionen gegen die Treuhandanstalt plane. Diese Frage ließ uns alle aufhorchen, erst recht, als die Theaterstückeschreiberin sie bejahte. Da war Ulrich plötzlich aus dem Häuschen, denn das sei der Wahnsinn, vor einer Stunde habe er noch am Schnittplatz gesessen, denn er schneide gerade einen längeren Bericht, eine umfangreiche Reportage, über Künstler, die sich mit den Verfehlungen und Missständen der Wiedervereinigung auseinandersetzten. Er sei leider nur der Cutter und er habe nicht einmal alles geschnitten, aber heute, gerade heute, sei es darum gegangen, ein Interview mit der jungen, gerade mit einem Preis und einem Stipendium geehrten Theaterstückeschreiberin zusammenzukürzen. Deshalb habe er sie gerade eben auf dem Monitor gesehen und jetzt säße sie in seiner Küche, das sei ein Zufall, der ihn völlig verwirre, erklärte Ulrich und in der Tat war er sichtlich durcheinander.
Aufgekratzt erzählte er, dass der Reporter gesagt habe, die Schriftstellerin sei noch jung und auch nicht so wichtig, da dürften wir auf keinen Fall von ihr mehr Sekunden drin haben als von dem altehrwürdigen DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden, der an ach so vielen runden Tischen gesessen habe, dessen Interview aber leider stinklangweilig und unambitioniert gewesen sei, weil, so vermutete der Reporter, er Hunger gehabt habe, aber der quasi verbeamtete öffentlich-rechtliche Kameramann habe nicht länger warten wollen, wegen der Überstunden, und da habe man das Interview mit dem DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden überstürzt vor dem Bankett machen müssen, obwohl es danach bestimmt viel besser geworden wäre. Deshalb hätten sie am Schneidetisch aus dem tollen Interview mit der jungen Theaterstückeschreiberin schnell eines der vielen guten Statements herausgeholt und sich dann lange damit gequält, das verschnarchte Genuschel des DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden durch eine geschickte Montage interessant wirken zu lassen. Die Reportage wäre besser und stringenter, wenn man den DDR-Schriftstellerverbandsehrenvorsitzenden komplett rausgelassen hätte, aber, so die Logik der Programmmacher und Redakteure, viele Leute würden es sich dann gar nicht anschauen, sie bräuchten immer einen bekannten Namen. Wenn da nur No-Names vorkämen, auch wenn sie tolle Nachwuchspersönlichkeiten seien, dann schaue sich das der Normalzuschauer NICHT an, dann wisse man als Redakteur gar nicht, wie man den Zuschauern im Programmheft und im Infotext den Beitrag schmackhaft machen solle. Allerdings, und dann machte er eine Pause, um die Theaterstückeschreiberin groß anzuschauen und uns schaute er auch groß an, erst dann rückte er mit seiner Frage raus: Ob sie denn wirklich Marianne Wurststock heiße? Oder ob das ein Künstlername sei?
Natürlich heiße ich so, antwortete sie und dann ging die Diskussion erst so richtig los. Die Designer, Ulrich und Henry, waren davon überzeugt, dass dieser Name auf keinen Fall beibehalten werden dürfe, es sei denn, sie wolle Heimatromane oder Kochbücher schreiben, ich wiederum pochte immer wieder auf die Originalität und Bedeutungsschwere, die diesem Namen innewohne, aber Achim versteifte sich darauf, Authentizität als moralische Notwendigkeit zu definieren. Schriftsteller seien in einer symbiotischen Beziehung mit der Wahrheit verstrickt, da sei die Abkehr vom eigenen Namen ein eklatanter Sündenfall. Nur die Groschenheftschreiberlinge verwendeten Pseudonyme. Henry ging gar nicht auf Achims Moralappell ein, dazu sei, seiner Meinung nach, die Lage zu ernst. Sie müsse schnell handeln, forderte er, denn das Einzige, was noch schlimmer als ein untauglicher „Produktname“ sei, sei ein Wechsel des Produktnamens, wenn sich dieser bereits im Bewusstsein der Kunden verfestigt habe. Ulrich bot sogar an, bei einer sofortigen Umbenennung der Theaterstückeschreiberin könne er dafür sorgen, dass sie in der wichtigen Fernsehreportage, die gerade im Entstehen sei, bereits mit dem neuen Namen genannt werde. Dagegen lief Achim Sturm, ihn bringe ja schon allein die Wortwahl zur Weißglut, „Produktname“ und „Kundenbewusstsein“, es gehe doch hier um Marianne und ihre Schriftstellerei, was eine persönliche, intellektuelle und künstlerische Position sei und kein Schokoriegel. Dann holte er zu einer weitgespannten Anklage aus, die darin gipfelte, dass Designer und die mit ihnen verbündeten Werbefuzzis die Steigbügelhalter des Kapitalismus seien und sowieso nur die Absicht hätten, die Kultur und Kunst entweder für ihre niederen Ziele zu instrumentalisieren oder, sofern ihnen das nicht gelänge, in den Schmutz zu treten. Seine Argumentation war so überzogen pathetisch, dass wir uns alle prächtig amüsierten und unter großer Erheiterung nicht nur die nächste Runde Bierflaschen geöffnet wurde, sondern auch eine Flasche Wodka auf den Tisch kam. Ich forderte Achim auf, die Diskussion damit zu beenden, dass er einen Toast auf die echte und einzige Marianne Wurststock aussprechen solle, was er mit der nötigen Ernsthaftigkeit tat. Ins Bett gingen wir erst, als das Bier und der Wodka alle waren.

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Auch wenn Marianne Achims Vorschlag, dass sie zum Film konvertieren solle, ablehnte, half sie mir bei einigen Projekten. Zum Glück, denn seit ich in Berlin lebte, waren meine künstlerischen Aktivitäten weitgehend eingeschlafen. Am Anfang deprimiert und motivationslos, dann überarbeitet. Doch inzwischen steckte die kleine Firma, die mich Tag für Tag auf Trab gehalten hatte, offensichtlich in Zahlungsschwierigkeiten. Das Geld wurde Monat für Monat mit größer werdender Verspätung auf mein Konto überwiesen und den Chef sah man kaum noch. Die Aufträge gerieten ins Stocken, was mir sehr gelegen kam, den nun hatte ich auch unter der Woche manchmal einen Tag frei oder nur einen kurzen Arbeitstag. Während ich anfing, mir wieder Gedanken zu machen, wie ich meine begonnenen Filme zu Ende bekäme und was ich danach versuchen könnte, schauten sich meine Reporter-Kolleginnen nach anderen Jobs um und dadurch entstanden Beziehungen, über die auch ich ab und zu bei neuen Auftraggebern einen Einsatz als Kameratagelöhner bekam. Es sah also schon viel besser aus als bei meiner Ankunft in Berlin, ich hatte einen Fuß drin im Geschäft. Nachdem mich Achim mit Marianne bekannt gemacht hatte, konnte es endlich wieder damit losgehen, dass ich Geld verdiente UND eigene Filme entstanden.
Die 16-mm-Aufnahmen, die ich unter großen Mühen im Dezember auf dem Land gedreht hatte, waren jetzt, über ein Jahr später, immer noch nicht vertont. Marianne bestärkte mich darin, einen poetischen Text zu schreiben, den sie mit ihrer weichen Stimme für mich einsprechen wollte. Dieses Konzept machte dort weiter, wo meine Liveperformance mit den vergessenen Dingen aufgehört hatte. Einen Knalleffekt gab es wieder nicht, aber ich fand die Atmosphäre dicht genug, den Schnitt präzise, den Text perfekt. Marianne hatte ein paar Änderungen daran vorgenommen, gegen die ich mich zunächst sträubte, aber rückblickend musste ich neidisch feststellen, dass sie ganz schnell und ganz genau bemerkt hatte, wo meine Formulierungen zu lasch und zu beliebig waren.
Bereits vorher hatte Tina mir per Post eine Audiokassette mit Aufnahmen ihrer Band geschickt. Die Band habe sich gerade aufgelöst, aber trotzdem käme sie selbst erst einmal nicht nach Berlin, es sei, wie sie sich ausdrückte, für sie noch etwas zu erledigen. Bestimmt eine neue Affäre, sagte ich mir- Wenn Tina sich in Schweigen hüllte, steckte meist eine Liebschaft hinter ihrer Geheimnistuerei. Auf der Rückseite der Kassette gab es ein wunderbares Gezupfe von Hans auf der akustischen Gitarre, unterlegt mit einem minimalistischen Bass und einem dezenten Gezirpe von Tinas Synthesizer. Das passte hervorragend zum Film. Die Gitarre zur spröden Schlechtwetterlandschaft und das Gezirpe zu den Kratzern, die ich in das Material geritzt hatte. Die Besonderheit des Filmes bestand inzwischen darin, dass ich in wochenlanger Kleinarbeit in jedes einzelne Bild mit einer Nadel tiefe Kratzer eingefügt hatte. Einen Strahlenkranz um den Kopf der Hinterhofkinoprogrammdirektorenschwester oder zuckende Blitze in die Hände von Gitarren-Hans. Das sah gut aus, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in dem Film nicht viel passierte. Deshalb brauchte ich zusätzlich den Text, der mir aber erst einfiel, nachdem ich die Theaterstückeschreiberin kennengelernt hatte.
Sie kam mit in den Schnittraum der No-Budget-Liebhaber, wo wir die Audiokassetten mit ihrer Stimme und mit der Musik von Tinas Band auf ein perforiertes Magnetband überspielten, wozu ein mannsgroßes Perfobandaufnahme- und Abspielgerät, ein sogenannter Perfoläufer, nötig war. Das perforierte Magnetband ließ sich in den Schneidetisch mit den vielen Rollen und Zahnrädern einlegen und entweder passte man den Ton an das Bild oder das Bild an den Ton an. Jeweils mit Schere und Klebelade. Die Länge des Musikstückes stimmte, da gab es nicht viel zu tun, aber der Text war kürzer als der Film. Damit die Textpassagen an die richtige Stelle gelangten, musste Stille eingefügt werden, wofür es ein spezielles blaues Plastikband gab, das allerdings gerade nicht zu finden war. Einer von den No-Budget-Liebhabern, der im Hinterzimmer an einem tschechischen Projektor herumschraubte, rief mir zu, das Blauband sei im Regal. Das war ein sehr vager Tipp, denn das Regal nahm die gesamte Längswand des schmalen Raumes von oben bis unten ein, vollgestapelt mit nützlichen und nutzlosen Geräten, die eventuell irgendwann einmal zum Filmemachen gedient hatten oder dienen könnten. Marianne stieg auf die Leiter und suchte ganz oben, wo sie eine Filmklappe fand, mit der sie ein paar Mal freudig klappte: die erste, die zweite und die dritte. Ich durchsuchte mehrere Koffer, in denen Baustrahler und Kabeltrommeln verpackt waren, Ersatzmagazine für eine 35-mm-Kamera, Stative in den unterschiedlichsten Qualitäten für Kameras und Lampen, jede Menge Kartons mit Ersatzteilen für optische Geräte, noch mehr Kabeltrommeln und Mehrfachsteckdosen, alles Mögliche, nur kein Blauband. In einer unauffälligen Reisetasche entdeckte Marianne eine aufblasbare Fickgummipuppe, was uns amüsierte. Unser Gelächter sorgte dafür, dass der No-Budget-Liebhaber aus dem Nebenzimmer kam, eine Rolle Blauband in der Hand, und uns erklärte, dass Gummipuppen für Stunts, vor allem für Stürze von Gebäuden, die einfachste Lösung seien. Man müsse sie natürlich entsprechend anziehen, wie bei allen Stunts. Er legte das Blauband auf den Schneidetisch und verschwand wieder. Als Marianne von der Leiter stieg, erklärte ich ihr, dass man statt des Blaubandes genauso gut unbespieltes Magnetband nehmen könne, wovon genügend neben dem Schneidetisch herumliege, aber mit dem blauen Band sähe das Hindurchschlängeln der geschnittenen Audiospur durch die Zahnräder und Umlenkrollen viel besser aus als bei eintönig braunen Magnetband. Außerdem hatte das den Vorteil, dass sich jeder Texteinsatz vorher ankündigte, denn ähnlich wie die Schlange in dem Computerspiel, das ich so gerne mit Martin spielte, schob sich die Grenze zwischen dem stummen blauen Band und dem bespielten braunen Magnetband von der Spule links kommend durch die Rollen, und wenn das Magnetband in der Mitte an dem großen Tonkopf anlangte, ertönte die Stimme Mariannes, die wir durch Verkürzen oder Verlängern des Blaubandes an die richtige Position brachten. Das schneiden und kleben machte Spaß und die Zeit verging dabei wie im Flug.
Marianne hatte gerade ihre zweite Flasche Bier genommen und saß auf dem Fensterbrett des offenen Fensters, um zu rauchen. Ich wechselte die Musikspur mit der Geräuschspur und versuchte ihr zu erklären, dass ich noch beliebig viele weitere Spuren hinzufügen, aber leider immer nur zwei gleichzeitig am Schneidetisch würde hören können, weil es ein 6-Teller-Tisch sei, was bedeute, dass eine Bild- und zwei Tonspuren darauf Plätz hätten. Man müsse höllisch drauf achten, die Synchronität aller Spuren bei jedem Bearbeitungsschritt zu erhalten, sagte ich mit dem Unterton des Bescheidwissenden und Marianne riss die Augen auf, ein schriller Schrei erstickte ihr im Hals, den Arm warf sie vors Gesicht. Dann kapierte ich, dass es nicht die Angst vor einer asynchronen Tonspur war, die ihr den Schock eingejagt hatte, sondern das Regal hinter mir. Reflexartig drehte ich mich um. In den Augenwinkeln hatte ich die Gefahr bemerkt und was ich sah, versetzte mich für den Bruchteil einer Sekunde in Todesangst, denn das riesige Regal, das bis zu Decke reichte, kippte in seiner ganzen Breite auf mich zu wie eine sich überschlagende Welle in der Brandung. Die schweren Kisten mit den Baustrahlern sah ich direkt auf mich zukommen, ich riss die Hände nach oben, doch dann änderten die Kisten ihren Kurs, es fing an zu scheppern und zu klirren, alles fiel auf den Boden und die Lawine der No-Budget-Filmgeräteverleihkisten rutsche mir vor die Füße, aber nicht weiter.
Marianne und ich atmeten erleichtert auf. Die Schienen, an denen die Regalböden befestigt waren, hingen schief an der Wand. Sie hatten sich verbogen, aber nur im oberen Bereich gelöst. Durch die Schieflage waren die Kisten aus dem Regal herausgerutscht, zu guter Letzt sogar die Tasche mit der Fickpuppe. Dadurch wurden die Regalschienen entlastet und sie verbogen sich nicht weiter. Wenn das Regal steif gewesen wäre, hätte es mich bestimmt erwischt, da der Raum höher als breit war. Nun kam der No-Budget-Liebhaber aus dem Hinterzimmer angerannt und sagte, dass er schon immer befürchtet habe, die Dübel könnten zu schwach für das vereinte Gewicht des umfangreichen Technikbestandes sein. Wenn das vorhin passiert wäre, dann lägen wir jetzt unter dem Haufen, beschwerte sich Marianne und nahm einen nervösen Schluck aus der Bierflasche. Hoffentlich ist die Bolex nicht im Eimer, erwiderte der No-Budget-Liebhaber, die Arri sei ihnen erst neulich geklaut worden und dann hätten sie gar keine funktionierende 16 mm-Kamera mehr. Er wühlte wirr im Technikhaufen herum. Schließlich fragte er, ob wir mit dem Filmschnitt fertig seien, er müsse erst mal aufräumen und den Schreck verdauen. Er solle sich nicht grämen, meinte Marianne, der Fickpuppe sei bestimmt nichts passiert, die sei ja für Stürze vorgesehen. Ich rollte unterdessen meine Tonspurmagnetbänder und den Rohschnitt des Films zusammen, steckte alles in die Tasche und wir gingen, ohne die vereinbarten 20 D-Mark Schnittplatzmiete zu bezahlen.
Für Perfoband, Blauband und die Überspielung von Kassette auf das Perfoband seien auch jeweils soundsoviel Pfennige pro Meter zu berechnen, erklärte ich, als wir die Straße entlangliefen. Marianne war entsetzt. Ob ich denn auch noch dafür bezahlen wolle, dass man uns fast umgebracht habe? Das sei doch keine Absicht gewesen, sondern nur Fahrlässigkeit, die daraus resultiere, dass sich die armen No-Budget-Liebhaber alles vom Mund absparten und sich leider keine größeren Dübel hätten leisten können, weil sie stattdessen lieber eine Rolle Blauband kauften. Das seien Technik-Onanisten, behauptete Marianne, sie hätte das durch die Entdeckung der Puppe durchschaut und ich solle auch aufpassen, dass ich nicht zu sehr auf all die Zahnräder und Umlenkrollen schaue, sondern auf die Mattscheibe. Den Zuschauer interessiere es nicht, ob dieses komische blaue Band wie eine Schlange im Computerspiel über den Schneidetisch gekrochen sei. Aber wenn ich keine Beziehung zu der Technik habe, mit der ich arbeiten muss, dann macht mir das keinen Spaß. Willst du einen guten Film machen oder willst du Spaß haben? Beides, sagte ich und schüttelte wirr meine Arme. Das ist ein hoher Anspruch. Mal sehen, ob dir das gelingt. Dann nahm Marianne einen großen Schluck und leerte damit auch ihre zweite Bierflasche, die sie an den Straßenrand stellte. Jetzt können wir etwas trinken gehen, sagte sie, denn wir standen sowieso gerade vor einer von Achims vielen Lieblingskneipen.

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Also erst mal einen Whisky auf den Schreck. Dann nutzten wir den Münzfernsprecher, um Achim dazu aufzufordern, zu uns zu kommen. Wir brauchten jemanden, dem wir die unglaubliche Geschichte mit dem Regal erzählen konnten. Achim freute sich über unseren Anruf, er müsse sowieso etwas Wichtiges mit Marianne besprechen, aber vorher habe er noch einen dringenden Termin, der nicht lange dauere. Leider im falschen Stadtteil, deshalb sollten wir schon mal unbeschwert ein Bier trinken. Er käme so schnell es ginge und das war letztendlich eineinhalb Stunden später.
Wir unterhielten uns zunächst über Mariannes Projekt, dem Stück über die Doppelkopf spielende Spaß-Guerilla, mit der sie dank Achims Hilfe ganz gut voran käme. Achim quatsche ihr nicht in ihr Projekt rein, wie sie es zunächst befürchtet hatte, sondern er kümmere sich nur um die Rahmenbedingungen. Wenn es ums Kreative ging, ließ er sie in Ruhe und würde ausgiebig an seinem eigenen Drehbuch herumphantasieren. Achim schreibt ein Drehbuch, fragte ich ungläubig und Marianne wies darauf hin, dass sie das Verb Herumphantasieren benutzt habe, wenn es ums schreiben ginge, gäbe es verschiedene Probleme. Ich kannte Achim als jemanden, der begeistert mitmachte, aber selbst keine Initiative ergriff. Mangel an Selbstorganisation oder Probleme mit den eigenen Ansprüchen, vielleicht auch einer, der die Aufgaben zu lang vor sich herschiebt. Deshalb hatte Achim chronische Probleme mit dem Studieren und ich wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht, ob er noch für irgendein Fach immatrikuliert war.
Marianne, die Achim erst seit einigen Monaten kannte, meinte, ihr gegenüber habe er sich dahingehend geäußert, dass es ihn nicht interessiere, zu studieren, da ihm der akademische Wissenserwerb zu schwerfällig und unzeitgemäß erscheine, er sei an der Praxis orientiert. Um Kulturmanagement erfolgreich zu betreiben, müsse man keinen Doktor über das Verhältnis von Adorno zur Naturwissenschaft schreiben, habe er gesagt, weil der Agentur-Chef, für den Achim regelmäßig an Werbekampagnen arbeitete, tatsächlich über Adorno promoviert habe. Achim behauptete gegenüber Marianne, er wisse, wie schädlich es sein könne, wenn eine derartige geisteswissenschaftliche Überqualifikation bestehe. Nach meinem Informationsstand bestand Achims Mitarbeit an Werbekampagnen darin, dass er Plakatierer war. Weil er keinen Führerschein hatte, sogar nur Hilfsplakatierer. Man könnte auch sagen, Plakatierungsassistent: abends zu zweit mit dem Leimtopf und einem Stapel Plakaten im Kleinbus durch die Stadt, wobei der Fahrer grundsätzlich weniger mit dem Leim zu hantieren hat, damit das Auto sauber bleibt. Angeblich würde man ganz gut verdienen, wenn man schnell genug plakatiere, wenn man gut im Blick habe, wo ein frischer Bauzaun stehe, der groß genug für 50 Plakate nebeneinander sei oder ab und zu die Plakate der anderen Agentur überklebe. In der Tat könne eine intensive Beschäftigung mit Adorno die Klebegeschwindigkeit negativ beeinflussen, gab ich zu bedenken. Achim rede allerdings nicht nur von seinem Drehbuch, sondern auch von der Drehbuchförderung, die er beantragen wolle, erklärte Marianne. Dazu konnte ich nichts sagen, weil ich nichts darüber wusste, aber ich formulierte die Vermutung, dass Achim nur sehr langsam mit dem Drehbuch vorankommen würde. Das sei wohl zutreffend und das Hauptproblem, räumte Marianne ein. Es gäbe viele Fragmente der Handlung, doch die Anfangsszene bereite ihm die allergrößten Schwierigkeiten, immer wieder komme Achim zu ihr und sage, er hätte einen neuen Anfang und solange er sich nicht entscheide, wie es losgeht, könne er nicht mit dem Schreiben beginnen, geschweige denn fertig werden und so stünde er sich selbst im Weg. Vielleicht sollten wir ihm unter die Arme greifen, als Dreierteam, schlug sie vor, und da kam er gerade herein, entschuldigte sich für die Verspätung, die wegen einer unnötigen U-Bahnbaustelle entstanden sei, aber er hätte gute Nachrichten, denn Marianne könne schon am Wochenende bei einem mit Achim befreundeten Akkordeonlehrer einziehen, eine wunderbare Wohnung im mittelwestlichen Westen, womit Achim den großbürgerlichen Norden von Wilmersdorf meinte.
Marianne schaute allerdings fast so verschreckt wie in dem Moment, als das Regal auf sie niederstürzte, denn sie wusste überhaupt noch nichts von ihrem Umzug. Das könne sie auch gar nicht, da sich die Ereignisse gerade überstürzten, aber er, Achim, habe alles im Griff. Die Besitzerin der Wohnung, in der Marianne untergebracht sei, käme vorzeitig aus Südamerika zurück. Ein schwuler Gigolo habe sie hemmungslos ausgenutzt, da hätte sie nun die Schnauze voll von der Copacabana. In zwei Tagen werde sie am Flughafen ankommen, habe sie Achim mitgeteilt. Achim sollte ja eigentlich nur die Blumen gießen. Dass Marianne die kompletten vier Monate ihres Stipendiums in der Wohnung zu verbringen gedenke, sei der Frau in Südamerika gar nicht bewusst gewesen, obwohl Achim ihr durchaus mitgeteilt habe, ein junges schriftstellerisches Talent werde die Wohnung temporär zum Schlafen nutzen. Soweit das Problem, aber die Lösung sei bereits unter Dach und Fach, man müsse nur ein bisschen aufräumen und dann den Umzug am Freitag durchführen. Da haben wir ja noch 36 Stunden, scherzte Marianne, wobei Achim einschränken musste, dass der Akkordeonlehrer darum gebeten habe, nicht vor 15 Uhr bei ihm aufzutauchen. Da wir kein Auto hatten, sollte Mariannes Umzug mit der U-Bahn stattfinden. Ihr Hausrat bestand immerhin aus drei Umzugskartons, zwei Schreibmaschinen und sechs Reisetaschen, dazu noch ein Müllsack mit ihrem Federbett und ein großer Rucksack. Achim als Organisator und Bescheidwisser meinte, das sei alles kein Problem, er bringe noch ein paar Leute mit, Henry werde doch bestimmt auch gern helfen, vielleicht sogar Ulrich. Jeder nehme einen Gegenstand und Karawanen seien ein seit Jahrtausenden bewährtes Transportmittel, besonders effektiv, wenn man es mit der U-Bahn kombiniere. Seinem Optimismus wussten wir nichts entgegenzusetzen, wechselten das Thema, erzählten endlich unser Abenteuer mit dem Regal im Schnittraum. Das erheiterte uns alle, aber Marianne war es dann doch nicht wohl in ihrer Haut. Ein Bier später wollte sie wissen, was das für ein Akkordeonlehrer sei und ob der denn in dieser Wohnung Akkordeon spiele, oder ob da womöglich nicht nur er, sondern auch noch seine Schüler musikalisch aktiv würden, ganz abgesehen davon, dass sie ja eigentlich gar nicht in einer WG zu wohnen beabsichtige. Achim beschwichtigte: Der sei supernett und spiele super gut und es sei vor allem super praktisch, dass das so schnell ginge, weil Achim das super organisiert habe, sie könne ja mal probieren, eine Wohnung zu bekommen, von Mittwoch auf Freitag.
Ja, das war beachtlich, aber was Achim organisatorisch nicht gelang, war die Verfügbarkeit von hilfswilligen Freunden zu gewährleisten, die unsere Karawane bilden sollten. Meine beiden Designer-Mitbewohner hatten irgendeinen geheimnisvollen Termin, wegen dem sie schon seit Tagen tuschelten. Also standen wir zum vorgesehenen Zeitpunkt, Freitag um 14 Uhr, zu dritt in Mariannes Hauseingang und warteten vergebens auf weitere Helfer. Immerhin hatte ich ein ordentliches Transportrollbrett dabei. Da konnte ich die drei Umzugskartons drauf stapeln, legte noch den Müllsack mit dem Federbett oben drauf und wenn ich auch fast nichts sah, konnte ich die Fuhre ohne große körperliche Anstrengung über den Bürgersteig rollen. Achim schaffte es, die sechs Reise- und Umhängetaschen gleichzeitig zu tragen, Marianne schulterte ihren Rucksack und nahm in jede Hand eine der Schreibmaschinen. Sie arbeite ja lieber mit der mechanischen Reiseschreibmaschine, aber es gäbe auch Momente, da sei es unabdingbar, dass sie die elektrische verwenden könne. Zuhause habe sie sogar noch eine weitere riesige Schreibmaschine für großes Papier, also DIN A3. Verschiedene Maschinen für verschiedene Stimmungen. Leider wisse man nicht im Voraus, welche Stimmung sich einstelle und sie wisse auch nicht im Voraus, mit welcher Schreibmaschine sie auf diese Stimmung reagieren müsse. Das sei ihr aber dann, wenn sie schreiben wolle, sofort klar. Die elektrische Schreibmaschine sei mit einer Korrekturfunktion ausgestattet, da könne man bis zu 50 Buchstaben mit der integrierten Tipp-Ex-Rolle wieder verschwinden lassen. Das sei für Anträge und Geschäftsbriefe sehr vorteilhaft. Ob aber künstlerisches Schreiben in einer Wohnung, in der ein Akkordeonlehrer sein Unwesen treibe, überhaupt möglich sei, das könne sie zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschätzen.
Inzwischen waren wir am Treppenabgang der U-Bahnstation angelangt. Achim ging mit allen sechs Taschen die erste Treppe hinunter, legte diese unten ab, kam mir entgegen, als ich den ersten Karton runtertrug, nahm sich auch einen, dann wir beide nochmal hoch für den letzten Karton, das Rollbrett und den Müllsack mit dem Federbett. Marianne sagte, ihr Rucksack sei schwer, das Absetzen zu kompliziert und mit dem Rucksack die Treppe rauf und runter zu gehen zu anstrengend, ganz zu schweigen von der Gefahr, dass jemand ihre Schreibmaschinen klaue und beteiligte sich deshalb weder an den Umzugskartons, noch an den Taschen und wir erledigten auch den nächsten Treppenabsatz zu zweit mit der gleichen Prozedur, während Marianne alles überwachte. Einer der drei Kartons enthielt viele Bücher, Mariannes Reisebibliothek, und war schwer zu tragen, aber ansonsten ging es leicht von der Hand, zumal wir keine Eile hatten.
Am Bahnsteig angelangt, ließen wir eine U-Bahn vor unserer Nase wegfahren, damit wir zum Einsteigen alles bereitlegen konnten. Es erwies sich als möglich, das Rollbrett mit den drei Kartons durch geschicktes Hochlupfen von der Bahnsteigkante aus direkt in die U-Bahn hineinzuschieben. Dadurch verlief auch das Einsteigen reibungslos. Wir fuhren einen Umweg, um einen Umsteigebahnhof zu nutzen, bei dem wir am gleichen Bahnsteig bleiben konnten. Allerdings mussten wir noch ein zweites Mal umsteigen und beim zweiten Mal ging es eine Treppe hoch und zwei runter. Da begannen wir zu schwitzen und die dritte U-Bahn war richtig voll. Die anderen Fahrgäste drückten sich ohne zu murren eng zusammen, um uns Platz zu machen. Zu dritt umringten wir unseren Umzugskartonturm mit der Mülltüte oben drauf.
Achim fing an, uns vorzurechnen, dass er ein Auto hätte ausleihen können, einen Führerschein den er sowieso nicht besaß, vorausgesetzt. Aber das Auto hätte er in Pankow abholen, über eine Stunde nach Neukölln fahren und danach wieder zurückbringen müssen. Also zwei Arbeitsstunden. Die Fahrt mit dem Auto von Wohnung zu Wohnung hätte schätzungsweise eine Dreiviertelstunde gedauert, während wir jetzt eine Stunde brauchten, allerdings zu dritt, und so hätten wir unter dem Strich eineinviertel Arbeitsstunden gespart. Fragt sich nur, warum so viel Leute mit den Autos hin- und herfahren würden, wenn doch ein Umzug mit der U-Bahn so schön praktisch sei, fragte Marianne. Alles Opfer der Konsumpropaganda, sagte ich, und Achim versuchte mich mit dem Hinweis zu bestätigen, dass drei Freunde ein Auto ersetzten, wobei er aber konkrete Beispiele, wie er das meinte, verschwieg. Mariannes Problem sei nämlich, dass sie nur zwei Freunde habe, also uns beide. Zwei Freunde langten aber nur, um einen Urlaub zu sparen. Nichtsdestotrotz, erwiderte Marianne, fühle sie sich gerade, als habe sie ausgerechnet jetzt einen Urlaub dringend nötig, trotz ihrer zwei Freunde.
Als wir am Ziel-U-Bahnhof die Treppe hochkamen und Marianne auf ihre Frage, wo denn nun die Wohnung sei, erklärt bekam, dass es jetzt leider noch fünf bis zehn Minuten zu Fuß weiterginge, da setzte sie mit einem großen Seufzer ihre zwei Schreibmaschinen ab und sagte, dass sie das nicht schaffe. Achim, der sich gerade mit den sechs Taschen belud, war nicht aus der Ruhe zu bringen. Kein Problem, sagte er, gehen wir eben zweimal. Marianne wurde in ein Straßencafé gesetzt, drei der sechs Taschen blieben bei ihr, ebenso die Schreibmaschinen und der Rucksack. Wir beiden Männer wollten gerade loslaufen, da hielt uns Marianne zurück, weil sie etwas aus dem obersten Umzugskarton herausholen wollte. Eigentlich wären die Kartons, wie sie sagte, nach der Wichtigkeit ihrer Inhalte gestapelt gewesen, oben sei all das drin, was sie jederzeit und überall brauche, aber durch unsere ständigen Treppauf- und Treppabtransporte seien die drei Kartons inzwischen falsch sortiert. Achim hob also den obersten Karton herunter, dann auch den zweiten und schließlich nahm sich Marianne aus dem untersten Karton zwei Blatt Schreibmaschinenpapier, verharrte dann kurz und nahm noch ein drittes Blatt. Drei genügen auf jeden Fall, sagte sie, ihr könnt jetzt gehen. Während wir die Kartons wieder stapelten, wunderte ich mich über uns. Wir hätten uns durch Mariannes Verhalten durchaus die Stimmung verderben lassen können, aber keineswegs, wir waren beide bester Laune und es amüsierte uns, als Marianne uns als letzten Hinweis hinterherrief, dass wir die Kartons in der Wohnung auf jeden Fall wieder entsprechend ihrer Wichtigkeit zu stapeln hätten. Das taten wir dann auch.
Während wir ohne Gepäck beschwingt zum U-Bahnhof zurückgingen, zeigte sich Achim ausnahmsweise ernsthaft besorgt, denn das Problem mit dem Akkordeonlehrer sei ja wirklich eine tickende Zeitbombe. So wie er Marianne kenne, werde spätestens am Montag die Schreibblockade einsetzen, an der dann vordergründig natürlich der Akkordeonlehrer und sein unermüdliches Akkordeonspiel schuld sein werde, aber letztendlich falle das auf ihn, Achim, zurück. Er habe zwar Marianne mit dem Versprechen nach Berlin gelockt, sich um eine Unterkunft zu kümmern, aber diese Verwicklungen in Brasilien habe er beim besten Willen nicht vorhersehen können.
Ursprünglich, und das erfuhr ich erst jetzt, habe Marianne während der ganzen Zeit ihres Stipendiums in der Uckermark sitzen sollen, dort stehe ein Stipendiaten-Landhaus für sie zur Verfügung, aber die Unsitte, junge Literaten in trostlose Provinzkäffer zu schicken, wo sie für ein paar hundert Mark pro Monat voll der Dankbarkeit für die Stiftung herumzusitzen hätten, habe schon genügend Talente in die Depression getrieben, und deshalb habe Achim mit dem Heimleiter, also dem Literaturagenten und Kunstkurator des Stipendiaten-Landhauses, den Deal ausgehandelt, Mariannes Anwesenheitspflicht in der Uckermark auf einige Pflichtveranstaltungen zu reduzieren, damit sie ihre Zeit stattdessen in den Wohnungen verbringen könne, die Achim für sie in Berlin organisiere. Dort schreibe sie viel besser als in dem Landhaus, das, nebenbei bemerkt, zwar idyllisch an einem See läge, aber trotzdem eine nach DDR stinkende alte Bude sei. Dort würde Marianne sofort in Trübsinn verfallen. Was in Berlin nicht der Fall wäre. Außerdem könne er, Achim, sich in Berlin um sie kümmern, da gäbe es immer wieder einiges zu tun, um ihre vielen Alltagsprobleme zu klären.
Als wir am Straßencafé ankamen, war Marianne gut gelaunt. Sie hatte tatsächlich ihre mechanische Reiseschreibmaschine geöffnet und klackerte munter mit den Tasten. Dazu trank sie einen Kaffee und meinte, sie würde uns gern erst einmal ein Bier spendieren, das sei sie uns für die Mühen schuldig. Wir hätten es doch bestimmt noch nicht eilig. Bevor sie in die Akkordeonhölle einziehe, müsse sie noch ein paar Gedanken zu ihrem letzten Willen notieren. Sie sagte tatsächlich Akkordeonhölle und Achim begann erneut mit Lobpreisungen des ach so netten Akkordeonlehrers. Marianne meinte, er solle die Klappe halten, sie hätte ja noch zehn Wochen, um sich selbst eine Meinung zu bilden. Außerdem würde sie das Theaterstück zu Ende schreiben müssen, was aber, ehrlich gesagt, kein Problem sei, denn sie sei bereits so gut wie fertig, nur noch ein paar Korrekturen.
Wie es mit Achims Drehbuch stehe, wollte sie unvermittelt wissen, was Achim überraschte. Er habe eine neue Anfangsszene, in der die Wohnungsprobleme des tragischen Helden stärker betont würden. Der Film müsse unmittelbar damit beginnen, dass der tragische Held einen Einschreibebrief öffne und von der sofortigen Kündigung seines Mietverhältnisses erfahre. Ich fiel ihm ins Wort: erschwerend könne hinzukommen, dass er kein Auto und nur zwei Freunde habe. Achim nahm einen Schluck Bier, dann erklärte er mir geduldig all das, was ich nicht wusste, was aber Marianne schon etliche Mal angehört haben musste, denn sie warf mir einen verschwörerischen Blick zu und tippte dann in beachtlichem Tempo wieder auf ihrer Schreibmaschine herum. Der tragische Held habe gar keine Freunde, aber ein Auto, denn er sei Taxifahrer. Mit Leidenschaft, er liebe sein Taxi und er liebe die Menschen, die er herumfahre, doch diese positive Grundeinstellung bringe ihm immer wieder nur Ärger ein, immer wieder lehne er sich gegen den allgemeinen Defätismus auf und immer wieder sei er der Verarschte. Erst zum Ende wende sich das Blatt und in einem völlig übertriebenen fantastischen Showdown verschwänden seine Widersacher mitsamt der U-Bahn in einer sich plötzlich öffnenden Erdspalte, Berlin werde von einem Vulkanausbruch weitgehend zerstört und der Held erreiche mit dem letzten Tropfen Benzin die Stadt Schwedt, wo er hinfort ein glückliches Leben mit einer Tankstellenbesitzerin führe.
Was für ein erhabener Schwachsinn, dachte ich mir, dazu wusste ich gar nichts zu sagen, abgesehen davon, dass meiner Meinung nach der Vulkanausbruch schwierig zu filmen sein würde. Marianne lugte hinter ihrem inzwischen vollgeschriebenen Blatt hervor: Achim hätte mir alles falsch erzählt, das Ende sei überhaupt nicht wichtig und könne geändert werden, die liebenswürdigen Details im Alltag des Taxifahrers seien die Stärke der Handlung, soweit sie dies aus Achims bisherigen Schilderungen, die ich ja nicht kennen würde, beurteilen könne. Es gebe so viele Taxifahrer, die sich alle den Film anschauen würden, das sei ein riesiges Potential, bemerkte Achim, der noch nicht mal die Anfangsszene festgelegt hatte, aber offensichtlich schon intensiv darüber nachdachte, wie es an der Kinokasse klingelt. Alles recht unrealistisch, sagte ich. Das ist ja die Stärke des Drehbuchs, entgegnete Achim. Marianne zog mit Schwung ihr Blatt Papier aus der Schreibmaschine und sagte: Genau, das denke ich auch, aber jetzt ist es genug, wir gehen!

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Wir setzten Marianne in ihrem Zimmer ab, stellten die letzten Taschen um sie herum auf den Boden und da sie sich erbat, alles ungestört auspacken zu dürfen, gingen wir. Obwohl Achim eigentlich immer irgendetwas zu erzählen hatte, schwieg er jetzt. Ich auch. Das Straßencafé erinnerte uns an eine glückliche Zeit, die nur eine halbe Stunde zurücklag. Wir waren uns einig, dass es sich nicht lohnen würde, ohne Marianne nochmal dort herumzusitzen. Also fuhren wir ohne Verzögerung und unsere Wege trennten sich bereits nach zwei U-Bahnstationen. Dann befand ich mich allein zwischen den Menschen, die Zeitungen und Bücher in den Händen hielten. Hatte ich bei der Hinfahrt einen ganzen Umzugskarton voll mit der Reisebibliothek von Marianne dabei, musste ich mich jetzt mit dem zerflederten Rest einer liegen gebliebenen Tageszeitung zufrieden geben. Regierungswechsel in Italien, ein gewisser Silvio Berlusconi, Medienunternehmer, hatte die Regierung übernommen. Angeblich unglaublich reich, unglaublich einflussreich und unglaublich manipulativ, schrieb die Berliner Boulevardpresse und versuchte offensichtlich, mich ebenfalls zu manipulieren. Mit einem Foto, das unweigerlich dazu führte, dass einem dieser Mann mit dem selbstgefälligen Grinsen sofort unsympathisch war. Der Text lieferte die passenden Fakten zur impulsiven Beurteilung des Fotos. Das Foto war zweifellos gut ausgewählt worden, oder sah dieser Mensch auf allen Aufnahmen so abschreckend aus? Ich fragte mich, wie viele Agenturfotos am Wahlabend von einem Wahlsieger geschossen werden. Tausende? Wie viele sortieren davon die Fotografen aus? Wie viele Fotos lagen damals einer deutschen Zeitung vor, wenn sie abends die Wahlergebnisse aus dem 2000 km entfernten Rom bekam? Inzwischen hat sich die Anzahl der Fotografen vermutlich vermehrt, die Anzahl der Fotos vervielfacht. Über das Internet schwappt bei jedem öffentlichen Ereignis eine Welle von Bildern über die ganze Welt. Vielleicht hatte damals die Redaktion nur ein brauchbares Bild? Jenes mit dem selbstgefälligen Grinsen? Bestimmt nicht.
Ohne konkreten Grund nahm ich die Zeitung mit, als ich die U-Bahn verließ und hoffte, meine beiden WG-Mitbewohner würden in der Küche sitzen. Aber sie wähnten sich gerade auf einer höheren Bewusstseinsebene. Wegen dem Power Mac, den sich Henry am Nachmittag gekauft hatte. Das also war das Geheimnis der beiden gewesen, ein neuer Computer, das Super-Top-Modell, in dem ein Prozessor verwendet wurde, der zu einer neuen Generation gehörte, angeblich sensationell schnell, schneller als die anderen Macs und mit einer „Dose“, wie damals ein Rechner mit DOS-Betriebssystem genannt wurde, überhaupt nicht zu vergleichen.
Leider gab es keine Möglichkeit, mir diese Rechenleistung zu demonstrieren, denn die beiden schoben stapelweise 3,5-Zoll-Disketten in das Laufwerk und installierten irgendwelche Software, wobei sie von jedem Programm behaupteten, dass es total geil sei. Ab und zu begeisterten sie sich für eines der Computergeräusche, die der Mac ausstieß. Mich erheiterte ihre merkwürdige, kindliche Freude. Ansonsten schaute ich ihnen mit nur mäßigem Interesse über die Schulter. Nebenbei erzählte Henry, dass die Kiste schweineteuer gewesen sei, aber die Firma, in der er arbeite, habe einen großen Auftrag von einem Automobilkonzern bekommen. Eine ganze Serie hochwertig gestalteter Broschüren für eine neue Zielgruppe, kombiniert mit einer darauf abgestimmten Internetseite. Weil sie dafür weitere Leute einstellen wollten, sei er in der Hierarchie nach oben gerutscht. Er rechne damit, im nächsten halben Jahr total ranklotzen zu müssen, dafür habe er sich schon einmal im Voraus belohnt. Er sei einer der ersten in der ganzen Stadt, der so einen Power Mac besitze. Zwar gelang es ihm nicht, mir begreifbar zu machen, worin der technologische Quantensprung, der diesem Computer nachgesagt wurde, bestand, trotzdem herrschte bei beiden Designern ungetrübte Weihnachtsstimmung. Was wird aus dem kleinen? fragte ich mit Unschuldsmiene. Den kannst du haben, antwortete Henry, Ulrich will ihn nicht. Ulrich erklärte, er würde sich demnächst auch einen Power Mac holen, er müsse nur noch ein bisschen sparen und Henry fuhr fort, ich solle auf jeden Fall den alten Mac nehmen, denn mir traue er zu, dass ich mir aus reinem Pragmatismus, oder gar aus Sparsamkeit, eine Dose kaufen könnte und das müssten sie, Ulrich und er, als kulturbewusste Menschen auf jeden Fall verhindern, einerseits, um mich vor diesen abscheulichen Windows-Rechnern zu bewahren, andererseits wäre die Harmonie unsere Wohngemeinschaft durch eine solche Inhomogenität der Betriebssysteme ernsthaft gefährdet. Wer einen DOS-Rechner hat, den will Henry nicht als Freund haben, warf Ulrich ironisch ein. Das will ich wirklich nicht, meinte Henry mit unerwarteter Ernsthaftigkeit. Vierhundert und er ist deiner! Außerdem würde es ihm den Abschied erleichtern, wenn der kleine Mac im Haushalt bleibe. Das dachte ich mir auch. Es wäre ganz praktisch, wenn ich den Rechner von Henry übernähme, dann könne er mir helfen, wenn ich nicht weiterwüsste, sagte ich. Du wirst keine Hilfe brauchen, das sei das Gute an dem Gerät, während bei einer Dose ein Technikfreak für den Computer und ein Psychiater für die mentalen Folgeschäden des Users erforderlich seien. Trotzdem käme bei der Benutzung nichts Brauchbares raus. Ulrich nickte zu Henrys Polemik.
Ich ging in mein Zimmer und sah die alte Schreibmaschine auf meinem Arbeitstisch stehen, im Regal daneben die vielen Aktenordner mit den abgehefteten Drehbüchern, Texten, Ideensammlungen, Zeitungsausschnitten und Entwürfen. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um den Schreibmaschinenschutzdeckel vom obersten Regalbrett herunterzuziehen. Dann stülpte ich ihn über die Maschine und schob sie unter den Schreibtisch. Ich hätte sie auch gleich in den Keller bringen können, denn ich benutzte sie tatsächlich nie wieder, kein einziges Mal. Ohne Henry und Ulrich bei ihrer wichtigen Installationstätigkeit am Power Mac zu stören, holte ich mir den kleinen Mac aus Henrys Zimmer, stellte ihn auf meinen Schreibtisch. Er sah gut aus, aber vor dem Einschalten ging ich zum Geldautomaten und zog die gewünschten 400 Mark. Ulrich und Henry staunten, als ich das Geld auf den Tisch legte. Ich glaube, sie wollten etwas Witziges sagen, aber es fiel ihnen nichts ein. Während sie noch nach Worten suchten, klingelte das Telefon. Es war Marianne, die sehr paranoid klang: Hörst du es? Es ist so weit, er spielt. Dann verstummte sie und so sehr ich mich auch bemühte, etwas zu hören, waren es doch nur verwaschene Geräuschfetzen, die aus dem Hörer drangen. Akkordeonmusik konnte ich beim besten Willen nicht wahrnehmen. Er spielt, sagte sie. Hörst du es nicht? Ich meinte, es sei sehr leise. Ja genau, das ist das Problem, erwiderte Marianne, es sei so leise, dass es sie in den Wahnsinn triebe. Wäre es noch leiser, würde sie es gar nicht hören, wäre es etwas lauter, könnte sie es als Musik empfinden, aber es sei dazwischen, so dass sie die Musik nicht hören würde, solange sie auf den Tasten ihrer Schreibmaschine herumklappere, aber sobald sie eine Pause einlege, dringe die unterschwellige Akkordeongeräuschkulisse in ihr Hirn ein und lege sofort alle Bereiche lahm, die dazu geeignet wären, Literatur zu erzeugen. Was sollen wir dagegen unternehmen? fragte ich. Marianne antwortete überraschend gefasst: Nichts! Sie müsse sowieso noch mal in die Uckermark, dort könne sie zwei Tage länger bleiben, um die letzten Korrekturen am Stipendiaten-Text vorzunehmen und danach wäre die verbleibende Zeit in Berlin am besten damit zu nutzen, dass sie Akkordeon lerne, oder hätte ich eine bessere Idee? Oh ja, da fielen mir mehrere auf Eis liegende Projekte ein, bei der ihre Hilfe wertvoll sein könnte, oder der Zeichentrickfilm und mein neuer Computer. Das würde wohl genügen, sagte sie, unterbrach kurz das Telefonat, weil offensichtlich jemand mit ihr redete und berichtete mir dann, die Freundin des Akkordeonlehrers habe sie gerade darauf hingewiesen habe, dass in wenigen Minuten ein Gemüseauflauf serviert werde, um sie in der Wohnung willkommen zu heißen. Dann sei doch alles bestens, sagte ich, aber Marianne verriet mir flüsternd, sie möge weder Gemüseaufläufe noch WG-Kochabende. Doch als kleine Stipendiatin habe man ja keine Wahl, man müsse das alles über sich ergehen lassen, diese Begrüßungs-, Verabschiedungs-, Kennenlern- oder Belobhudeligungsveranstaltungen, Bergfeste, gesellige Abende, Besichtigungen und Einladungen bei Kulturfunktionären und Bürgermeistern. Aber sie sei im Kapitalismus angekommen und habe kapiert, was man für die 800 Mark pro Monat von ihr erwarte. Das Schreiben ihres Theaterstücks würde sie umsonst und sowieso machen, daran könne sie niemand hindern. Das Geld sei zum Überleben und für den Kulturrummel. Ich mischte mich ein: Der Gemüseauflauf werde das Verhungern verhindern und das gemeinsame Essen Hinweise auf die sozialen Gesetzmäßigkeiten ihrer neuen Wohnstätte geben, das diene doch letztendlich alles dem Erkenntnisgewinn und ohne Erkenntnisgewinn habe man nichts mitzuteilen und damit seine Berechtigung als Literat verwirkt. Widerspruchlos nahm Marianne meine Belehrung hin, sie gab sogar zu, dass sie Hunger habe und sowohl der Akkordeonlehrer als auch seine Freundin sympathische Menschen zu sein schienen. Sympathisch genug für ein Abendessen allemal, wenn sie nur nicht mit ihnen wohnen müsste, das beunruhige sie sehr. Ich wünschte ihr Guten Appetit und legte auf.
Danach kochte auch ich einen Topf Nudeln, aber meine beiden Mitbewohner waren nicht von ihrem Computer wegzulocken, sie hockten da den ganzen Abend. Ich hatte keine Ahnung, was es so lange zu tun gab.

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Ein Arbeitsgebiet, das für mich einen noch schlechteren Ruf als die Fernsehberichterstattung des Privatfernsehens hatte, waren die Seifenopern. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gab es die noch gar nicht. Seifenopern dreht man in einem Studio, das sich der Laie als Mischung aus Möbelhaus und Lampenladen vorstellen kann. Unten sind die einzelnen Handlungsorte aufgebaut, also die Stammkneipe, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Küche. Oben drüber hängen unglaublich viele Scheinwerfer. Die Schauspieler und diejenigen, die als solche bezeichnet werden, spielen dann ihre Dialoge und werden von drei bis vier Kameras gleichzeitig gefilmt. Ab und zu muss dann doch mal eine Szene in der realen Welt gedreht werden, also auf Straßen oder im Wald, aber auch an Schauplätzen, für die es sich nicht lohnt, sie im Studio aufzubauen: Schwimmbad, Fitnessstudio, Parkhaus. Durch eine glückliche Fügung war ich als Kameraassistent bei dem Team gelandet, das nur diese Außenaufnahmen im klassischen Stil mit einer einzelnen Kamera drehte. Dafür waren zwei bis drei Tage pro Woche veranschlagt. Anstrengende, lange Tage, meist Donnerstag und Freitag. Der Kameramann war viel älter als ich und hatte sein Leben lang immer mit chemischem Film gearbeitet, was damals bei Filmen und Serien normal war. Die neumodischen Videoapparate waren ihm suspekt und nicht vertrauenswürdig. Aber jetzt waren wir bei den Pionieren der Billigunterhaltung gelandet, wo man erkannt hatte, dass Fernsehreportagekameras für die Umsetzung banaler Seifenoperhandlungsstränge schneller, billiger und trotzdem gut genug waren. Meine Aufgabe bestand darin, den Kameramann von seiner Angst, die Videoaufzeichnung könne versagen, zu befreien. Ansonsten machte ich, was Assistenten eben machen: Technik transportieren, aufbauen, umbauen, abbauen, Akkus wechseln, Akkus laden, Kassetten beschriften und dafür wurde ich überraschend gut bezahlt. Dem Job bei der kleinen Produktionsfirma weinte ich unter diesen Bedingungen keine Träne nach. Der Chef war inzwischen untergetaucht und die Rechnungen und Mahnungen, die ich ihm schickte, hätte ich mir sparen können, das Honorar der letzten drei Monaten kam nie bei mir an. Aber die Seifenoper sanierte mich schnell und in jeder Woche hatte ich nach den zwei Arbeitstagen fünf Tage frei. Zunächst am Wochenende entspannen und dann blieben noch drei Tage für andere Auftraggeber oder eigene Filme.
Im Hinterhofkino startete der Hinterhofkinoprogrammdirektor eine wöchentliche Reihe mit unabhängig produzierten Kurzfilmen. Um sicher zu sein, dass meine Werke regelmäßig vertreten wären, half ich bei der Organisation und versprach, ab und zu auch mal als Vorführer mitzumachen. Allerdings stellte sich bald heraus, dass Super-8-Filme nur die Ausnahme bilden sollten und deshalb brauchte ich dringend noch mehr Werke auf 16-mm. Auch in anderen Bars, die sich kulturell ein bisschen aufplustern wollten, hatte man inzwischen einen der unzähligen tschechischen Filmprojektoren in der Ecke stehen, die alle angeblich aus irgendwelchen DDR-Kulturinstitutionen stammten. Je nach angestrebtem Subkulturintensitätsgrad gab es wöchentlich, monatlich oder unregelmäßig Filmabende mit den Werken der subkulturellen, cineastischen Basis, zu der ich mich zählen durfte. Außer dem „Abschied“ hatte ich inzwischen zwei kurze und sehr einfache Zeichentrickfilme auf 16 mm fertiggestellt, ein dritter war in Arbeit. Da ich mir in den Kopf gesetzt hatte, diesmal alle Zeichnungen farbig auszumalen, gab es an meinen vielen freien Tagen viel zu tun, damit ich bei vielen Filmabenden mit dabei sein konnte. Viele Zuschauer gab es da leider nicht. Fünfzehn bis fünfzig, manchmal auch nur fünf. Wenn dann die Filme zu Ende waren, kamen Gäste, die nur trinken wollten und quatschten schlau daher. Filme? Wie interessant, was denn für welche, muss ich mir mal anschauen. Aber dann nie wieder auftauchten. Trotzdem kam ich ganz gut herum, lernte andere Filmkulturpartisanen kennen und kannte inzwischen mehr Szenekneipen als Achim und Martin. Immer noch entstanden viele verborgene oder halblegale Bars im Ostteil der Stadt und es war die Zeit, in der es sich einbürgerte, jeden banalen Tresen, an dem ein paar Trinker lehnten und dabei Musik hörten, als Club zu bezeichnen. Durchs Nachtleben zu streifen, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, wo ich mich mit meinen Filmen reindrängeln konnte, gehörte zu meinem selbstgewählten Kulturauftrag. Jetzt hatte ich die richtigen Rahmenbedingungen dafür, denn abgesehen von meinen Arbeitstagen bei der Seifenoper oder anderen Kameratagelöhnerjobs konnte ich lang schlafen, ausgiebig Kaffee trinken und dann zeichnen. Manchmal kam jemand vorbei, um mir dabei zu helfen, am häufigsten Marianne. Ihr Leben beim Akkordeonlehrer schien gar nicht so quälend zu sein, wie von ihr vorhergesehen. Das gab sie aber nicht zu. So wie sie redete, war die Welt ihr gegenüber grundsätzlich feindselig und stellte sich ihrem Schreibbedürfnis in den Weg. Das Schreiben musste in einem permanenten Kampf gegen diese Widrigkeiten verteidigt werden. Die Angst, zu versagen und ganz hineinzufallen in die Geborgenheit der kapitalistischen Lohnarbeit kostete uns eine Menge Kraft. Auch Marianne schien diese Angst zu spüren, dabei war sie noch ganz unschuldig: Vier Semester Germanistik und Kulturwissenschaften, dazu ein paar Literaturwettbewerbe und das Stipendium, da musste sie sich noch nicht positionieren. Ich merkte trotzdem, wie sie das, was ihr eigentlich helfen sollte, das Studium und das Stipendium, als Widerstand empfand. Ulrich war zu dem Zeitpunkt sehr zufrieden, weil es ihm gelang, anspruchsvolle Aufträge zu bekommen, kritischer Fernsehjournalismus, während Henry ganz in die Propagandamaschinerie des Autokonzerns hineingetaucht war. Wenn wir uns ab und zu zuhause trafen, schwärmte er nicht nur von den schier unbegrenzten Möglichkeiten und Budgets, die seiner Agentur für die Werbekampagnen zur Verfügung standen, sondern auch von technischen Details und Design-Finessen der Autos. Er hatte eine charmante, intellektuelle Art, wie er von seiner Arbeit erzählte. Seine eingestreuten ironischen Bemerkungen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er voller Enthusiasmus dabei war. Mit Bewunderung beschrieb er, welch technischer und organisatorischer Aufwand betrieben wurde, um die bestmöglichen Fotos an den schönsten Orten der Welt zu machen und, sofern nötig, auch noch die schönsten Frauen daneben zu stellen, neben das Produkt. Aber bald sei das ausgereizt, meinte er, inzwischen werde jeder Kaugummi mit einem Hubschrauberflug über die Skyline von Manhattan beworben, das ginge nicht mehr lange so weiter. Da kommt dann irgendwann jemand, der macht eine Werbekampagne, die sieht SO aus, und dabei deutete er auf die Trickfilmzeichnung, bei der ich gerade den Himmel blau ausmalte. Bestimmt nicht, das ist viel zu schlampig, meinte ich, doch Henry ließ sich nicht beirren. Ihm würden die Zeichnungen gefallen, das sei ein schöner Gegenentwurf zu dem super-perfekten Design, das er bei der Arbeit abliefern müsse. Irgendwann werde ein Marketingexperte diesen Stil als zielgruppenrelevant erkennen und ausnutzen. Auch eine Ästhetik, die aus der Abgrenzung entstanden sei, könne instrumentalisiert werden, es ginge nur darum, die Kommunikationskanäle soweit einzugrenzen, dass die Zielgruppen herausgefiltert werden könnten. Da die Digitalisierung langsam in Fahrt käme, sei er zuversichtlich, dass wir diese Eingrenzung der Kommunikationskanäle noch erlebten und dann werde die Werbung wie ein Kumpel sein und könne sowohl schäbig oder schlampig, aber auch extravagant daherkommen. Ich protestierte. Meine Zeichnung sei analog und meine kleine Zielgruppe werbefeindlich. Sie solle vor dem Kapitalismus geschützt und ihm nicht ausgeliefert werden. Henry durchschaute, wie blauäugig ich in dieser Hinsicht war. Er versuchte mir zu erklären, was ich nicht verstehen wollte: Auf meine Zielsetzung käme es gar nicht an, ich habe da alle Freiheiten, aber es sei nur eine Frage der Zeit, bis jemand versucht, meine Zielgruppe mit meinen Stilmitteln anzubaggern. Je konsumkritischer eine Zielgruppe sei, desto unauffälliger und verlogener müsse sich die Werbung unter falscher Flagge einschleichen, anbiedern, aufdrängen. Jahre später, als ich den Fischfilm, den ich damals malte, ins Internet stellte, erschien neben ihm tatsächlich eine Werbung für Aquarien und Zierfische. Als ich die Werbung sah, erinnerte ich mich an Henrys Prognose und atmete auf. Diese Zielgruppentreffgenauigkeit empfand ich damals noch nicht als Gefahr, weder für mich noch für meine Freunde, die selbst entscheiden konnten, ob sie Zierfische haben wollten. Dabei ging es bei meinem Zeichentrickfilm gar nicht um Fische, sondern um ein kleines Mädchen, das beim Angeln ins Wasser fällt, in das Fischernetz eines Kutters gerät und in der Dosenfischfabrik gerade noch gerettet wird. Das war eine witzige Geschichte, die nichts mit Systemkritik zu tun hatte, aber sie war außerhalb der Mechanismen der Unterhaltungsindustrie entstanden, gehörte zur Subkultur und deshalb störte es nicht, wenn sie ungelenk hingekritzelt war. Ich gab mir beim Zeichnen wenig Mühe. Ein begnadeter Zeichner war ich sowieso nicht. Dieser schlampige Stil vergrößere die Distanz zu den professionellen Filmen und genau das gefiel meinen Zuschauern in den Hinterhofkinos und Kulturkneipen. Weil die Hintergrundflächen in jedem Bild mit Wachsmalkreiden von Hand ausgemalt waren, flimmerten dieses Flächen im Film. Dieser Effekt verstärkte sich noch, weil alle freiwilligen Gehilfen beim Kolorieren einen eigenen Stil pflegten. Ungefähr zwei Monate lang sollten meine Freunde spontan oder angekündigt vorbeikommen, um mir dabei zu helfen 1200 DIN-4-Blätter mit Zeichnungen auszumalen und wurden mit Kaffee, Kuchen, Wein und Bier versorgt. Henry kolorierte ganz präzise, aber er hatte gleich einschränkend gesagt, er werde nur Kleinigkeiten ausmalen, zum Beispiel Schuhe oder Mützen, keine großen Flächen. Martin kam gar nicht, er war zu beschäftigt und Ulrich, der nur einmal mitmachte, drückte die Stifte nicht richtig auf, so dass es bei ihm alles nach Pastellfarben aussah. Marianne hingegen war praktizierende Ausmalanarchistin, die sogar große Hintergründe kreuz und quer kritzelte, wie es kleine Kinder machen. Achim versuchte es ordentlich, schaffte das aber nie, manchmal verwechselte er sogar die Farben. Sabine war stilistisch merkwürdig uneinheitlich. Beim ersten Mal hatte sie ihr Kind dabei und schraffierte ein paar große, blasse Flächen, dann musste sie sich um ihre quengelnde Tochter kümmern.
Ein paar Wochen später kam sie allein. Diesmal bemalte sie mittelgroße Flächen von außen nach innen. Wie bei einer Landkarte, sagte ich, und sie meinte: Wie eine Geografin. Ob sie sich denn als Geografin fühle, fragte ich, aber sie meinte, sie fühle sich vor allem als Mutter, auch wenn sie zurzeit einige Seminare besuche. Mehr Seminare als in der Zeit vor der Schwangerschaft. Sie wisse gar nicht mehr, was sie damals alles vom Studieren abgehalten habe. Rückblickend erschien es ihr, als sei überhaupt keine Zeit zum Studieren gewesen, ständig Verabredungen und wichtige Veranstaltungen, all diese bedeutenden Kultur-Events, Filmfestspiele, Biennalen und Ausstellungseröffnungen, Wochenendausflüge, Kurztrips quer durch Europa und ab und zu auch mal eine Affäre, wobei die Wochenendausflüge und Kurztrips meist mit den Affären gekoppelt gewesen seien und die Kultur-Events und Ausstellungseröffnungen dazu gedient hätten, diese einzuleiten.
Jetzt habe sie NUR das Kind, das durchaus seine Zeit beanspruche, aber das sei letztendlich eine gute Zeit. Ansonsten kümmere sie sich um das Studium, das so gut wie fertig sei. Und dann? fragte ich, obwohl es mich gar nicht interessierte. Eigentlich wollte ich mehr über Sabines Affären hören, aber das „Und dann?“ war reflexartig herausgerutscht und ebenso reflexartig begann Sabine wieder davon zu erzählen, dass sie sich eine Doktorandenstelle unter den Nagel reißen könne, in Berlin oder anderswo, wobei das anderswo mit dem Kind nicht mehr so einfach sei wie damals, als sie kinderlos war. Während sie erzählte, kreiste ihr Stift beim Ausmalen und sie schaute ihn konzentriert an. Die langen blonden Haare fielen mit den Spitzen bis auf das Papier und bildeten eine Verbindung zwischen ihr und der Zeichnung. Schließlich bemerkte sie, dass ich sie beobachtete und warf mir einen kurzen liebevollen Blick zu, dessen Interpretation mich in Zweifel stürzte. Sollte er bedeuten, dass sie dringend die nächste Affäre brauchte, und zwar mit mir, oder war es die kumpelhafte Beschwörung, dass wir uns, nach all den Affären, die sie mit anderen haben würde, immer noch gut verstehen könnten?
Vermutlich Letzteres, denn als sie weiter über ihre Berufsaussichten redete, ließ sie sich doch noch zur Schilderung einer unergiebigen Liebschaft mit einer Person aus dem Lehrkörper, wie sie ihn bezeichnete, hinreißen. Das ließ offen, ob es sich um einen Assistenten, einen Dozenten oder einen Professor gehandelt hatte. Doch wie ich sie inzwischen einschätzte, war es mindestens ein Professor gewesen, wenn nicht sogar der Institutsleiter. Der Sex sei so fade und die dazugehörige Person so eingebildet gewesen, dass sie verbrannte Erde habe zurücklassen müssen und jetzt sei die von ihr zunächst als gut eingeschätzte Jobperspektive extrem aussichtslos. Es sei in der Tat sehr töricht von ihr gewesen, sich auf dieses Verhältnis einzulassen, aber der Charme und die tadellosen Maßanzüge der fraglichen Person hätten sie schwach werden lassen. Im falschen Moment und als strategische Maßnahme zur Verbesserung der Karriereperspektive total kontraproduktiv. Er habe es nur darauf abgesehen gehabt, dass sie einmal pro Woche seine Fickgespielin sein sollte, vielleicht auch noch auf zwei Dienstreisen pro Jahr, aber bei ihr sei die sexuelle Anziehung ganz schnell in puren Ekel über die Selbstgefälligkeit der fraglichen Person umgeschlagen. Jetzt habe sie den Salat. Wenn sie bis zum Ende ihrer Diplomarbeit das unkritische Betthäschen geblieben wäre, sähe alles besser aus. Dann schnappte sie sich eine neue Zeichnung und malte einen der vielen Fische knallrot aus, was falsch war, die Fische sollten bräunlich-grün sein. Aber ich war von ihren offenherzigen Ausführungen so überrascht, dass ich darauf verzichtete, sie wegen dieses Fehlers zurechtzuweisen.

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In diesem Moment kam Marianne dazu, unangekündigt, aber sie wusste ja, dass ich am Wochenende mit den Wachsmalkreiden am Tisch saß und auf Gäste wartete. Keinen Kaffee, sagte sie, sie müsse jetzt dringend zur Beruhigung ein paar Fische anmalen, und obwohl ich ihr Sabine vorstellte, nahm sie diese so gut wie nicht zur Kenntnis, sondern ereiferte sich darüber, dass Achim ruhiggestellt werden müsse, er liege ihr ständig mit seinem Taxifahrer-Epos in den Ohren. Sie könne das nicht mehr hören, es sei höchste Zeit, dieser Misere konstruktiv in die Augen zu blicken.
Beim Hinsetzen deutete sie auf Sabines letztes Blatt und erklärte, es freue sie, dass endlich auch rote Fische in meinem Zeichentrickfilm erlaubt seien. Ich sagte nein, aber das beeindruckte sie gar nicht, vielmehr schnappte sie sich den roten Stift und ein Blatt vom Stapel und schon wurde der nächste Fisch rot angemalt, denn es könne nicht sein, dass Sabine rote Fische malen dürfe und sie nicht. Mein langweiliger Realismus, die Fische grünlich-bräunlich und blau schimmernd auszumalen sei sowieso ziemlich verklemmt. Das sagte sie, als Sabine gerade wieder, so wie es von mir vorgesehen war, die blaue Kreide für ihren nächsten Fisch nahm. Dann fuhr Marianne fort: Achim käme unter dem Vorwand, er müsse die Lage zwischen ihr und dem Akkordeonlehrer beobachten, beschwichtigen oder beruhigen, jeden zweiten Tag bei ihr vorbei und erzähle ihr eine neue Variante seiner Filmideen. Speziell die Anfangsszene sei permanenten Änderungen unterworfen. Das gehe nicht so weiter, aber wozu hätte ich denn diesen hübschen kleinen Computer gekauft, der sei doch wie dazu geschaffen, dass wir uns zu dritt hinsetzten um die schwachsinnigen von den grandiosen Ideen zu trennen und den Drehbuchentwurf in ein Textverarbeitungsprogramm hineinzutippten, damit Achim diese Version für seine Anträge von Fördergeldern und sonstigen Akquisitionsbemühungen nutzen könne.
Ob es sich bei Achim um den Achim handle, den sie schon aus unserer süddeutschen Zeit kenne, fragte Sabine. Als ich das bejahte, meinte sie, dass sich das nicht lohne. Achim hätte sie schon zweimal in Diskussionen verwickelt und ihre Einschätzung laute: Achim sei schlicht und ergreifend ein Großmaul, aber kein kreativer Geist. Wenn sie nun höre, er würde immer wieder neue Ideen anbringen, dann müsse sie aus ihrer Erfahrung sagen, dass Ideen, die sich ständig wandelten, genauso nutzlos seien, wie nicht vorhandene Ideen. Der Prozess, der jetzt beginne, entgegnete Marianne, bestehe in der Festlegung. Ideen diskutieren, formulieren, hinschreiben, ausdrucken, Antrag stellen, fertig.
„Großmaul sein“ sei eine der immer wieder unterschätzten Charaktereigenschaften, behauptete ich. In unserer Gesellschaft der Chancengleichheit müsse man leider unglaublich viele Konkurrenten in den Schatten stellen. Dabei könne ein großspuriges Auftreten die Ausgangsbedingungen durchaus verbessern. Sabine malte den nächsten Fisch bräunlich-grün an, widersprach mir aber vehement. So wie sie das Wort Großmaul verstehe und benutze, bedeute es, dass die entsprechende Person keineswegs ein gesundes Selbstvertrauen habe, was durchaus eine gute Ausgangsposition für jegliches soziale Handeln sei, sondern dass es sich um eine Person handle, deren Qualifikationen deutlich und offensichtlich von der Selbsteinschätzung und -darstellung abwichen, und zwar im defizitären Sinn. Dies sei bei Achim der Fall. Es mache wenig Sinn, seine fixen Ideen aufzupäppeln. Das solle uns aber nicht davon abhalten, ihn als Freund zu schätzen oder sich mit ihm die Zeit zu vertreiben. Wir könnten auch seine durch und durch subjektive Wertschätzung nutzen, um unser eigenes Selbstvertrauen damit zu pflegen. Denn so wie sie es erlebt habe, sei Achim vermutlich mein größter, oder zumindest mein lautester Fan und sie, Sabine, könne sich gut vorstellen, dass er auch Mariannes Werk genauso lautstark anpreise. Ja, das würde er manchmal tun, doch zurzeit rede er nur von seinem Taxi-Film, beschwerte sich Marianne, und sie sei tief in seiner Schuld, dass müsse sie zugeben. Achim kümmere sich in der Tat unermüdlich um viele ihrer Angelegenheiten. Außerdem sähe sie durchaus Potential in Achims Drehbuchidee, es gäbe in der Kultur- und Kunstszene eine gewisse Unberechenbarkeit, und das Thema Taxi, da müsse sie Achim Recht geben, passe gut zum urbanen Zeitgeist. Es komme eben darauf an, wie man es ausgestalte. Außerdem ginge es nur darum, ein Treatment zu schreiben, oder ein Exposé, eben einen Text, in dem drin steht, wie man sich den Film vorstellen müsse. Damit könne man dann Drehbuchförderung beantragen. Und bekommen, aber bis dahin vergehe erst einmal ein Jahr. Sie könne dann helfen, wenn das Drehbuch ausgearbeitet werden soll. Sie wisse schon, dass es beim Film lukrativere Möglichkeiten gäbe als beim Theater. Außerdem gehöre es manchmal auch dazu, und bei dieser Erklärung wandte sie sich direkt an Sabine, das Unwahrscheinliche und Außergewöhnliche zu versuchen, denn das Normale, Naheliegende und Rationale machten sowieso viel zu Viele. Sie könne durchaus grüne Fische malen, aber nur, wenn es sein müsse.
Ja, es muss sein, sagte ich mit Bestimmtheit und dabei nahm ich ihr den roten Stift aus der Hand, mit dem sie gerade weitermalen wollte. Das sei mein Film, ich habe tagelang dafür gezeichnet, wochenlang, monatelang. Wer sich bereit erklärt, mir beim Ausmalen zu helfen, hat sich der stillschweigenden Übereinkunft zu unterwerfen, dass meine Vorgaben eingehalten würden. Wer rote Fische malen wolle, könne dies ausgiebig zuhause in Öl und auf Papier praktizieren, aber nicht bei mir. Jawohl Chef, sagte Marianne, und Sabine wiederholte diese prägnante Formulierung ebenso zackig, also mit der gleichen Mischung aus Ironie und Zustimmung. Ob denn Achim eine Beziehung mit Marianne anstreben würde, fragte Sabine, als wir uns alle drei über die Zeichnungen beugten und weitermalten. Ohne hochzuschauen antwortete Marianne, dass dieses Thema schon lange geklärt sei, da gebe es nichts mehr zu diskutieren. Nachdem sie ihn abblitzen habe lassen, sei er zum großen Bruder mutiert, der sich für all ihre irdischen Probleme verantwortlich fühle. Ich wunderte mich, wieso ich das nicht wusste, aber ich hatte nie gefragt.
Marianne begann nun, über ihren Ex-Freund herzuziehen, der ebenso wie Achim einen Helferkomplex habe und der aus gutem, wenn nicht gar allerbestem Hause käme, was ihn damals, zu Abiturzeiten, erst recht dazu animiert habe, sich der hilfsbedürftigen Mitschülerin mit den romantischen literarischen Ambitionen anzunehmen. Das habe sie gar nicht leiden können, und sie scheiße auf die gute Beziehung, die der Vater ihres Ex-Freundes sowohl zum Lektor, als auch zum Direktor des ortansässigen bedeutenden Verlagshauses gehabt habe. Wenn die Typen älter seien, wollten sie sich eine junge Geliebte als Statussymbol halten. Die jungen nähmen sich eine Künstlerin, die dann wie ein Rennpferd gehegt und gepflegt werde, damit man sie erfolgreich ins Rennen schicken könne, aber das funktioniere nur mit den schlechten Künstlerinnen, die durch diese umfangreiche Unterstützung und vielfachen Beziehungen trotzdem gut im Geschäft seien. Wenn nicht sogar besser als die tatsächlich guten Künstlerinnen! Am Anfang könne man als begabtes, ungesponsortes Individuum noch mithalten, aber die Zeit arbeite für die Rennstall-Künstlerinnen, sie hätten den längeren Atem in Form der monatlichen Leibrente und ihrer mit allen Wassern gewaschenen Unterstützer. Man könne sie nur ausbremsen, indem man es schaffe, unmittelbar nach dem Studium in die Professionalität zu springen, mit all den dazugehörigen Risiken. Risiken, wie die überall lauernden Typen aus der Unterhaltungsindustrie und Werbebranche, die unzählige junge Talente abfingen, damit die einfacheren Gemüter unter ihnen Seifenopern und die anspruchsvolleren Werbekonzepte produzierten. Ich reagierte nicht auf ihren Seitenhieb. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die vielen Details meiner eigenen Zeichnung und behielt dabei auch noch die malerischen Aktivitäten der Frauen im Blick. Die kompliziertesten Motive übernahm meistens ich selbst, ganz davon abgesehen, dass ich sie mir ausgedacht hatte.
Sabine und Marianne blieben noch lang, mehrere Stunden, redeten sowohl miteinander als auch mit mir, aber sie erweckten den Eindruck, als könnten sie nichts miteinander anfangen. Es schien mir, als warteten beide darauf, dass die andere endlich ginge, damit die Zurückbleibende über die andere lästern könnte. Ich fühlte mich nicht behaglich dabei, malte und malte, während das Gespräch sich immer mehr um die üblichen, banalen Berliner Kulturthemen drehte, was schließlich unverfänglich genug war, um mich zu beruhigen. Obwohl Marianne an jenem Nachmittag vergleichsweise ernsthaft argumentiert hatte, erschien sie mir im Vergleich zu Sabine aufgedreht, naiv, zwanghaft, aber sehr unterhaltsam. Zum Blumenrock trug sie ein orangenes King-Kong-T-Shirt, während Sabine in blassem Öko-Leinen eine Ikone der kultivierten Langeweile abgab. Eine um Kultur bemühte, großbürgerliche Edel-Schlampe, die mit ihren abgeklärten, pragmatischen Ratschlägen viel zu oft Recht behielt. Das gönnte ich ihr nicht, ich wollte, dass sich meine ideologisch fundierte Künstlerweltsicht bewahrheitet, oder gar Mariannes emotional überladene Spinnereien, aber nein, meistens passierte das, was Sabine aus ihrer konservativen Grundhaltung heraus vorhersagte. So sei die kapitalistische Welt eben, kommentierte sie den Lauf der Dinge, wenn ich mal wieder Anlass hatte, ein enttäuschtes Gesicht zu machen. Auch ihre Einschätzung Achims stimmte, wie sich umgehend zeigte. Einige Woche nach dem gemeinsamen Ausmalen brachte Marianne Achim zu mir. Wir setzten uns an den Computer, diskutierten dort drei Tage lang die Irrungen und Wirrungen, die der Taxifahrer im Drehbuchentwurf über sich ergehen lassen müsste, einigten uns trotz schlagkräftiger Gegenargumente für den Vulkanausbruch mit Zerstörung Berlins als surreale, aber gewünschte Handlungskomponente, schrieben das alles sorgsam in ausgefeilten Formulierungen nieder und gestalteten auch noch ein hübsches Deckblatt, so dass Achim schließlich ein wunderhübsches Exemplar seines Exposés in die Hand gedrückt bekam, damit er es, wie er immer wieder behauptet hatte, bei der Drehbuchförderung einreichen könne.
Als wir ein paar Tage später Marianne verabschiedeten, da ihre Zeit in Berlin abgelaufen war und sie zurück in ihre sächsische Heimat musste, stieß uns Achim ohne jegliches Schamgefühl vor den Kopf. Freudig erklärte er uns, er habe einen neuen Anfang für das Drehbuch. Marianne versuchte sich in Ironie, indem sie meinte, sie hätte schon geahnt, dass Achims Kreativität unsere Vorstellungskraft und erst recht das Format eines Exposés sprengen werde. Außerdem sei es doch unbedingt nötig, so erklärte Achim, dass der Held als Gegenspielerin eine Kontrolleurin aus der U-Bahn bekommen müsse. Davon war nie die Rede gewesen und wir hatten nun die Gewissheit, dass unsere Hilfe nutzlos gewesen war. Achim brauchte weder Drehbuch noch Exposé, er wollte nur darüber reden, aber dafür standen wir nicht mehr zur Verfügung. Marianne sowieso nicht, denn sie wurde von ihrem Vater, als er geschäftlich in der Stadt war, mit dem Auto abgeholt. Ihr Hausrat, den Achim und ich gut kannten, passte problemlos in den großen Kombi. Die Verabschiedung verlief schnell und schlicht, dann fuhr sie mit dem Vater davon. Der Akkordeonlehrer wollte uns noch zu einem Brokkoli-Auflauf einladen, aber ich fand einen wichtig wirkenden Vorwand, um zu gehen und ließ Achim allein zurück. Brokkoli konnte ich sowieso nicht leiden. In den folgenden Wochen ging ich Achim aus dem Weg.

4. Abschnitt: Video (digital)

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Marianne war also aus Berlin verschwunden und es stellte sich die schwierige Frage, wie ich die Lücke schließen sollte, die sie hinterließ. Aber es gelingt sowieso nie, die sozialen Strukturen frei nach Wunsch zu gestalten. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte sofort die nächste Künstlerin auftauchen können, aber es kam nur die kleine Tina vorbei. Die hatte zwar auch das unbändige Verlangen, etwas Kreatives zu tun, am besten mit der Super-8-Kamera, doch dieses Verlangen unterdrückte sie offensichtlich problemlos. In den zwei Jahren, die ich inzwischen in Berlin wohnte, war bei ihr noch nichts passiert, das gestand sie freimütig. Zu Hause habe sie immer noch die Filme liegen, die ich ihr damals gegeben hatte. Ob die denn überhaupt so lang haltbar seien? Die große Tina, habe ihr Versprechen, nach Berlin zu kommen nicht eingehalten, deshalb sei auch sie schuld an der Kunsttatenlosigkeit. Tatsächlich hatte auch ich die große Tina seit Jahren weder getroffen noch gesprochen. Nun stand ich im Hinterhofkino hinter dem Tresen, kümmerte mich um den Karten- und Bierverkauf, das machte ich ein paarmal pro Monat Die kleine Tina hätte ich um ein Haar gar nicht erkannt. Erst als sie mich fragte, ob ich mich noch an sie erinnern könne, wurde mir klar, dass ich mir keine Strategie zurechtlegen brauchte, wie ich diese attraktive Frau kennenlernen könnte, denn wir kannten uns schon. Sie hatte inzwischen rote Haare und eine eigentlich veraltete New-Wave-Frisur, vorne lang und hinten den Nacken ausrasiert, was ziemlich gut zu ihr passte. Damals, nachdem wir die Kameras getauscht hatten, sei sie erst einmal nach Indien gefahren und von dort mit einem neuen Freund zurückgekehrt. Der habe sie dann an den Prenzlauer Berg entführt. Nun habe sich das erledigt. Vor ein paar Monaten sei es ihr endlich gelungen, den Untermieter aus ihrer eigenen Wohnung rauszukriegen und jetzt wohne sie wieder um die Ecke vom Hinterhofkino und es sei toll, dass sie mich hier träfe. Was ich mit ihrer, oder vielmehr mit meiner 16-mm-Kamera inzwischen alles gemacht habe, wollte sie ebenfalls wissen.
Deshalb gab es für mich viel zu erzählen. Ich stand hinter der Bar, musste aber an jenem Abend zwischendurch immer wieder mal in den Vorführraum, wodurch ich besonders wichtig wirkte. Tina wiederum hatte eine halbwegs hübsche, aber langweilige Studienkollegin dabei, mit der sie eigentlich einen Film ansehen wollte, der aber gar nicht mehr lief. Das gab mir die Gelegenheit, Tina zu erklären, was sie verpasst hatte, denn ich kannte den Film und mochte ihn. Die Studienkollegin sagte kaum etwas. Wenn ich zwischendurch verschwand, um der neuen Praktikantin beim Filmrollenwechsel beizustehen, hatte Tina Gelegenheit, sich mit ihrer Begleitung zu unterhalten. Dann kam ich zurück, übernahm wieder die Theke und das Gespräch.
Ich versuchte, mit einigen Fragen Tinas Bekannte mit einzubeziehen, aber es war Tina, die immer wieder auf meine Filme oder meine Filmkameras zu sprechen kam. Irgendwann verabschiedete sich die Studienkollegin. Es war schon spät und beim letzten Rollenwechsel nahm ich Tina mit in den Vorführraum, wo die Projektoren vor sich hinschnurrten und die großen Spulen bis knapp unter die Decke des vollgestopften Raumes reichten. Es roch nach Zelluloid und den Geheimnissen, die dieses Material umschwirren. Zum Beispiel jenes, dass Filme längst nicht mehr aus Zelluloid hergestellt werden, da es sich dabei um ein extrem feuergefährliches Material handelt. Als wir uns an den Projektoren vorbei zur Steuereinheit schlängelten, berührte mich Tina sehr auffällig. Die blasse Praktikantin, die inzwischen kapiert hatte, wie man von einem Projektor zum anderen überblendet, schaute Tina skeptisch an, aber es war mit dem Hinterhofkinoprogrammdirektor verabredet, dass ich an ihrem ersten Abend alle Überblendungen zu überwachen hatte und inzwischen waren wir bei der letzten.
Die Spule, die jetzt startete, war das langweilige Ende eines angeblich epochalen neorealistischen antifaschistischen Dramas aus den italienischen 1950er-Jahren. Irgendein Institut für cineastische Weltkultur hatte eine frische Kopie spendiert, die jetzt in allen wichtigen Hinterhofkinos der westlichen Welt vor durchschnittlich fünf Zuschauern pro Vorführung lief. Die blasse Praktikantin würde später vier Kartons mit jeweils über 30 kg Gewicht die schmale Treppe runtertragen müssen, weil die Kopie noch am Abend abgeholt werden sollte. Ich hätte ihr gern dabei geholfen, wenn die ersten drei Filmrollen schon zerteilt und verpackt gewesen wären, aber sie meinte, das mache sie lieber am Schluss, wenn der Film zu Ende sei. Ich hingegen erhoffte mir, zu diesem Zeitpunkt mit Tina in ihrer um die Ecke liegenden Wohnung bereits intim zu werden. Letztendlich klappte das nicht, weil Tina mir zwar zum Abschied einen Kuss verpasste, mich aber mit einem undeutlichen Gemurmel, dass sie dringend schlafen und am nächsten morgen früh raus müsse, an der entscheidenden Straßenkreuzung in Richtung U-Bahn schickte.
Wenige Wochen später war es soweit, da nahm sie mich mit zu sich nach Hause. Am Tag davor hatte ich meinen persönlichen Rekord gebrochen und 18 Stunden lang am Stück gearbeitet, immer noch im Dienst der Seifenoper. Anschließend war ich in eine Bar gegangen, in der ich mich mit großzügig eingeschenkten Whiskys beruhigte. Ich schlief lange, trank nachmittags mit Henry und Ulrich Kaffee und als ich Hunger bekam, telefonierte ich mit Tina, um zu fragen, ob sie Lust auf Pizza hätte. Hatte sie nicht, aber stattdessen gingen wir am frühen Abend in das überteuerte Restaurant für vegetarische Spezialitäten, tranken guten Wein und dann, obwohl wir bis zu dem Zeitpunkt kaum Berührungen ausgetauscht hatten, war die Zeit reif für den ersten gemeinsamen Geschlechtsverkehr. Der wurde bei ihr zu Hause umgehend vollzogen, quasi aus dem Stand. Wir verzichteten darauf, uns in ihre dekorativen Sessel im Wohnzimmer zu setzen, oder in die Küche, es gab auch keinen Wein oder eine Zigarette, stattdessen ließ sie sich gleich ins große Bett fallen und ich hinterher. Es ergab sich wie selbstverständlich, alles war klar und einfach, harmonisch und sensationell zugleich. Nackt auf dem Bett liegend quatschten wir lange dummes Zeug, dann merkten wir, wie früh es war und in wunderbarem Einverständnis gingen wir um halb zehn noch mal raus ins gerade beginnende Nachtleben, sie trank Sekt, ich Campari. In unserer übermütigen, guten Laune verwickelten wir mehrere Leute, die sich an der Theke langweilten in eine Diskussion über die von mir aufgestellte These, dass wir im Kulturüberfluss leben würden und deshalb sei die Kultur nichts mehr wert. Die meisten gehörten irgendwie zum Kulturbetrieb, was zwar meine These stützte, aber sie fühlten sich alle dazu berufen, mir vehement zu widersprechen. Schließlich ergänzte Tina meine Forderung nach kultureller Verknappung mit ihrem Anspruch auf mehr Sex für Frischverliebte. Wir kehrten mit einer Flasche Wein vom Spätkauf in ihre Wohnung zurück, warfen die Klamotten ab und legten uns wieder in ihr großes Bett. Sie sagte mir, sie habe beschlossen, alles gut zu finden, und das werde sie jetzt auch tun. Die Dinge, die Menschen und die Verhältnisse gut zu finden, sei sehr angenehm, und vor allem sei es jetzt erst einmal ihr Bedürfnis, mich gut zu finden. Obwohl ich doch gar nicht hübsch sei, obwohl ich auch nicht erfolgreich sei, obwohl ich immer so viel über Technik reden würde und obwohl mein Schwanz inzwischen schlapp herunterhinge. Das alles mache mich nur noch liebenswerter. Ich fand nicht heraus, wo ihre Ironie begann, aber ihre Erläuterungen zur Welt waren in einer unbekannten, faszinierenden Weise kritisch und positiv zugleich. Oder war sie einfach zu hübsch, als dass ihr Gerede bei mir die übliche Esoterikwarnung hervorgerufen hätte? Aber auch später, als ich nicht mehr so geblendet von ihrem mit lässigem Schwung hingeworfenen nackten Körper war, konnte ich mich an ihrem unergründlichen Humor erfreuen. Ich glaube, sie hatte ein gutes Gespür für den Zeitgeist, den sie feinsinnig negierte. Künstlerin war sie keine. Sie interessierte sich für fast alles, was damit zu tun hatte. Sie wäre gern drin gewesen im System, aber ihr fehlte der Antrieb. Da war kein Bedürfnis, schöpferisch tätig zu sein, nur das Bedürfnis, dazuzugehören und mir zuzuhören, sich alles Mögliche von mir erklären zu lassen. Das war schmeichelhaft für mich, aber es war ganz anders als die Zusammenarbeit mit Marianne, die erst einmal für Jahre verschwunden blieb, sich nicht meldete und sogar ab und zu in Berlin vorbeikam, ohne sich auf ein Treffen mit mir einzulassen. Es sollen wohl wichtige Besprechungen mit Literaturagenten und Theaterdramaturgen gewesen sein, die ihre knappe Zeit beanspruchten, während ich mich immer tiefer in die Subkultur hineinmanövrierte, was gemeinsam mit der kleinen Tina ein besonderes Vergnügen war. Wozu Karriere, wenn man schon die hübscheste Freundin hat, die man sich vorstellen kann? Vielleicht, um eine Sicherheitsreserve zu schaffen, falls diese Freundin verschwindet oder älter wird? Oder um diese hübsche Freundin bei der Stange zu halten? Vielleicht aus Gewohnheit? Oder einfach nur um der Kunst willen, um etwas Großartiges zu schaffen? Für die großartige Seifenoper? Dafür strampelte ich mich ganz schön ab. Dazu ein eigenes Filmchen hier und ein Filmchen dort, ab und zu eine Lesung. In New York war inzwischen jemand auf die Idee gekommen, dass man Dichtung nicht nur in Denkerpose am Tisch vortragen könne, sondern dass es viel zeitgemäßer sei, eine mehr oder weniger effekthascherische Show daraus zu machen, die als Poetry Slam zu bezeichnen sei. Dabei schürt man die sowieso zwischen den Künstlern vorhandene Konkurrenz durch eine Publikumsabstimmung, die darüber entscheidet, wer sich als Gewinner des Abends fühlen dürfe. Angeblich, so behaupteten die Medien damals, seien die Slammer in New York extrem bedürfnislos, überambitioniert und so poesiefixiert, dass sie sich damit zufrieden gäben, wenn der Sieger einen Drink umsonst bekäme. Als der Trend nach Berlin schwappte, sprang ich gleich auf den fahrenden Zug, denn es entstanden zu der Zeit mehr Texte, als ich bei meinen Filmvorführungen lesen konnte. Obwohl ein Slam spontan durch die Anwesenheit der Poeten sein Programm entwickelte, gab es immer einen Organisator und Moderator. Einige von ihnen pflegten die lobenswerte Gewohnheit, den Inhalt der Eintrittskasse mit den Slammern zu teilen. Andere steckten sich alles in die eigene Tasche und im schlimmsten Fall gab es nicht mal Freigetränke.
Zur gleichen Zeit entwickelten sich die sogenannten Lesebühnen, quasi ein Instant-Kabarett, wozu man keine amerikanischen Vorbilder brauchte, aber ein paar Freunde. Die Lesebühnen bestanden in der Regel aus einer festen Gruppierung von Autoren und solchen, die es werden wollten, einem festen Wochentag und einem festen Ort. Die Autoren saßen auf einer Bühne und wechselten sich mit dem Vorlesen ihrer frisch geschriebenen Texte ab. Die meisten handelten davon, dass die Welt feindlich, kapitalistisch oder ungerecht sei, was aber den Erzähler nicht aus der Bahn werfen könne. Die bevorzugten Schauplätze dieser Geschichten waren die entsprechenden Mikrokosmen der alternativen Lebenswelt. Unsanierte Ostberliner Wohnungen, Künstlerboheme, Nachwende-Anarchie, Alltagsleben ohne Arbeit waren die wichtigsten Bestandteile der heraufbeschworenen Normalität. Touristen, Investoren und Behörden hingegen fungierten als Aliens, die in diese funktionierende Welt einzudringen versuchten, um sie zu zerstören. Diese typische Szenerie für die Geschichten der Lesebühnen gab es auch in vielen meiner Texte. Deshalb konnte ich mich als Gastautor bei einzelnen Veranstaltungen einschleichen, aber ich gehörte zu keiner festen Gruppierung. So viele Texte, dass ich jede Woche etwas Neues hätte vortragen können, schrieb ich auch wieder nicht.
Filme drehte ich allerdings noch viel weniger, da schaffte ich, wenn es gut lief, vier Fünfminüter pro Jahr. Mit Kurzfilmen durch die Subkultur zu ziehen, war eigentlich extrem uneffektiv, man brauchte immer wieder neue, obwohl die vorhandenen Filme den Aufwand ihrer Herstellung überhaupt noch nicht eingespielt hatten, und sie würden dieses Ziel auch nie erreichen. Inzwischen waren schon einige der tschechischen 16-mm-Filmprojektoren kaputtgegangen und mir schien, als seien die 16-mm-Filmabende in den kultur-aktivistischen Kneipen bereits auf dem Rückzug. Sogar im Hinterhofkino sprach der Programmdirektor davon, dass er darüber nachdenke, sich einen Videobeam zu besorgen. Das fand ich gar nicht schlecht, denn Martin hatte mit meiner Unterstützung ein paar Videominiaturen am Computer erzeugt, von denen ich gar nicht wusste, wie wir sie in der Öffentlichkeit zeigen sollten und ob ich das wollte. Damals machte ich mich oft über diese aufkommende Computerfixiertheit lustig, polemisierte über digitale Technik, digitale Kunst und dieses ominöse Internet, dessen Wichtigkeit sich mir zu dem Zeitpunkt noch nicht erschlossen hatte. Aber Martin kannte sich mit all dem aus, verdiente damit Geld und wenn wir uns trafen, fand ich sehr interessant, was er mir zeigte und erklärte. Trotzdem hatte ich keinen Antrieb mich damit zu beschäftigen. Da würde ich mich womöglich verzetteln.
Ach was! meinte Tina, ich solle alles machen, was gehe, das sei spannend. Wir saßen an einem Biergartentisch neben der Markthalle, Achim war auch mal wieder dabei. Wir Männer aßen Schnitzel, Tina einen Salat. Tina fragte mich auch noch, wieso meine Filme so selten auf Festivals liefen. Ich sagte, dass sie nur dann laufen könnten, wenn ich sie hinschicken und mich bewerben würde. Ob ich das denn mache? Ich sagte, nein, das mache ich nicht. Warum denn nicht? Weil ich es nicht leiden könne. Außerdem könne ich es auch nicht leiden, Anträge für Förderungen zu stellen. Wenn ich so einen Antrag nur sähe, überfalle mich eine Depression. Deshalb sei es mir auch nie gelungen, einen Antrag auszufüllen.
Ich wandte mich an Achim, ob er denn inzwischen irgendeine Förderung für seinen Drehbuchentwurf, den wir gemeinsam ausformuliert hatten, in die Wege geleitet habe. Achim behauptete, er müsse noch einen anderen Anfang für den Film finden und die Rolle der U-Bahnzugführerin klären. Das klang so, als hätten wir unseren Entwurf vor einer Woche beendet und er würde das Exposé nächste Woche fertig stellen. Dabei war Marianne schon vor über einem halben Jahr weggezogen. Damals hatten wir den Entwurf ausgedruckt und Achim überreicht. Die Monate gingen ins Land und nichts passierte. Ich unterdrückte einen kritischen Kommentar, der mir auf der Zunge lag und wurde von Achim überraschte, denn er erzählte, was mir noch unbekannt war: Angeblich habe er damals die Anträge für Marianne geschrieben, zum einen jenen, der zu ihrem Stipendium in der Uckermark geführt habe und danach habe er ihr nochmals geholfen, was erneut einem positiven Bescheid nach sich gezogen habe. Eigentlich sei es ganz einfach gewesen. Es war einfach, weil er keinerlei Zweifel daran hatte, dass Marianne die Richtige für ein Stipendium sei, sagte Achim und Tina fragte, ob oder wieso wir denn bei uns selbst zweifeln würden?
Wir sind notorische Zweifler, brummte Achim und ich nickte zustimmend. Das ist unsere einzige Qualität. Alles anzweifeln, alles besser wissen, wir sind das Gegenteil derjenigen, die etwas gut finden. Nur Schnitzel mit Bratkartoffeln sind über die allgegenwärtigen Zweifel erhaben. Dann steckten wir uns beide ein dickes Stück Fleisch in den Mund und spekulierten darauf, dass Tina die Vorteile vegetarischer Ernährung anpries, doch sie ließ sich nicht so schnell von diesem unliebsamen Thema ablenken und versuchte, uns zu überzeugen, dass es unter den gegebenen Umständen am besten sei, wenn ich Achims Anträge und Achim wiederum meine Anträge schriebe. Das wollten wir aber beide nicht. Eigentlich war ich mir zu fein, für Achim einen Antrag zu schreiben, er hatte schließlich überhaupt keine Reputation Aber indem ich an das bedeutungsschwangere Wort Reputation dachte, verfiel ich in einen Selbsthinterfragungsprozess. Ich sagte mir, dass ich doch eigentlich selbst wissen solle, was GUT und was SCHLECHT sei, aber indem ich mich auf die Werturteile beziehungsweise die fehlenden Werturteile anderer verlasse, erweise ich mich als ästhetischer Schwächling. Wenn ich dann auch noch die sogenannte Reputation ins Spiel bringe, dann orientiere ich mich an den Werturteilen der ungeliebten Kulturinstitutionen und Kunstbehörden, denen ich bisweilen jegliche Kompetenz zur Kulturbeurteilung absprach, zumindest dann, wenn sie im Widerspruch zu meiner eigenen Kulturbeurteilung standen. Andererseits war ich für eine völlig selbstbezogene Bewertung zu schwach oder zu kritisch, es funktionierte nicht MEHR zu sagen: ICH finde das gut, deshalb IST es gut. Ich, vor allem ich, könne gar nicht wissen, was denn wirklich gut ist, denn wenn ich es wüsste, würde ich es machen, dann wäre alles viel einfacher und ich schon WEITER. Was immer dieses WEITER auch bedeuten möge. Doch Achims Drehbuchidee mit dem Taxifahrer, daran zweifelte ich nicht im Geringsten, war schlicht und ergreifend Quatsch, dafür hatte ich schon viel zu viel Energie verschwendet.

30
Wir verbrachten einen Abend bei Martin, der den Abschied von seiner alten Zweizimmerwohnung mit Pizza und Wodka feiern wollte. Sein Büro für Internetgestaltung, das er mit einigen anderen Absolventen seiner digitalen Kunstakademie betrieb, war angeblich ein florierendes Geschäft. Er meinte, er habe alle eingeladen, die ihm wichtig seien. Das waren auffällig viele Geschäftskontakte. Ansonsten Kollegen, Studienfreunde und wir, also Achim, Tina und ich. In dem länglichen Raum, in dem ich damals auf der alten Matratze die ersten Monate in Berlin verbracht hatte, war die Zimmertür auf zwei Böcken als Tafel aufgebaut, ringsherum standen Klapphocker. Die Pizza stammte von irgendeinem besonders exklusiven Italiener, Wein gab es natürlich auch.
Auf beide Stirnseiten des Raumes wurde je eine Endlosprojektion direkt auf die stark renovierungsbedürftige Wand projiziert. Auf der einen Seite eine Super-8-Schleife aus Einzelbildern, die ich in Ost-Berlin gesammelt hatte, als dort noch jedes zweite Haus aussah, als würde es gleich zusammenfallen. Die andere Schleife hatten Martin und ich gemeinsam am Computer entworfen. Eigentlich beschränkte sich mein Beitrag auf ein paar spontane Anmerkungen, die Martin auf die Idee brachten, die Verwandlung von Plattenbausiedlungen zu Einfamilienhäusern und wieder zurück mit einem Animationsprogramm zu visualisieren. Visualisierungen wollen jetzt alle, erklärte er mir damals, während er am Computer hantierte und ich mich um den Wein und die Snacks kümmerte. Im hinteren Zimmer hingen drei großformatige Schwarzweiß-Fotos, die Martin selbst abgezogen hatte. Ansonsten war die Wohnung vollständig leer, den Umzug hatte er bereits hinter sich.
Fast alle Gäste trugen Jackett, weißes Hemd, keine Krawatte. Eben die üblichen Abgesandten der Kreativwirtschaft. Achim und ich waren die einzigen Männer, die nicht dem vorherrschenden Dresscode entsprachen, aber ich war durch die Projektion als praktizierender Künstler aufgewertet, außerdem schmiegte sich Tina an meine Seite und sie sah wieder einmal so gut aus, dass ich mir sicher sein konnte, man würde mich ernst nehmen. Achim hingegen hielt sich mit seiner großen Klappe ziemlich zurück. Ihn hatte man in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hineindelegiert, die aus dem Studienabbrecher einen wertvollen Aspiranten für den ersten Arbeitsmarkt machen sollte- So wie er mir das im Hinterzimmer erzählte, sei alles konzeptionell und ideologisch fragwürdig, eine reine Repressionsmaßnahme gegen die hilflosesten Teilnehmer am postmodernen Ausbeutungskapitalismus, wobei er sich selbst als einen Irrläufer darstellte, während seine ABM-Kollegen die wirklich schikanierten Kreaturen ohne Perspektive seien. Früher hatte ich solche Parolen pauschal und lauthals bekräftigt, aber inzwischen hielt ich mich zurück und überließ es Tina, Mitgefühl und Verständnis für Achim zu spenden.
Über Behörden zu schimpfen und ihnen Unfähigkeit vorzuwerfen sei immer sehr leicht, mischte sich ein smarter Mitvierziger ins Gespräch, der für die Öffentlichkeitsarbeit irgendeines Bildungsträgers verantwortlich war und Martin den großen Auftrag verschafft hatte, mit dem sich seine junge Firma nun freizuschwimmen versuchte. Es entspann sich ein durch gegenseitiges Verständnis geprägtes Gespräch über das Für und Wider der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Der smarte Mitvierziger war in seiner mit vielen Fakten und moderaten Meinungen garnierten Argumentation Achims Polemik argumentativ weit überlegen. Aber leider langweilig, so dass wir versuchten, wegzukommen, was in der leergeräumten Zweizimmerwohnung erst gelang, als das Thema weitgehend erschöpft war. Nichtsdestotrotz halfen einige Wodkas bei der Entspannung und Tina wurde erst einmal von einem überaktiven Spezialisten für digitale Bildspeicherung angebaggert. Unterdessen wollte mir Achim weitere Unstimmigkeiten und innere Widersprüche seiner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erläutern. Ich konterte mit den Schattenseiten meiner eigenen Berufserfahrung, um mir sein Gejammer und vor allem seine Besserwisserei nicht anhören zu müssen. Meine sorgenlose Zeit bei der Seifenoper war vorbei und ich pendelte zwischen einigen Auftraggebern hin und her, die alle ihre spezifischen Nachteile hatten. Überall war ich nur der Ersatzkameramann und der Arbeitsalltag mit den vielen täglich wechselnden Einsatzorten für das banale Kommerzfernsehen ging mir manchmal ziemlich auf die Nerven. Aber es bot sich zu dem Zeitpunkt keine Alternative. Angesichts der vielen jungen Männer in ihren weißen Hemden um mich herum, drängte sich mir die Frage auf, wer denn nun eigentlich cool sei, sie oder ich, oder alle? Sie, weil sie den Typ des Jungunternehmers so lässig repräsentierten, oder ich, weil ich in meinem Karohemd und der abgeschabten Jeans mich einen Scheiß drum scherte? Alle versuchten so zu wirken, als ob sie es nicht nötig hätten, sich von den Widrigkeiten der Welt anfechten zu lassen. Nach Möglichkeit ohne Anstrengung und Schweiß! OHNE Überforderungsattacken, Selbstzweifel, Sinnkrisen und ideologischem Standortverlust. Wie schön ließ es sich mit einem Glas Wodka in der Hand sagen, dass mir die Bilderwelt des Kommerzfernsehens am Arsch vorbeiging, aber wenn ich dann im Schlepptau eines Reporters oder einer dieser hartnäckigen Reporterinnen mit geschulterter Kamera Bilder sammeln musste, war es eine ernste Angelegenheit, eine Sache der Ehre, dass ich das, was ich machte, gut machte. Das Wort Ehre ist total uncool, und wer es ohne Ironie in den Mund nimmt, muss befürchten, sich lächerlich zu machen. Um es diskurstauglich zu formulieren, könnte ich sagen, dass die Arbeit als Kameramann eine hohe Identifikation zwischen mir und dem kulturellen Produkt meiner Arbeit fordere, auch wenn diese sich auf dem Weg zum Konsumenten am Bildschirm wieder verflüchtige. Diese Identifikation und die Mühen, die sie mir bereitete, wollte ich mir nicht anmerken lassen. Es war ein wohl gehütetes Geheimnis, dass es manchmal meine GANZE Kraft kostete, den Anforderungen gerecht zu werden und in einigen seltenen Fällen hatte die GANZE Kraft nicht gereicht, da hatte ich etwas vermasselt. Wie schön war es, wenn man so wirkte, als könne man das auf der linken Arschbacke absitzen! Oder in die sogenannte Selbstverwirklichung integrieren, unterordnen, die Welt dreht sich um mich, nicht ich mich um sie. Diesen anmaßenden Ansatz der kulturellen Positionierung, konnte ich mir, soweit ich meine Lage auf dem Arbeitsmarkt einschätzte, nie leisten.
Solche Grübeleien und Achims Arbeitsbeschaffungsmaßnahmengerede verdarben mir schließlich die Stimmung. Oder war es der Anblick, wie der Spezialist für digitale Bildspeicherung an Tinas Ohren klebte und sie an seinem Mund? Als ich mit einer abfälligen Bemerkung über die anwesenden Menschen den Rückzug einzuläuten versuchte, stimmte mir Tina zu und schaffte es nebenbei, Achim irgendeinen Grund zu liefern, weshalb er nicht bei uns im Taxi mitfahren könne. Auf der Schwelle fing er dann noch mal mit der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme an und trumpfte damit auf, dass Marianne bereits damit begonnen habe, ein Theaterstück über dieses Thema zu schreiben, mit seiner Hilfe. Und mit einem Stipendium, das sie ebenfalls mit seiner Hilfe gekommen habe. Ich versuchte mein Erstaunen über diese Nachricht zu verbergen. Da Marianne sich einen Scheiß darum kümmerte, wie es mir ging, wollte ich mir den Anschein geben, als sei es mir ebenfalls weitgehend egal, was sie tat oder zu tun beabsichtigte. Ich verabschiedete mich mit einer nichtssagenden Geste von Achim und schob Tina die Treppe hinab.
Es war noch nicht spät, wir hätten auch die U-Bahn nehmen können, aber Tina würgte diese Diskussion über die Wahl der Fortbewegungsmittel grundsätzlich mit ihrem Angebot ab, dass sie das Taxi bezahlen würde. Tina fuhr gerne Taxi, auch lange Strecken und störte sich nicht daran, in einer Nacht fünfzig Mark oder mehr für die Fahrten auszugeben. Wenn wir gemeinsam auf der Rückbank saßen und die Lichter des nächtlichen Berlin vor den Fenstern vorbeiglitten, legte sie den Kopf auf meine Schulter und sagte, dass das ihr Lieblingsfilm sei. Vor allem der Anblick der erleuchteten Hoch- oder S-Bahnen, die über dem Straßenniveau dahinschwebten, während sie auf der weichen Taxirückbank im Warmen sitze, versetze sie in Hochstimmung. Auf dem Rückweg von Martin war es ein schier endloser ICE, der über die Brücke fuhr. Die S-Bahn kam von der anderen Seite, die leuchtenden Fenster überlagerten sich und noch bevor sich die ungleichen Züge trennten, näherte sich unser Taxi der Brücke, so dass die Züge aus dem Blickfeld der Frontscheibe verschwanden. Für einen kurzen Moment sah ich die S-Bahn vor meinem seitlichen Fenster, dann achtete ich nicht mehr auf sie. Tina hingegen drehte sich um und schaute dem ICE hinterher, als er zwischen den Bäumen des Parks verschwand. Kniend auf der Rückbank, mit überkreuzten Armen auf der Hutablage, beobachtete sie eine Weile lang verträumt den blinkenden und blitzenden Verkehr der sechsspurigen Straße, während sich mein Blick unweigerlich an den vereinzelten Prostituierten des Straßenstrichs verfing. An dem Abend waren es nur aufgedonnerte alte Schachteln. Dann ließ sich Tina langsam umfallen, so dass sie mit dem Kopf auf meinem Schoß zu liegen kam. Ich musste den Rücken krumm machen, um sie zu küssen. Es war einer der Momente, an dem ich mir sicher war, sie zu lieben. Und zu bewundern für ihre Schönheit und Unbekümmertheit. Für ihren zierlichen, weichen Körper. Ich solle mich um Achim kümmern, meinte sie, er sei ihrer Meinung nach in einer kritischen Situation, die sich verheerend zuspitzen könne, wenn er jetzt noch weiter in die Perspektivlosigkeit der deutschen Arbeitslosenverwaltungsmaschinerie hineinschlittere. Ich gab Tina recht, aber ich wisse trotzdem nicht, was ich machen solle, da Achim auf Grund seiner Großmauligkeit nie zugäbe, dass er Hilfe brauche, und das sei das Hauptproblem: Er lebe auf merkwürdige Weise in seiner eigenen Welt. Wenn es darum gehe, Kritik auszuteilen, sei er sehr amüsant und analytisch, doch wenn man nachfrage, was er selbst zustande gebracht habe, dann käme da eigentlich nichts, da erscheine seine rigorose Kritik als Anmaßung, als Hochstapelei, als Stammtischpolitik. Ich solle nicht über ihn herziehen, sondern ihm helfen, meinte Tina und ich zuckte mit den Schultern. Ich dachte, die Zeit, in der ich selbst Hilfe bräuchte, sei längst nicht vorbei, sprach es aber nicht aus, sondern küsste Tina auf den Mund und sie erwiderte meine Zärtlichkeit. Als wir Kreuzberg erreichten, zog sie ihren Kopf von meinem Schoß und setzte sich wieder neben mich. Leuchtend fuhr ein Zug auf der Hochbahn vorbei. Tina freute sich und versuchte mir einzureden, dass dies ein gutes Omen sei.
Am nächsten Morgen suchte sie am Frühstückstisch in ihrem Handtäschchen eine Visitenkarte, die von Mike Müller stammen würde, dem Spezialisten für digitale Bildspeicherung, der sich am Vorabend mit ihr unterhalten habe. Der brauche noch einen Allrounder, so jemanden wie mich, und eigentlich könne ich Achim auch noch mitnehmen, als Praktikant. Eine digitale Spielfilmproduktion sei das, mit einem kleinen Team. Ich staunte. Wieso hatte mir das Tina nicht schon am Abend erzählt? Da sei sie nicht in der Laune für solche Realitätsprobleme gewesen, sondern nur aufnahmebereit für irreale Phänomene wie Achim und seine offensichtliche Persönlichkeitsstörung. Aber die könne man doch bestimmt beheben, indem man Achim zum Klappenschläger mache, denn Mike Müller habe gesagt, ein Klappenschläger müsse dabei sein, auch wenn es kein Geld für ihn gäbe, nur die Erfahrung, was es heiße, Kreativität in der Gemeinschaft zu entwickeln. Wobei Mike Müller diese Formulierung wie in Anführungszeichen ausgesprochen habe, denn sie stamme vom Regisseur. Ihn, den Spezialisten für digitale Datenspeicherung, könne man nicht mit solchen leeren Versprechungen an ein Filmset locken, er komme nur, wenn die Bezahlung stimme, und das sei bei dem Projekt nicht der Fall, das sei ein Projekt für Leute, die noch ein paar Jahre in Vorleistung gehen könnten oder wollten oder müssten, je nachdem, wie man es definiere.
Ich rätselte, ob ich Tinas Gerede ernst nehmen sollte. Als ich sie fragte, was Mike Müller mit dem Film überhaupt zu tun habe, wenn er sowieso nicht mitmache, sagte sie, dass sie das nicht wisse. Auf der Visitenkarte, die sie endlich gefunden hatte, stand allerdings Michael Münster und es gab keinerlei Berufsbezeichnung, nur ein quadratisches Feld mit Einsen und Nullen. Michael Münster und Mike Müller sei doch fast das Gleiche, zumal diese Person nur der Kontaktmann sei, der wisse, an wen ich mich zu wenden habe, sagte Tina, ich solle mich darum kümmern, denn sie habe keine Lust, den Kontakt weiter auszubauen, da Mike Müller, nachdem er die wichtigen Fakten über das Filmprojekt und seine berufliche Identität preisgegeben hatte, nur alle die langweiligen Banalitäten als Small Talk aufgetischt habe, die ihr als gutaussehenden, kontaktfreudigen Frau ständig in die Ohren gepustet würden, dieses permanente Geschwätz über Berlin bei Nacht, Bars, Cocktails und Neuigkeiten über den letzten USA-Aufenthalt. Für sie sei Mike Müller der passende Name, aber sie selbst zweifellos die falsche Gesprächspartnerin, was sie ihm aber keinesfalls übelnähme.
Das klang so, als müsse ich mich tatsächlich um die Angelegenheit kümmern, auch wenn alles sehr vage schien. Früher, in meiner trübsinnigen Berliner Anfangsphase, hätte ich mich womöglich verrückt gemacht vor lauter Hoffnungswahnsinn und den Wunschfantasien, wie mich so ein Kontaktmann mit anderen Kontaktmännern so kontaktieren könnte, dass daraus eine unglaubliche Ereigniskette in Gang gesetzt werden würde. Es gab aber auch Phasen, während denen ich mich gar nicht um solch einen dubiosen Hinweis geschert hätte. Aber da Tina spätestens bei meiner nächsten Beschwerde über meinen Berufsalltag nachfragen würde, griff ich zum Telefon.
Michael Münster meldete sich, machte nicht viel Aufhebens und gab mir eine andere Telefonnummer, von der ich zwar auch nicht viel Konkretes erfuhr, aber ich sollte schon zwei Tage später im Produktionsbüro vorbeikommen. Also ließ sich schnell klären, was von der Sache zu halten war. Bei meiner Ankunft in der fast leeren Fabriketage, die als Produktionsbüro diente, stieß ich mit Martins Studienkollegen zusammen, der bei der Premiere des falschen Films auf unserem Gehöft zu Besuch gewesen war. Er fungierte zwar auch nur als Berater für digitale Technologie und hatte gerade einen Schnittplatz installiert, aber er kannte sowohl das Projekt, als auch den Regisseur und gab mir alle wichtigen Informationen über die Technik, die verwendet werden sollte. Die Aufnahmeleiterin, die mir einen Kaffee vor die Nase stellte, beschwatzte er, dass ich vermutlich genau die Art von Videoexperte sei, den sie bräuchten. Sie wirkte unbeeindruckte, aber während er ihr erzählte, dass ich mich heldenhaft mit Super-8- und 16-mm-Film herumgeschlagen hätte, tauchte der Regisseur auf, der gleichzeitig die Kamera führen würde, und der nickte mir wohlwollend zu. In der Hand hielt er eine diese neuen, kleinen Digitalkameras, mit denen ich mich doch hoffentlich schon auseinandergesetzt hätte, da sich hier unglaubliche Möglichkeiten erschlössen.
Ja, zum Glück hatte ich fünf Minuten vorher die gewünschte Auseinandersetzung mit der digitalen Technik durch Martins Studienkollegen im Schnellverfahren übergestülpt bekommen. Unter Einbeziehung dieser glücklichen Fügung schien der Regisseur meine unzusammenhängenden Erfahrungen als ausreichend einzuschätzen. Er hatte in den letzten Tagen den sogenannten Workflow festgelegt, also ein Konzept, welche Technik und welche Dateiformate in den jeweiligen Produktionsphasen verwendet werden würden, wobei Martins Studienkollege als Berater fungiert hatte. Offensichtlich genoss er genügend Vertrauen, so dass seine gute Meinung über mich wichtig genommen wurde. Er, Martins Studienkollege, war es auch, der die Bemerkung fallen ließ, wir könnten auch noch meinen guten alten Freund Achim ins Team integrieren und niemand widersprach. Dann stellte sich heraus, dass die Regieassistenz eine Reporterin war, mit der ich bereits bei einigen Nachrichtendrehs zusammengearbeitet hatte. Es sah ganz danach aus, als ob ich wirklich perfekt ins Team passen würde. Aber leider nicht als Kameramann, denn die Kamera wollte der Regisseur selbst führen und als Kameraassistent war Edgar vorgesehen, genannt Eddi, der ja auch ein super Typ sei, mit dem ich mich bestimmt toll verstehen würde. Die Position des Tonmanns war noch frei, wie wäre es denn damit? Eine Tonangel werde ich schon halten können. Der Regisseur wurde jetzt richtig redselig, es sah aus, als wolle er mich wirklich haben. Tonmann gefiel mir nicht, Tonmänner sind Pedanten, ganz im Gegensatz zu mir. Ich versuchte noch mal auf Kameraassistenz oder Beleuchtung zu sprechen zu kommen, doch einen Beleuchter würden wir kaum brauchen, es sei geplant, vor allem available light zu nutzen, also die vorhandenen Lichtquellen, und dass ich als Tonmann auch beim Einrichten des Lichtes mithälfe, davon gehe er, der Regisseur, aus, deshalb wolle er einen vielseitigen Menschen wie mich und keinen verbohrten Fachidioten. Das mit Eddi sei allerdings schon völlig sicher, Eddi werde Assistent. Sie hätten gemeinsam bereits die ersten Aufnahmen gemacht, um sich über den Look des Films klar zu werden, es liefe auf eine sehr harte Bildästhetik hinaus. Die kleine Kamera liefere ja knallharte Kontraste, damit müssten sie leben, oder vielmehr eine Tugend draus machen. Wer es weich und lieblich haben wolle, der müsse eben die große 35-mm-Ausrüstung mitnehmen, mit diesem riesigen Bedarf an Geräten und Technikbedienpersonal. Das habe er, der Regisseur, jahrelang gemacht, jetzt sei hoffentlich endlich Schluss mit der Unterdrückung der Menschen durch die Technologie, jetzt habe er sich diese Kamera gekauft, die so billig sei, dafür könne man die professionelle Filmausrüstung nur drei Tage lang mieten. Aber selbst, wenn man sich die Ausrüstung 20 Tage lang anmiete und dann noch das Filmmaterial bezahle, müssten alle, die da mitmachten, 16 oder 18 Stunden am Tag hart arbeiten und schafften es trotzdem nicht, die hochfliegenden Ansprüche der inzwischen verwöhnten Produzenten und Regisseure zu befriedigen, weil die ständig nach Hollywood schielten und sich dort orientierten, wo die Teams noch mal doppelt so groß und die Stars fünfmal so teuer seien und die Werbebudgets inzwischen ins Unermessliche abdrifteten. Monströs und maßlos überteuert sei die Profifilmtechnik, sie würde ihm längst zum Hals raushängen, meinte der Regisseur. Wir hingegen hätten ein halbes Jahr, um gemeinsam den Stoff zu entwickeln, gemeinsam zu inszenieren und für den Schnitt stünde nochmal ein Jahr zur Verfügung. Die Zeit sei reif, den ausgelutschten Großbild-Kino-Schönheitswahn der Kulturfilmemacher zu vergessen, stattdessen sollten wir genauso ungezwungen mit der Kamera herumfuchteln, wie der jungen Videonachwuchs, aber mit unseren Inhalten. Natürlich müsse man für diese Freiheiten auch Einschränkungen hinnehmen, vor allem bei der Bezahlung. Noch horrender als die Mieten für die professionelle Technik seien nur die Honorare des langweiligen, hochspezialisierten Technikbedienpersonals. Deshalb schätze er junge, experimentierfreudige Menschen, die an der ganzen Bandbreite des kreativen Filmschaffens interessiert seien und Spaß daran hätten, ästhetische Grenzen zu erforschen.
Mir war klar, worauf diese Anpreisung von unqualifizierten Arbeitskräften hinauslief. Der Tagessatz, den der Regisseur nach seiner umfangreichen Lobeshymne auf die digitale Technologie endlich verriet, war nur ein Drittel vom Honorar, mit dem ich bei der Seifenoper verwöhnt worden war. Auch Achim könne ich mitbringen, eine Praktikantenpauschale, die nicht zum Überleben reichen würde, sei ihm sicher. Mir selbst war die Bezahlung egal, ich hatte ein paar Ersparnisse beiseitegelegt und brauchte nicht viel zum Leben. Die Sache klang spannend, schließlich sollte ein Kinofilm dabei rauskommen. Oder Kinofilmchen? Die Kamera, mit der wir drehen würden, war ziemlich mickrig und die dazugehörigen DV-Tapes verschwanden in der hohlen Hand. Mir persönlich hing die große, maßlos überteuerte Filmtechnik überhaupt nicht zum Hals heraus, weil ich ihr überhaupt noch nie nahegekommen war. Ob die Welt, so wie der große Regisseur sagte, von ihr befreit werden sollte, wollte ich mir nicht anmaßen zu entscheiden.

31
Ich würde ständig versuchen, in die Vergangenheit zurück zu kriechen, während der große Regisseur unbedingt in die Zukunft springen will, aber als Trendnutte auf der Strecke bleiben wird, meinten Henry und Ulrich, als ich ihnen zu Hause von meinem Vorstellungsgespräch erzählte. Ulrich hatte schon mehrmals Material geschnitten, das mit solchen semiprofessionellen Digitalkameras aufgenommen wurde. Die Bildqualität sei gar nicht so schlecht, aber die nervigen Schwenks und gewollten Unschärfen könne er nicht lang aushalten. Es gäbe jetzt Filmemacher, die sich ganz wichtig nehmen und sogar wichtig genommen werden, die quälen die Zuschauer 90 Minuten oder länger mit unkonkreten Wackelbildern. Dieser Stil musste früher oder später kommen, warf Henry ein, das war schon längst überfällig und natürlich kommt das in brutaler Rohheit und mit dem Ideologievorschlaghammer, in ein paar Jahren ist diese Art von Handkamera wieder out und die technische Entwicklung bringt den nächsten Hype hervor. Mit meinen Mitbewohnern über ästhetische Fragestellungen zu diskutieren beruhigte mich, mit ihnen fand sich immer eine Argumentation, wie sich meine persönlichen Vorlieben gegenüber den angesagten Trends behaupten könnten. Leider sah ich die beiden gar nicht so oft, wie man es von Mitbewohnern erwarten würde, außerdem hatten sie inzwischen angedeutet, dass sie sich eine größere und schönere Wohnung in einer besseren Gegend, also im Ostteil der Stadt, besorgen wollten. Beide verdienten gut, weil sie so viel zu tun hatten, aber deswegen hatten sie auch keine Zeit und keine Lust, sich um die Wohnungssuche zu kümmern. Henry hauste immer noch in dieser etwas groß geratenen Abstellkammer, davon sollte man ihn endlich befreien. Was sich auch dadurch lösen ließ, dass ich zu Tina in ihre spottbillige und nicht ausgelastete Dreizimmeraltbauwohnung ziehen würde. Dann hätten die beiden mehr Platz und ich sparte Geld, was wiederum meine Unabhängigkeit erhöhte. Das musste ich Tina schonend beibringen. Mit dem Argument der Sparsamkeit würde ich mich unbeliebt machen. Es war gerade mal wieder an der Zeit, sie zum Essen einzuladen. Da ging ich mit ihr in das teure vegetarische Spezialitätenrestaurant, von dem ich hoffte, es würde ihr Gemüt in die bestmögliche Stimmung versetzen. Ich fing mit der Halbwahrheit an, dass Ulrich und Henry gern ohne mich wohnen würden, schlüpfte in die Opferrolle, ich sei der dritte im Bunde, der nicht mehr zu den beiden Designern passt und hoffte damit Tinas Mitleid zu erregten. Aber ihre Antwort war ganz anders als erwartet, es lief nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Tina eröffnete mir, dass sie sechs Monate in Australien zu verbringen gedenke. Für sie sei es die optimale Lösung, wenn ich während ihres Auslandssemesters in ihrer Wohnung nach dem Rechten sähe. Sie setzte sogar noch eins drauf. Ich könne dann die Zeit nutzen, um für mich eine Wohnung zu suchen, denn wenn sie wiederkäme, solle ich draußen sein. Das war einer der Momente, in denen mich Zweifel überfielen, ob ich Tina wirklich liebte, oder ob ich sie nicht einfach nur süß fand. Außerdem: Ein halbes Jahr Ausland? Wozu denn überhaupt? Wollte sie sich wieder einen Typen angeln und mitbringen, weil ich sie inzwischen langweilte? Oder spekulierte sie darauf, dass ich mir in dem halben Jahr nicht nur eine Wohnung, sondern auch eine neue Freundin suchen würde? Sie könnte immerhin anbieten, ob ich mitkommen wolle, aber vermutlich war ich unumstößlich verplant, um ihren geliebten Gummibaum zu gießen. Dann sah sie mich ganz lieb an und meinte, sie habe sich nicht zu fragen getraut, ob ich sie begleite, weil sie wisse, dass ich keinen Wert auf Auslandsaufenthalte lege, aber sie sei schon so lange scharf auf Australien und jetzt sei die letzte Gelegenheit, das mit dem Studium in Einklang zu bringen. Da fiel mir ein, dass Tina schon einige Male von Australien geredet hatte, aber ich war ihr immer mehr oder weniger schroff über den Mund gefahren, weil Australien im Verhältnis zur gigantischen Entfernung einen vergleichsweise geringen Kulturunterschied zu Mitteleuropa zu bieten habe. Das hatte Sabine so zu mir gesagt, die immerhin Geografin war und auch ansonsten meist Recht behielt.
Als wir im vegetarischen Spezialitätenrestaurant saßen, gab es sowieso nichts mehr zu diskutieren. Tina hatte die Reise längst beschlossen. Dann verfiel sie während des Essens in eine ansteckende Vorfreude und danach hatten wir sehr gelungenen Sex, so dass sich meine Bedenken zerstreuten. Erst als ich am nächsten Morgen aufstand und ein großes Blatt des Gummibaums auf dem Fußboden liegen sah, stimmte mich das etwas wehmütig. Ich kickte das Blatt mit den nackten Füßen quer durchs Zimmer, hob es aber nicht auf. Tina würde mir bestimmt fehlen. Bis sie die Koffer packte, vergingen noch ein paar Monate.
Es waren die Monate, während denen sich die Arbeit am digitalen Kinofilm immer weiter verdichtete. Am Anfang ging ich nur zu den Wochenbesprechungen ins Produktionsbüro und es wurde viel über Drehorte, Schauspieler und Requisite geredet. Dann stellten Eddi und ich die Technik zusammen, wir reparierten ein paar alte Scheinwerfer und ich musste mich um Funkmikrofone kümmern. Der große Regisseur war manchmal ziemlich witzig, aber wohl auch etwas frustriert, weil es eine Menge Regisseure gab, die wichtiger waren als er. Seine größten Filme waren in den 70er-Jahren entstanden, Autorenfilme, danach hatte er mit Video experimentiert, nennenswerte Publikumserfolge blieben aus, obwohl er immer wieder Filme realisierte und so blieb er irgendwo in einer künstlerischen, wenig beachteten Nische hängen, in die es mich nun durch Zufall auch hineingespült hatte.
Er bestand darauf, dass unser Kreativteam, also die Regieassistenz, Eddi, er und ich gemeinsam eine Auswahl von meinen Filmen anschauten. Ich hatte eine kurzweilige Zusammenstellung auf eine Videokassette kopiert und steckte sie nach einem unserer organisatorischen Treffen in den Rekorder, der im Büro in der Kaffeeecke stand. Die Zeichentrickfilme schienen den großen Regisseur wohl eher zu langweilen, mein zerkratztes Werk mit Mariannes Stimme erinnerte ihn an sein eigenes Frühwerk, aber besonders interessant fand er die digitalen Manipulationen von Gesichtern, die eigentlich von Martin stammten. In diese Richtung geht es, sagte der große Regisseur, das kommt auf uns zu und wird in seiner ganzen Tragweite noch lange nicht zu erfassen sein. Was er damit sagen wollte, verstand ich nicht, er vielleicht auch nicht, denn umgehend schweifte er ab, redete über seine eigenen Fehlversuche mit unbefriedigender Videotechnik oder mangelndem Interesse seitens des Publikums, beziehungsweise der Filmkritik, die alle paar Jahre ihre Lieblinge lanciere, aber ihn nie als solchen auserkoren habe. Die kreative Innovation müsse man mit pathetischer Wichtigtuerei verbinden, sagte er, damit die Kunstkritik eine ordentliche Erektion bekomme. Das sei leider nicht seine Art und leider seien auch schon ein paar andere Filmemacher auf den Zug gesprungen, wir wären nicht die einzigen, die mit dieser kleinen Digitalkamera großes Kino machen wollten würden, und einige von den anderen hätten eine ganz große Klappe, denen sei zuzutrauen, dass sie die Aufmerksamkeit der Kritiker ganz für sich in Beschlag nehmen würden, sagte er und wirkte niedergeschlagen. Um sich aufzumuntern, wechselte er die Videokassette und zeigte uns eine seiner eigenen Dokumentationen. Die Begutachtung und Diskussion meiner Filme war damit beendet, es ging nur noch um sein Werk.
Zwei Wochen später starteten wir mit den Dreharbeiten und es zeigte sich schnell, dass es auch mit der kleinen Kamera eine anstrengende Angelegenheit war, die Ansprüche des großen Regisseurs zu befriedigen. Den fuchteligen Stil hatte er zwar als erstrebens- und nachahmenswert erkannt, doch von der Unbekümmertheit des Videonachwuchses war bei ihm nichts zu bemerken. Wenn es um die Schärfe ging, verstand er gar keinen Spaß. Uns verdarb er ihn dadurch. Der Autofokus schaffte leider nicht immer, was er schaffen sollte und manuell konnte man auch nicht nachhelfen, da es kein vernünftig zu bedienendes Schärfenrad gab. Junge Nachwuchsnichtskönner oder radikale Technikverweigerer hätten sich nicht drum gekümmert, die hätten das Schicksal der Schärfe in die Hand der Kamera gelegt. Wenn es aber als wichtig galt, die Fokussierung immer auf den Gesichtern liegen zu haben, dann wäre die dicke Fernsehreportagekamera, die wir bei der Seifenoper benutzt hatten, viel besser gewesen. Ich war also in eine Nische geraten, in der ein Besessener unbedingt Unvereinbares vereinen wollte. Zum Glück erwies sich Eddi als sehr geduldiger Mensch, der dem Regisseur voller Eifer dabei half, jegliche Widrigkeiten bei der Bedienung der Kamera zu überwinden. Das kostete immer wieder eine Menge Zeit. Als Tonmann durfte ich mich für diese Probleme interessieren und bei der Lösung helfen. Wenn ich es nicht tat, störte es niemanden. Manchmal machte ich es wie die anderen Tonmänner: Suchte mir ein bequemes Plätzchen und wartete, bis es losging. Las dabei Zeitung oder unterhielt mich mit Achim, der tatsächlich als Klappenschläger im Team war und auf mein Geheiß hin versuchte, seine guten Ideen für sich zu behalten. Klappe schlagen, nicht aufreißen! hatte ich gesagt. Die angekündigte gemeinsame Kreativität fand nur zwischen Regie, Kamera und den Schauspielern statt, wobei der Regisseur, der ja auch der Kameramann war, in der Regel nach einer ausgiebigen Diskussion seine ursprüngliche Idee aus irgendeinem scheinbar objektiven Grund beibehielt.
Den ersten Drehtag verbrachten wir mit einer läppischen Szene, in der die Hauptdarstellerin aus dem elfgeschossigen Plattenbau rauskommt und der Hauptdarsteller hineingeht. Das war die Metapher für die ganze Handlung des Films, meinte der große Regisseur, denn es ging um eine Nach-Wende-Liebesgeschichte, die Frau aus dem Osten ist Künstlerin und wohnt im obersten Stockwerk, der Mann ist Wessi und soll zunächst wegen des kaputten Fahrstuhls im Keller landen. Der Plattenbau diente als Sinnbild für die DDR, klar, der Keller für die Stasi, der elfte Stock für die Ost-Boheme, die Balkone für das Westfernsehen und den Rest des Hauses bewohnten einfältige Ossis, die noch an die blühenden Landschaften glaubten. Der Eingang des Hauses war auf drei Seiten verglast, das führte zu den üblichen Kameramann-Problemen, Spiegelungen, Schattenwurf, zu starke Kontrast. Dass wir den ganzen Tag nur für die Anfangsszene brauchen würden, hatte ich nicht erwartet. Morgens bei bewölktem Himmel war der Helligkeitsunterschied zwischen drinnen und draußen nicht so stark, aber der große Regisseur verbrachte diese Zeit mit Proben und konzeptionellen Gedanken. Dann kam die Sonne raus, das gab harte Schatten, so dass nicht mehr von außen nach innen, sondern von innen nach außen gedreht werden sollte. Ursprünglich dachte sich der große Regisseur, der Wessi bleibt vor den Klingelschildern stehen, schaut sich die vielen Klingeln an, klingelt, aber bevor jemand reagiert, kommt die äußerst attraktive Ost-Künstlerin von innen und öffnet. Wenn sie aber erst einmal das Haus verlassen hat, wäre es nicht plausibel, dass der Wessi ihr gleich hinterherruft. Er sollte schüchtern wirken, und da fand der Schauspieler keine überzeugende Lösung, wie er die davongehende Frau aufhalten könnte. Dachte sich also der Regisseur, dass die Haustür doch durch die Gegensprechanlage geöffnet werden sollte, und deshalb musste jemand in der leeren Wohnung im dritten Stock positioniert werden, der auf die Klingel reagiert und mit entsprechender Verzögerung den Türöffner betätigt.
Dafür wurde Achim hochgeschickt, der aber nicht zugehört hatte, da Zuhören sowieso nicht seine Stärke war. Als der Schauspieler klingelte, reagierte er innerhalb einer Sekunde. Das war natürlich zu schnell, da die Haustür erst aufgehen sollte, nachdem der Regisseur in aller Ruhe vom Finger auf dem Klingelknopf über die vielen anderen Knöpfe hinweg zum Gesicht des Schauspielers geschwenkt hatte. Anschließend musste der Regisseur mit seiner Kamera und dem Kameraassistenten hinter dem Schauspieler durch die Tür schlüpfen und innen sollte dann die Schauspielerin an den Briefkästen stehen. Nach Möglichkeit so, dass der Schauspieler sie von hinten sieht, aber für die Kamera durfte ihr Hintern auf keinen Fall einen voyeuristischen Anblick bieten.
Das war eine anspruchsvolle Aufgabe für den Hüftschwung der Schauspielerin und der Kameraschwenk wurde auch noch durch Schärfenprobleme erschwert, da der Fokus ohne Verzögerung vom dicht vor der Kamera agierenden Schauspieler zur weiter entfernten Schauspielerin springen sollte. Es brauchte schon mal fünf Anläufe, bis Achim kapiert hatte, wann er den Türöffner zu bedienen hatte. Zusätzlich gab es alle denkbaren Störungen im unvorhersehbaren Wechsel, also zum Beispiel ein Hausbewohner, der plötzlich die Treppe runterkam, das Klappern des Lifts, mehrmals versagte der Autofokus an der kritischen Stelle, die Schauspielerin verklemmte einmal den Briefkastenschlüssel, dann positionierte sie ihren Hintern ungünstig, obwohl ich der Meinung war, dass das bei ihr überhaupt nicht störte. Dann hatte Achim einen Ausfall am Türöffner und so ungefähr beim 20. Take tauchte das Müllauto auf. Da unzählige Blechmülltonnen aller umliegenden elf- und siebengeschossigen Häuser mit infernalischem Lärm geleert wurden, mussten wir erst einmal eine Pause einlegen.
Inzwischen war die Sonne gewandert und noch heller geworden, so dass unsere kleinen Glühleuchten nicht mehr mithalten konnten. Wir versuchten, mit einem schwarzen Tuch den Eingangsbereich zu verschatten, aber obwohl das Tuch drei mal vier Meter groß war, reichte das bei weitem nicht aus. Für sowas braucht man die großen Stative, meinte Eddi, und die 4 kW. Achim eilte eifrig zum Auto, um die Sachen zu holen. Das fand der große Regisseur unglaublich komisch, da Achim sich die Blöße gegeben hatte den Witz nicht zu verstehen und keine Ahnung hatte, wie eine 4 kW aussieht. Das ist eine extrem teure, riesengroße Lampe, die gar nicht in unser Auto, einen Mittelklassekombi, gepasst hätte. Kameraassistent Eddi lachte ebenfalls und während er sich mit dem Regisseur feixend diesem Heiterkeitsanfall hingab, durchsuchte Achim vergeblich den Kofferraum. Dann meinte Eddi, das würde doch alles nix bringen, wir müssten die Szene komplett umkrempeln und im Gegenlicht als ein Spiel der Silhouetten inszenieren. Die Idee fand der Regisseur gut, das wollte er sofort ausprobieren, dann hätten wir wenigstens etwas zu tun, während sich der Müllwagen langsam entfernte. Jetzt ergaben sich wieder völlig neue Probleme, weil wir gegen die Glasscheiben des Eingangsbereichs drehten und deshalb mit Spiegelungen zu kämpfen hatten. Außerdem passte dem Regisseur nicht, dass die Rockkante der Schauspielerin in der gleichen Höhe lag wie eine Querstrebe der Verglasung. Da musste die Maskenbildnerin, die auch die Kostüme zu betreuen hatte, den Rock kürzen, oder vielmehr sollte sie uns vorführen, wie das aussehen würde. Doch nun wirkte, wie der Regisseur feststellte, die gutaussehende Künstlerin plötzlich wie ein Flittchen, oder vielmehr wie ein Ost-Flittchen, und dann könnten wir auch gleich ihren Hintern von hinten zeigen, aber das sei indiskutabel, also bekam der Rock wieder seine volle Länge und die tolle Silhouetten-Idee, die ohnehin das schwerwiegende Manko hatte, nicht vom Regisseur selbst zu stammen, wurde kurzerhand wieder verworfen. Da nun Wolken aufzogen, löste sich das Lichtproblem von alleine, aber der große Regisseur fand immer neue Inszenierungsfinessen, die mit Schwierigkeiten verbunden waren, die es zu lösen galt. Inzwischen hatten alle Beteiligten kapiert, dass sein Zeitempfinden sehr flexibel war und wir sowieso den ganzen Tag im Treppenhaus verbringen würden. Denn als es endlich geklappt hatte, dass der eintretende Herr einen schwermütigen Blick auf die hübsche Künstlerin an den Briefkästen warf und sich daraus ein Gespräch entwickelte, in dessen Verlauf er sich als arbeitsloser Wessi bezeichnete, mussten sich der Regisseur und Eddi gemeinsam die zwei gelungenen Takes mehrmals in einem kleinen transportablen Monitor anschauen, um sich sicher zu sein, dass alles stimmte, vor allem die Schärfe. Inzwischen war es schon fast Mittag und wir hatten tatsächlich nur eine einzige Einstellung gedreht, allerdings 32 Mal.
Achim raunte mir zu, dass er schrecklichen Hunger habe, aber die Mittagspause sollte erst stattfinden, wenn die Naheinstellungen der Schauspieler im Kasten seien. Das dauerte nur etwas mehr eine Stunde und ich hörte sogar einmal das Knurren von Achims Magen im Kopfhörer. Als der Regisseur endlich verkündete, es genüge ihm, schlug Achim eine Klappe mit der Ansage „Mittagspause, die erste und langersehnte“. Ich fand das lustig, die anderen nicht, und der Regisseur, der sich vorher ungehemmt über Achim und die 4 kW im Handschuhfach lustig gemacht hatte, schaute jetzt so humorlos, als wolle er sich für die Rolle des Stasispitzels qualifizieren.
Ich schob die Tonangel zusammen, klopfte Achim auf die Schulter und ging mit ihm nach draußen, wo der Fahrer und Kaffeekocher, der als Produktionsassistent bezeichnet wurde, ein paar belegte Brötchen bereit gelegt hatte. Der Film wird eine Geduldsprobe, meinte ich zu Achim, während er ein Brötchen verschlang und gleichzeitig das nächste griff. Bei der Seifenoper hatte es viel mehr und besser zu Essen gegeben. Ich zählte in Gedanken unser Team durch, warf einen Blick auf das bescheidene Buffet und gab Achim den Hinweis, dass wir uns nicht hemmungslos satt essen sollten, sonst bliebe für den zu Letzt kommenden großen Regisseur nichts mehr übrig. Das sei auf jeden Fall zu vermeiden. Denn der große Regisseur käme als letzter, weil er am meisten zu tun habe. Erst müsse er mit Eddi irgendwelche technischen Details prüfen, dann den Schauspielern Lob oder Anregungen zukommen lassen und außerdem dürfe er auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als brauche er eine Pause. Die Pause sei nur für die Lohnsklaven.
Welcher Lohn? fragte Achim ironisch, denn er sollte nur ein Praktikantentaschengeld bekommen, was ihn aber, wie er behauptete, nicht störe. Aber wenn er bloß zwei Brötchenhälften am Tag abkriege, würde ihm irgendwann die Klappe wegen Entkräftung aus der Hand fallen. Ich riet ihm, mehr zu frühstücken, was er aber angeblich nicht vertrage. Schließlich endete die Mittagspause damit, dass Achim unbedingt zum Bäcker oder Imbiss gehen wollte. Während er weg war, stellte der Produktionsassistent plötzlich noch mal eine Platte mit Brötchen hin. Dann ging es recht schnell wieder ins Haus hinein. Als die Klappe geschlagen werden sollte, war Achim noch nicht wieder zurück. Die Maskenbildnerin sprang für ihn ein, aber es gab natürlich eine kritische Bemerkung vom Regisseur über den verschwundenen Klappenschlägerpraktikanten, der dann zu allem Überfluss auch noch genau in dem Moment durch die Haustür kam, als die Kamera dorthin schwenkte. Es wäre ein wunderschöner Outtake gewesen, aber Outtakes wurden bei dem Projekt nicht gesammelt. Denn der große Regisseur nahm alles, was inhaltlich mit seinem Film zu tun hatte, sehr ernst, meiner Meinung nach zu ernst.

32
Das Gute an unserem digitalen Filmprojekt war die Terminplanung. Wir drehten zunächst nie länger als drei Tage hintereinander. Dann mussten erst wieder Vorbereitungen für die nächsten Aufnahmen getroffen werden. Drehorte besichtigen, Drehgenehmigungen beantragen, Requisiten besorgen, Technikprobleme lösen oder Besprechungen zwischen dem Regisseur und den Hauptdarstellern. Beim großen Film machte man das anders, da wurde vorher alles durchorganisiert und dann von unglaublich vielen Leuten möglichst straff durchgezogen. Aber der große Regisseur verzichtete auf die vielen Leute und wollte vieles selbst machen, weil er Spaß dran hatte. Wenn er sich nicht gerade in seinem manchmal beängstigenden Perfektionismus verlor, gefiel mir das.
Nach zwei Tagen im Treppenhaus, im Lift und im Flur musste die Wohnung eingerichtet werden. Ich sollte ursprünglich nur vormittags dabei sein, um das Mobiliar und die Requisiten hochzutragen, aber ich half auch beim Einräumen, wurde dann zu einem Trödler geschickt, um ein paar Kleinigkeiten zu besorgen. Als ich zurückkehrte, entwickelte der Regisseur mit den Schauspielern die Inszenierung und es herrschte eine wunderbare, entspannte Stimmung, stressfrei aber kreativ. Manchmal schnitt Eddi eine Probe mit. Da konnten wir sehen, wie die Requisite wirkte und wo noch Sachen fehlten. Es sind nicht nur die Schauspieler, die die Geschichte erzählen, sondern auch die Orte, die Dinge und Kleidung. Ich fand das sehr lehrreich für mich, viel interessanter als das eigentlich Drehen.
Die Wohnbaugenossenschaft hatte uns die Wohnung für einen Monat zur Verfügung gestellt, kostenlos. Beim Einrichten und bei der Probe kam mir das großzügig vor, aber als die Aufnahmen losgingen merkte ich, dass zwei Wohnungen nötig gewesen wären. Denn wir drehten in allen Zimmern, aber es wurde immer eines für das Team und die Technik gebraucht, damit dort die Maskenbildnerin ihre Sachen aufbauen konnte und wir unsere Technikkoffer mit den unzähligen Ladegeräten. Ganz zu schweigen von den Kaffeetassen. Natürlich war es Achim, der immer wieder seine Kaffeetasse dort stehen ließ, wo sie auf keinen Fall stehen durfte: im Set, also dem Bereich, der im Bild zu sehen war. Manchmal, aber nicht immer, gelang es mir unauffällig seine Tasse zu entfernen. Der Regisseur konnte beim Anblick von unerwünschten Gegenständen ziemlich grantig werden, was Achim gar nicht zu stören schien, während es mir die Stimmung versaute. Ich hatte Achim mitgebracht, deshalb erwartete ich, er würde sich professionell verhalten, vergeblich. Er war nur an den Drehtagen, nicht an den Vorbereitungstagen mit dabei, und das sollte auch so sein, weil er nebenbei Geld verdienen musste. Vom ABM-Projekt wurde er für das Praktikum beim Film beurlaubt, obwohl es nicht so richtig in sein Qualifikationsspektrum passe, wie der Sachbearbeiter beim Arbeitsamt sich angeblich ausgedrückt habe. Alles, was der Sachbearbeiter verlautbaren ließ, war laut Achim realitätsfremd und unangemessen, die Handlungsempfehlungen nutzlos, wenn nicht gar schikanös. Achim erzählte mir das, als wir am Abend vom Dreh im Elfgeschosser zurück ins Produktionsbüro fuhren. Dann machte er mit dem anderen Dauerthema weiter, seinem bösen Vermieter, der angeblich aus der Besetzerszene stammte und inzwischen selbst auf unglaubliche Weise zum Nutznießer der schiefliegenden Eigentumsverhältnisse geworden sei. Dabei gehe es um die Frage, ob Achim einen Untermieter einquartieren dürfe, der das Schlafzimmer als Arbeitsraum miete, aber weil Achim die Miete vom Arbeitsamt in voller Höhe erstattet haben wolle, brauche er die Miete schwarz, während der potentielle Mieter eine Quittung verlange, nach Möglichkeit mit ausgewiesener Mehrwertsteuer. Das sollte der Vermieter irgendwie arrangieren, obwohl laut Mietvertrag sowieso keine Untermieter erlaubt waren. Achim ließ sich nicht davon abbringen, dass es die pure Boshaftigkeit des Vermieters war, die ihm den erhofften Nebenverdient nicht gönnte, sondern sich querstellte. Dem kann das doch egal sein, ob bei mir jemand im Schlafzimmer sitzt und Texte schreibt, sagte Achim, während er aus dem Auto stieg und haute dann wie zur Bekräftigung die Beifahrertür zu. Jetzt kapierte ich, um was, oder vielmehr, um wen es ging. Marianne würde nach Berlin kommen, wieder mit einem Stipendium und einen Teil dieses Geldes, das nur für Sachmittel, Mieten oder Reisekosten ausgegeben werden durfte, wollte Achim durch die Geldwaschanlage schicken. So selbstlos und anspruchslos, wie er manchmal war, machte er das bestimmt nur für Marianne, da war ihm jedes Mittel recht. Achim redete auf mich ein, als sei ich der Mann von der Stipendiumvergabestelle: Das sei völlig unnütz und an der gutgemeinten Zielsetzung vorbei, wenn Marianne das Geld, das sie dringend zum Leben brauche, für nutzlose Reisen ausgebe. Warum hat sie sich für ein Stipendium beworben, das aus Reisekosten besteht? Blöde Frage, meinte Achim, er habe einfach ALLE Stipendien beantragt, das sei doch klar. Wir waren inzwischen angekommen und ich fummelte mit dem Schlüssel herum, um das Büro aufzuschließen. Ach so, Achim hatte die Anträge geschrieben. Das habe er mir doch schon mal erzählt, dass er das tue und es sei sehr ökonomisch, wenn man für andere Leute Anträge schreibe, eine bewährte Methode. Diese Methode solle ich auch mal probieren. Ob denn Marianne für ihn schreiben würde, fragte ich, aber Achim verneinte. Marianne schreibe am Theaterstück, sie schreibe sowieso fast immer, ihr eigenes großes literarisches Werk. Die Bürotür hatte ich endlich offen und nahm den Lichtkoffer wieder in die Hand, trug ihn in die Fabriketage. Wir würden das doch gar nicht mehr brauchen, diese Kultursubventionen, meinte Achim, ich sei schon voll drin im Business und er schlage sich irgendwie durch. Aber ich hielte doch nur die doofe Tonangel und er die Klappe, beides undankbare Aufgaben. Von wegen, das sei wichtig und beachtlich, hältst du einmal die Tonangel, werde ich sie woanders auch halten bis ich durch den Sucher gucken darf, so wie Eddi.
Eddi kam gerade zur Tür rein, er hatte die Kameratasche umhängen und schob ein paar weitere Transportkisten auf der Sackkarre vor sich her, unter anderem unseren Koffer mit den vielen Ladegeräten für die Akkus. Die mussten alle ans Netz. Darum kümmerte ich mich, während Eddi die Kassetten mit dem Rohmaterial überprüfte und zu den anderen Kassetten legte. Erst danach reagierte er auf Achims Bemerkung und fragte, was er gemeint habe. Achim war aber gedanklich schon weiter, er hatte nämlich festgestellt, dass die Kreide alle war, seine Klappenkreide. Da wäre doch eine ganze Packung dagewesen, sagte Eddi. Ja, das sei wohl richtig, aber weil die Kreide oft breche, sei dieser Vorrat ganz schön schnell zusammengeschrumpft. Was sollte er nun tun um zehn Uhr abends? Am nächsten Morgen würden wir um acht in den Volkspark Friedrichshain fahren, um dort zu drehen. Wo soll ich die Kreide hernehmen, jetzt haben wir den Salat, sagte Achim und ich merkte seine klammheimliche Freude. Eddi blieb wie immer total ernst. Achim hätte mal vorher sagen sollen, wenn die Kreide zu Ende gehe, es käme in so einem kleinen Team drauf an, dass sich jeder verantwortungsvoll um seine Aufgaben kümmere. Eine längere Nachtruhe wäre aber auch nicht schlecht, um die Misere zu vermeiden, erwiderte Achim, der inzwischen von seinem Anspruch auf elf Stunden Pause zwischen Arbeitsende und dem nächsten Arbeitsbeginn wußte. Darüber setzte sich der Regisseur häufig hinweg, weil er meinte, wir arbeiteten nicht in der Behörde, sondern hätten einen Kulturauftrag, der an den Stand der Sonne gekoppelt sei.
Da müssen doch noch ein paar Stummel irgendwo rumliegen, bemerkte Eddi etwas genervt, woraufhin Achim plötzlich in Ironie verfiel und uns mit tiefsinnigen Weisheiten über Stummel zu unterhalten versuchte. Er habe schon immer Stummel gehasst, denn es gebe kein schlimmeres Sinnbild für einen selbstquälerischen Menschen. Jemand, der sich die Finger verbiege, um so einen Stummel bis zum letzten Atemzug aufzubrauchen, sei es nun Kreide, ein Bleistift oder auch eine Zigarette, dieses Stummelgeschummel, -gekritzel und -gespeichel empfinde er als beklemmend und es sei für ihn alles andere als eine gute Voraussetzung, um schöpferisch tätig zu werden. Das habe der große Regisseur wortwörtlich zum Team gesagt, damals, am Abend vor dem ersten Drehtag, dass man sich freikämpfen müsse, um an den Punkt zu kommen, der einem Kreativität ermögliche. Deshalb habe er, Achim, jeden Stummel sofort weggeworfen, und es seien sehr viele gewesen, wegen der schlechten Qualität der Kreide. Das habe seinen Grund, denn man habe anstatt der banalen Tafelkreide die feine Künstlerkreide gekauft, und die sei teurer, aber schlechter.
Eddi, der Achim bisher immer nur als leicht desorientierten Klappenschläger erlebt hatte, war sichtlich verwirrt über diese weitreichenden Ausführungen oder vielmehr Ausreden und wusste gar nicht, was er sagen sollte, während ich in mich hineinschmunzelte. Ohne Kreide geht’s aber nicht, stellte er schließlich fest, dann packte er seine Umhängetasche. Bevor er verschwand, stellte er mir noch die verantwortungsbewusste Frage, ob ich den Schlüssel hätte und zuschließen würde, was ich ihm mit ernster Miene zusicherte. Ich will nicht so werden wie Eddi, sagte Achim, nachdem der verschwunden war.
Das wirst du auch nicht, antwortete ich ihm und am nächsten Morgen zeigte sich auch sogleich der eklatante Unterschied zwischen den beiden. Eddi war superpünktlich und Achim kam zu spät. Zum beladen der Autos waren wir um halb acht verabredet. Das konnten wir unauffällig ohne Achim machen. Der Requisiteur, die Aufnahmeleiterin und die Maskenbildnerin fuhren meist bei Eddi mit, die Regieassistenz und die zwei Hauptdarsteller mit dem Regisseur. Schließlich waren alle bereit, nur Achim fehlte. Ich sollte auf ihn warten, während die anderen vorausfuhren. Damals waren Handys noch Mangelware. Der Regisseur hatte ein riesiges Autotelefon in seinem alten Benz, Eddi war ansonsten der einzige im Team, der schon ein Handy benutzte. Bei Achim war damit noch lange nicht zu rechnen. Also hatte ich keine Chance, herauszufinden, ob er gerade zur Haustür herauskam, oder schon in der U-Bahn saß. Ihm hätte ich auch zugetraut, dass er noch im Bett lag, aber seine Festnetznummer hatten wir bereits nach fünf Minuten Wartezeit vergeblich angewählt.
So saß ich unruhig im Auto, doch bevor ich richtig nervös werden konnte, bog Achim schnellen Schrittes um die Ecke. Es sei die dumme Kreide gewesen, sagte er, wegen der Kreide und seinem Pflichtbewusstsein wäre er zu spät. Frühmorgens habe er sich in die Schule neben der U-Bahnstation geschlichen, um Tafelkreide zu klauen, was auch gelungen sei, doch beim Rausgehen habe ihn ein Lehrer angesprochen, was er auf dem Gelände zu suchen habe. Anstatt schnell irgendetwas zusammenzulügen, habe Achim herumgestottert und es sei ein zweiter Lehrer aufgetaucht, der auch noch seinen Erziehungswillen an Achim habe abarbeiten wollen, so dass es zu einer lästigen Verzögerung gekommen sei. Letztendlich trafen wir alle gleichzeitig am Volkspark Friedrichshain ein. Es sollte gedreht werden, wie der Wessi dort spazieren geht und die Künstlerin aus dem elften Stock trifft. Es ergibt sich ein kurzer Dialog, dann trennen sie sich. Durch Zufall, oder zumindest sollte es nach Zufall aussehen, kreuzten sich ihre Wege anschließend noch mehrmals. Dummerweise auch mit denen des Klappenschlägers Achim. Dass die Klappe geschlagen wird, damit man möglichst einfach die Synchronität zwischen der Tonaufnahme und dem Bildmaterial herstellen kann, hatte Achim, als ich es ihm erklären wollte, angeblich schon gewusst. Dass er die Klappe dort schlagen muss, wo man sie gut im Bild erkennen kann, versteht sich eigentlich von selbst. Dass er mitsamt seiner Klappe dieses Bild anschließend möglichst schnell verlassen sollte, ist ebenfalls so banal, dass kein Mensch auf die Idee käme, es erklären zu müssen. Dabei können ein bisschen elementare Geometrie und gesunder Menschenverstand helfen, den kürzesten Weg zu finden. Um es genau zu sagen: Man geht entlang der Lotrechten vom Standort auf den näher gelegenen Schenkel des durch die Kamera vorgegebenen Bildwinkels zu. Diese Erklärung versteht natürlich keiner, zumal bei den inzwischen vorherrschenden Zoom-Objektiven nicht so leicht erkennbar ist, wo die Schenkel des Bildwinkels liegen. Ich hatte es Achim oft gesagt, er solle auf die Kamera zugehen und seitlich aus dem Bild heraustreten, aber er versuchte immer, mit seiner Klappe nach hinten zu verschwinden, vielleicht wegen seiner latenten Abneigung gegenüber dem großen Regisseur. Weil sich das Bild nach hinten aufweitet oder der Kameramann schwenken könnte, ist der Weg nach hinten weiter und das Risiko, ins Bild zu geraten, größer.
An dem Tag, als wir im Volkspark Friedrichshain drehten, machte er es wieder falsch, obwohl er durch seine Unpünktlichkeit sowieso schon aufgefallen war. Es gab eine, wie der große Regisseur betonte, für die dramatische Entwicklung des Films bedeutsame Einstellung, in der die beiden Schauspieler sich unterhalten und dabei auf die Kamera zukommen. Wie üblich war nicht genau festgelegt, wie der Dialog sich entwickelt, sie sollten improvisieren. Es hatte schon gleich vormittags einen Streit zwischen der Schauspielerin und dem Regisseur gegeben, weil dieser sie als typisch widerspenstige Ostlerin bezeichnet hatte, dann, einige Takes später, war plötzlich der Schauspieler beleidigt, wobei ich gar nicht mitbekam, woran es lag, aber diese Streitereien wegen Nichtigkeiten häuften sich. Die Stimmung an jenem Tag im Park war schon sehr gedrückt, die Zeit unproduktiv vergangen und dann näherte sich auch noch eine große Wolke. Deshalb waren alle scharf drauf, dass die Einstellung endlich klappt. Zwölf Takes hatten wir schon, beim dreizehnten ergab sich ein wirklich sehr schönes Wechselspiel zwischen den Schauspielern und der Kamera, aber weil der Schauspieler einen Schritt weiter nach vorne kam als im vorhergehenden Versuch, schwenkte der große Regisseur ebenfalls etwas weiter und da stand plötzlich Achim mit seiner Klappe neben einer Blumenrabatte im Bild. Achim wollte zurückweichen, dabei stolperte er über die Einfriedung und lag dann zwischen den Blumen. Das war großartiger Slapstick, über den leider niemand lachen konnte. Beim nächsten Take schob sich die Wolke während des Dialogs vor die Sonne und wir mussten fast eine halbe Stunde warten. Da lief das Fass über, der große Regisseur hatte die Schnauze voll. So einen Trottel könne man sich nicht leisten, auch wenn er nichts koste, diese Blödheit, das ginge zu weit, sagte er später bei einer Besprechung in Abwesenheit Achims. Nach den Aufnahmen im Park gab es freie Tage. Bevor die Arbeit weiterging, rief die Produzentin Achim an und teilte ihm mit, dass er beim nächsten Drehtag nicht gebraucht werde. Damit war Achims Klappenschlägerkarriere zu Ende. Eigentlich erleichterte mich sein Rausschmiss, weil Achim mit seiner Unberechenbarkeit ein permanentes Risiko darstellte, für das ich mich verantwortlich gefühlt hatte. Andererseits fand ich es ohne ihn zunächst ziemlich langweilig und das kumpelhafte Getue des Regisseurs erschien mir ab dem Moment nur als Masche und Anbiederung. Etwas mehr Verständnis für einen Mangel an Erfahrung beim ungelernten Personal hätte ich von ihm erwartet. Auch die Regieassistentin hatte inzwischen die Lust daran verloren, den Regisseur jeden Morgen zu küssen und dann mit ihm und den Schauspielern auf der Fahrt zum Drehort herumzustreiten. Deshalb kam sie unter irgendwelchen Vorwänden immer öfter zu mir ins Auto, wo wir ungestört lästern konnten. Küsschen vom Regisseur bekam sie trotzdem, entweder vor der Abfahrt oder bei der Ankunft. Von Anfang an gab es zur Begrüßung immer gleich Umarmungen. Der Regisseur wollte das Team als eine Familie sehen, oder zumindest als Freundeskreis, aber das waren wir nicht. Vielleicht hätten wir es werden können, wenn man es nicht permanent stillschweigend gefordert hätte. Uns quälte die Zwanghaftigkeit des Regisseurs und seine Rücksichtslosigkeit, mit der er es als selbstverständlich voraussetzte, dass wir Tag und Nacht für den Film da sein sollten, egal wie viel Stunden wir schon hinter uns hatten. Der Anteil der freien Tage wurde immer geringer, die Arbeitszeit pro Tag immer länger. Beachtlich, wie viel Ausdauer und Geduld der große Regisseur hatte. Vielleicht war das seine herausragende Charaktereigenschaft, mit der er sich im harten Wettbewerb der kreativen Geister hatte profilieren können. Vielleicht war ich selbst zu lasch und nicht belastbar genug, denn ich ertappte mich immer öfter bei dem Gedanken, dass ich das einfach nur durchstehen wollte, egal wie. Aber das Projekt zog sich hin wie ein gigantischer, ausgelutschter Kaugummi.

33
Als sich die Dreharbeiten immer mehr aus der Berliner Innenstadt heraus zum Stadtrand und ins Brandenburgische hinein verschoben, wurden die Fahrzeiten länger, also auch die Arbeitstage. Nun drehten wir manchmal fünf Tage pro Woche, oft bis in den Abend hinein, dann Rückfahrt zum Produktionsbüro, Ausladen um Mitternacht und früh wieder raus. Meine eigenen Projekte legte ich erst einmal auf Eis, verbrachte Zeit damit, meinen Umzug abzuwickeln und wollte es mir in der knappen Freizeit gut gehen lassen, was aber in vielerlei Hinsicht nicht richtig klappte, weil Tina inzwischen zwanzigtausend Kilometer entfernt war. Ich versuchte, mich mit anderen Genüssen bei Laune zu halten, vor allem mit Whiskey, was die Wochenenden schnell vergehen ließ. Ab und zu betrank ich mich mit der Regieassistenz, vor allem dann, wenn wir nach der anstrengenden Arbeit dringend Entspannung zu brauchen glaubten. Als schmerzlich empfand ich den Gedanken an Tina nur, wenn wieder eines der Blätter vom Gummibaum gefallen war. Dann überfiel mich eine plötzliche Melancholie, die allerdings nicht lange anhielt.
Von Tinas Wohnung aus war es ein schöner Spaziergang zu Achim. Ich besuchte ihn an einem der freien Tage, um mich nach seiner Lage zu erkundigen. Da musste ich feststellen, dass er schon wieder ganz in seine ABM-Maßnahmen-Hysterie verfallen war. Vom großen Regisseur wollte er nichts hören, wie der Film voranging, interessierte ihn nicht. Nach seinem unrühmlichen Abgang verstand ich das. Trotzdem hatte ich mir erhofft, dass er einen mitfühlenden Zuhörer abgeben würde, da er die verquere Gruppendynamik kannte und vielleicht Freude daran hatte, wenn ich über die Zwanghaftigkeit des großen Regisseurs und den eifrigen Eddi lästerte. Dem war nicht so, aber für einen Sonntagnachmittagskaffeeplausch reichte es.
Als ich ungefähr zwei Wochen später überraschend frei hatte, wollte ich Achim nochmals besuchen, ganz spontan. Aber er war nicht da, stattdessen saß Marianne bei ihm im Schlafzimmer und tippte eifrig auf die Tastatur eines kleinen, aber ungemein klobigen Laptops. Es sei sehr passend, dass ich gerade hereinschneie, sagte sie, der richtige Zeitpunkt, um einen gemeinsamen Kaffee zu trinken. Während sie mir erklärte, dass Achim es tatsächlich geschafft habe, das für ihre Unterbringung gedachte Stipendiengbudget in Bargeld zu verwandeln und sie nun dabei sei, Achims Schilderungen der ABM-Maßnahmen in ein Theaterstück zu verwandeln, quälte ich mich in Gedanken mit der Frage, warum die beiden so eine Geheimnistuerei um ihr Projekt machten. Marianne hätte sich längst bei mir melden können. In seiner Geschwätzigkeit hatte Achim immer wieder unbeabsichtigte Andeutungen fallen lassen, aber nie etwas verraten. Stattdessen war er meinen Fragen ungeschickt ausgewichen.
Achim schlafe zurzeit auswärts in einer WG, sagte mir Marianne, bei Kollegen aus seiner ABM-Maßnahme. Aber es seien tägliche Besprechungen zwischen ihr und ihm vorgesehen, um am Text zu arbeiten, oder vielmehr arbeite sie am Text und Achim versorge sie mit Informationen und Hintergrundwissen. Sollte ich sie fragen, seit wann sie sich schon in der Stadt aufhielt, wann sie sich bei Achim einquartiert hätte? Dass sie mich nicht auf dem Laufenden hielt, enttäuschte mich. Aber ich ließ mir nichts anmerken, verkniff mir alle kritischen Bemerkungen. Achims Berufsleben, das nur ein vermeintliches sei, ein simuliertes Berufsleben, hätte sie beeindruckt, aber weder im positiven noch im negativen Sinn, sondern in seiner Beispielhaftigkeit für die Entfremdung, die nicht nur symptomatisch für so eine ABM-Maßnahme sei, sondern für weite Bereiche des modernen Arbeitslebens. Kannte Marianne eigentlich irgendein modernes Arbeitsleben? fragte ich mich. Außer ihrem eigenen, das nur darin bestand, zu schreiben und somit ein untypisches war. Woher nahm sie also ihre Weisheiten über Entfremdung und Werteverlust? Sie behauptete, dass der Zwang zu einer nutzlosen und nur vorgetäuschten Arbeit, wie er ihr von Achim geschildert worden sei, einer Entwertung der Arbeitskraft gleichkomme, ein Prozess, der die Psyche der Betroffenen beeinträchtige. Dem wollte ich nicht widersprechen, so vieles beeinträchtigt die Psyche, sagte ich, auch meine Tätigkeit als Tonmann hätte sich inzwischen als sehr belastend herausgestellt. Das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, wollte nicht schon wieder mit meinem echten oder eingebildeten Leid anfangen, aber es kam unbeabsichtigt aus mir heraus. Der große Regisseur habe uns mit leeren Versprechungen geködert, hatte behauptet, die digitale Aufnahmetechnologie ermögliche eine kollektive Kreativität, was aber gar nicht stimme, es sei immer nur der große Regisseur selbst, der alle Entscheidungen treffe. Insofern habe sich die Digitalität für uns als Mogelpackung erwiesen.
Das sei ein falscher Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, widersprach Marianne. So wie sie Achims Schilderung der Dreharbeiten verstanden habe, sei es völlig egal, ob die Kamera digital oder analog arbeite, es gehe einfach darum, dass sie billig sei. Und dass nicht nur die Technik billig sei, sondern auch die Leute, die damit arbeiteten, speziell der Klappenschläger. Ich widersprach: Diese Verbilligung, egal ob technischer oder personeller Natur, sei mit einem Qualitätsverfall verbunden. Schon während ich das sagte, zweifelte ich an meiner eigenen Aussage, aber Marianne rückte es zurecht: Dass ich selbst doch genau immer diese Lücke gesucht habe, also Rahmenbedingungen, unter denen der persönliche künstlerische Ausdruck über die technologischen und kommerziellen Rahmenbedingungen triumphiere. Nun würde ich das glatte Gegenteil fordern! Denn wenn ich eine Verbilligung der Technik kritisch sähe, dann sei das ein Bekenntnis zur aristokratischen Künstler-Zweiklassengesellschaft: die einen hätten Zugang zu den Produktionsmitteln, die anderen nicht.
Unsere Diskussion wurde unterbrochen, weil Achim nach Hause kam, oder sollte ich sagen: zu Besuch? Er brachte Kuchen und Gebäck mit und sollte eigentlich von seinen aktuellen Erlebnissen aus dem ABM-Alltag berichten. Durch meine Anwesenheit und die vorherige Diskussion ergab es sich aber, dass wir stattdessen erst einmal über meine Arbeit beim digitalen Spielfilm redeten. Diesmal tat Achim sehr interessiert und hatte einiges beizutragen, um Marianne den Eindruck zu vermitteln, dass er inmitten der strebsamen Zweit- und Drittliga-Filmkarrieristen, die sich dort versammelt hätten, fehl am Platz gewesen sei. Als meine Kaffeetasse leer war, ließ Marianne Bemerkungen fallen, die mich zum Aufbrechen bewegen sollten. Sie müsse dringend weiter am Text arbeiten und zwar gemeinsam mit Achim, der noch seinen täglichen Rapport abzuliefern habe. Ich nahm das zur Kenntnis und leitete die Verabschiedung ein. Mein Versuch, mit den beiden eine Verabredung für das folgende Wochenende zu vereinbaren, erwies sich als schwierig, weil ich selbst noch nicht wusste, ob und wann ich zu arbeiten hätte und die beiden ebenfalls in einigen ungeklärten Terminfindungsprozessen verwickelt waren. Bei der täglichen 16-Uhr-Kaffeepause störe ich nie, da könne ich an allen Wochentagen ohne Anmeldung vorbeikommen, meinte Marianne und diese pauschale Einladung hellte meine getrübte Laune auf.
Als ich das Haus verließ, schien die tiefstehende Abendsonne warm und angenehm. Am liebsten hätte ich mich gleich in ein Straßencafé gesetzt, um ein Bier zu trinken. Die Szenekneipe, die bei Achim um die Ecke lag, hatte allerdings noch nicht geöffnet, eine andere lag im Schatten. Also nahm ich doch die U-Bahn und fuhr so, dass zwischen der Station, an der ich ausstieg und Tinas Wohnung ein schöner Biergarten lag. Allerdings sank die Sonne zu schnell. Genau in dem Moment, als mir das Bier auf dem Tisch gestellt wurde, verschwand sie hinter dem Schornstein der gegenüberliegenden Häuserzeile. Schon beim ersten Schluck fröstelte es mich. Ich hätte längst zu Hause sein können, sagte ich mir, obwohl ich keine Idee hatte, was ich an dem angefangenen Abend allein tun sollte. Außer müßigen Gedanken über Marianne nachzugehen und mich zu langweilen. Im Biergarten langweilte ich mich nicht nur, ich fror auch noch.
Aber dann, als mein Bier fast leer war, kam tatsächlich einer der mir bekannten Poetry-
slammoderatoren vorbei, sah mich und freute sich offensichtlich. Er sprach mich an, denn er wollte am nächsten Mittwoch in einer neuen Bar eine neue Performancereihe starten. Ich sei genau der Richtige, den er jetzt noch brauche, zumal ein anderer Performer, den ich noch nie leiden konnte, unerwartet auf eine Festgage bestand, und die könne er, der Moderator, nicht garantieren. Er hoffe aber auf üppige Einnahmen, weil die Bar ganz gut im Geschäft sei. Er habe längst vorgehabt, mich wegen der Teilnahme am Slam zu fragen, allerdings bisher versäumt, es tatsächlich zu tun. Besonders gut würde es ihm gefallen, wenn ich tatsächlich Filmprojektion mit Poetry verbinden würde. Das mache keiner außer mir, das sei wirklich cool.
Er brauchte mich gar nicht zu überzeugen, ich war sowieso scharf darauf, aufzutreten. Es gab leider das Problem, dass wir an besagtem Mittwoch einen Drehtag hatten und niemand wusste, was der große Regisseur da aufnehmen wollte und wie lange es dauern würde, bis er alle seine Vorstellungen in digitale Videobilder umgesetzt hätte. Die Performance sollte um zehn Uhr abends losgehen. Wenn ich erst nach der Pause auftreten würde, wäre es ausreichend, um elf einzutreffen, wobei vorher der Projektor aufgebaut werden müsste, aber von wem? Diese Aktion würde mir eventuell eine Menge Stress und Scherereien einbringen, aber ich konnte nicht nein sagen, weil es mir ein Bedürfnis war, mitzumachen. Ich verabschiedete mich vom Moderator, um nach Hause zu gehen, denn jetzt wusste ich, wie ich den Abend verbringen wollte. Ich würde den Text für Mittwoch überarbeiten und proben.

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Dienstag erlebten wir einen großartigen Sonnenuntergang irgendwo am Müggelsee. Rosa Schäfchenwolken vor einem sanften blauen Himmel und am Horizont rote Schlieren, zwischen denen immer wieder die Sonne hervorblitzte. Das passte ganz gut zur Handlung, denn die beiden Hauptrollen sollten sich gerade auf romantische Weise näherkommen. Aber dieser Sonnenuntergang sei zu viel, viel zu viel, sagte der große Regisseur, dieser Sonnenuntergang würde passen, wenn wir schon am Ende des Films angekommen wären. Das romantisches Zwischenhoch in der Mitte des Filmes müsse flach gehalten werden.
Bin ich denn richtig verliebt in ihn? fragte die Schauspielerin, aber der Regisseur gab ihr keine klare Antwort, sondern fragte zurück, was für sie ein geeigneter Anlass wäre, den Schalter umzulegen. Welchen Schalter? fragte sie verwirrt. Den Schalter zwischen Verliebtsein und Nichtverliebtsein, oder gäbe es so etwas bei ihr nicht? Die Schauspielerin wollte anscheinend der Diskussion aus dem Weg gehen und meinte recht patzig, dass sie sowohl das Verliebt-, als auch das Nichtverliebtsein spielen könne. Da kam der Regisseur wieder mit seiner Standardargumentation zum Thema gemeinschaftlicher Kreativität. Er wünsche sich, dass sie das nicht spiele, sondern empfinde. Sie sei aber leider Schauspielerin und nicht Schauempfinderin, warf sie dem Regisseur ziemlich grob und trotzig an den Kopf, woraufhin er ihr erklärte, dass er ihr durchaus sagen könne, was sie zu tun habe, aber das Überstülpen einer komplett durchkonstruierten Rolle wolle er nach Möglichkeit vermeiden. Die Schauspielerin war an dem Tag nicht gut auf den Regisseur zu sprechen, das merkte man. Auch der Schauspieler für die männliche Hauptrolle schaute immer nur griesgrämig in den Sonnenuntergang und sagte gar nichts.
Dann sollte es plötzlich losgehen, wir müssen uns beeilen, rief der Regisseur, die Sonne geht weg, alle auf Anfang. Beide Schauspieler verschwanden hinter einem Schuppen, weil das ihre Anfangsposition war, und der Regisseur griff sich die Kamera, die unter dem harten Gegenlicht des Sonnenuntergangs ein Bild lieferte, dass er gemeinsam mit Eddi erst diskutieren und optimieren musste Im Kopfhörer hörte ich unterdessen über die Funkmikrofone den Schauspieler tuscheln. Der Regisseur gehe ihm auf die Nerven, dieses permanente Pendeln zwischen Anbiederung und Bevormundung sei das Letzte, das halte er nicht mehr lange aus. Die Schauspielerin flüsterte, dass sie vor lauter Ärger keine Ahnung mehr habe, ob sie nun verliebt spielen solle oder nicht.
Dann waren Eddi und der Regisseur endlich fertig, die Klappe wurde geschlagen, auf Kommando kamen die Schauspieler hinter dem Schuppen hervor. Sie lieferten einen ziemlich unambitionierten Dialog über ihre Befindlichkeit beim Anblick des Sonnenunterganges, bis der Regisseur Stopp rief und ausgesprochen sachlich erklärte, dass er die Schauspielleistung beider Darsteller in dieser Einstellung als eine große Scheiße einstufen würde, das könne man nicht mit ihm machen. So lasch, wie die Schauspieler agiert hätten, grenze das an Arbeitsverweigerung. Aber er habe es nicht nötig, sich mit ihnen zu streiten, das würden wir morgen Abend noch mal machen und dann richtig und mit einem Sonnenuntergang, der hoffentlich weniger pathetisch sein werde.
Ich schreckte aus meiner Teilnahmslosigkeit auf, denn nach dem aktuellen Stand sollte mittwochs nur vormittags gedreht werden, was mir prima in den Kram passte, da ich abends zum Poetry Slam wollte. Dem Schauspieler ging es ähnlich. Er fuhr aus der Haut, man habe ihm zugesichert, dass er am Mittwoch nach Köln fliegen könne und das werde er auch tun, egal, was der Regisseur sich jetzt an spontanem Schikanen einfallen lasse, er habe da ein Vorsprechen für eine richtige Rolle, in einem richtigen Film, die auch richtig bezahlt werde, was er dringend brauche, weil dieses pseudointellektuelle Kindergarten-Liebesdrama hoffentlich bald ein Ende finde und er von der Schauspielerei leben müsse, was bei unserer Produktion nicht möglich sei. Der Regisseur wurde auch etwas lauter, aber ich hatte das Gefühl, die Vorwürfe trafen ihn nicht richtig, weil er das alles schon wusste und mit Absicht provoziert hatte. So einfach sei es auch nicht, dass jeder gehen könne, wann er wolle, und natürlich habe er dem Schauspieler zugesagt, er könne mittwochs frei haben, aber nur unter dem Vorbehalt, dass an den anderen Tagen der Drehplan eingehalten werde. Das sei nicht der Fall. Was für ein Drehplan? grunzte der Schauspieler, es gehe doch sowieso immer nur nach den Tageslaunen des Regisseurs. Der Regisseur blieb cool und sagte, na los, dann geht ihr jetzt hinter den Schuppen und spielt die Szene mit verkürztem Dialog, die Schauspielerin solle ihren Text darauf beschränken, dass sie am Wochenende zu ihrer Mutter aufs Land fahre und deshalb keine Zeit habe, und der Wessi fügt dann dieser Aussage ein arrogantes „In die Provinz?“ hinzu, das Ganze im Gegenlicht an der Kamera vorbei, kapiert?
Ich atmete auf und hörte auch das Aufatmen der Schauspieler im Kopfhörer. Sie verschwanden gleich hinter dem Schuppen, wo beide sofort flüsternd über den Regisseur abkotzten. Diesmal war die Klappe schon geschlagen, Kamera und mein DAT-Rekorder liefen, während wir warteten, bis das Geräusch eines davonfahrenden Mopeds verschwunden war. Ich nahm das Geschimpfe der Schauspieler auf. Arrogantes Arschloch und blöde Sau, sagten sie ganz deutlich und meinten zweifellos den Regisseur, aber ich konnte die Aufnahme nicht ausschalten, weil sonst die Synchronität zum Teufel gegangen wäre. Vermutlich würde der Regisseur es erst Monate später am Schnittplatz hören, denn die Tonaufzeichnungen überprüfte ausschließlich ich selbst und nur in Stichproben. Der Regisseur sichtete gemeinsam mit Eddi die Videobänder, auf denen der Ton des Kameramikros zu hören war, da würde er nichts von dem vertraulichen Geflüster in den Funkmikrofonen hören. Im letzten Licht des Sonnenuntergangs machten wir dann zwei Takes mit dem verkürzten Dialog und mir schien es, als hätte der Regisseur mit der Streiterei nur die Zeit überbrücken wollen, bis das Licht des Sonnenuntergangs seinen Vorstellungen entsprach. Aber die Schauspieler waren inzwischen so genervt, dass sie sich weigerten, mit dem Regisseur gemeinsam im gleichen Auto zu fahren und deshalb saß auf der Rückfahrt die Schauspielerin bei mir.
Seit Monaten verbrachten wir viel Zeit gemeinsam an den Drehorten und hatten trotzdem immer nur über Banalitäten geredet, über die Tonangel, die ich ihr so oft über den Kopf hielt, oder das Funkmikrofon, das ich in ihrem Jackenkragen versteckte. Unser Standarddialog begann mit meiner Frage, in welche Richtung sie reden würde, und seit einigen Wochen gab sie sich keine Mühe mehr, mir darauf zu antworten, sondern meinte zunehmend ironisch, das wisse nur der Regisseur. Ansonsten hatten wir uns bisher nichts zu sagen gehabt. Stillschweigend bewunderte ich sie, weil sie eine sanfte, aber trotzdem volle Stimme hatte. Wenn ich sie in dem guten Kopfhörer hörte, als sei sie ganz nah, bereitete mir das ein unmittelbares akustisches Vergnügen. Vermutlich war sie gut zehn Jahre älter als ich. Es war mir zu peinlich, sie zu fragen, was sie sonst noch für Filme gemacht hatte, das erschien mir unhöflich, schließlich sollte ich das wissen. Es macht mich nervöser, als mir lieb war, mit ihr allein im Auto zu sitzen, dabei war sie wegen des Streits mit dem Regisseur selbst gerade sehr angreifbar, was sie dann auch ganz unerwartet erzählte. Wir Techniker hätten es doch immer viel leichter, weil wir nur die technischen Probleme lösen müssten, die einfacher seien als die persönlichen. Probleme mit Leuten wie dem großen Regisseur seien vorprogrammiert, aber das wisse man jedes Mal erst hinterher. Sie sei auch gar nicht scharf darauf gewesen, mitzuspielen, aber es habe sich eben ergeben, und jetzt habe sie die Quälerei durchzustehen. Dem männlichen Hauptdarsteller gehe es allerdings schlechter als ihr. Der müsse seine arbeitslose Freundin und zwei Kinder durchfüttern, während sie selbst keine finanziellen Probleme habe, grundsätzlich nicht. Trotzdem sei das ziemlich belastend, wenn man nach einem Drittel der Drehzeit merke, dass eigentlich nichts zusammenpasse, dass der Regisseur ihre Art zu schauspielern nicht zu würdigen wisse, dass sie inzwischen weder den Schauspieler noch seine Rolle inspirierend finde, was ihr dann das Spielen des Verliebtseins erschwere und der Schauspieler habe auch schon gemerkt, dass in dem Team alles auseinanderstrebe und deshalb dieser Film auf keinen Fall ein Sprungbrett für seine Karriere sein werde. Von diesen unliebsamen Gegebenheiten entmutigt, kreisten die Gedanken des Hauptdarstellers nur darum, wie er an Nachfolgeprojekte rankommen und damit seine Haushaltskasse sanieren könne. Alles ziemlich verkorkst, aber nun müsse man eben ein paar Wochen durchstehen, und da sei mit noch einigen Streitereien zu rechnen. Ob sie denn im Auto rauchen dürfe, fragte sie mich, was reine Höflichkeit war, denn der überquellende Aschenbecher war nicht zu übersehen. Sie hatte allerdings keine Zigaretten. Vermutlich war sie eine von diesen reinen Stressraucherinnen. Es dauerte einige rote Ampeln lang, bis ich während der Fahrt eine Zigarette gedreht hatte und ihr anbieten konnte. Die nahm sie, steckte sie in den Mund, spielte mit dem Feuerzeug und warf sie dann plötzlich unangezündet aus dem Fenster. Sie werde jetzt doch nicht rauchen! Bloß, weil der Regisseur so ein frustrierter Neurotiker sei, brauche sie sich nicht auch frustrieren lassen und einen Rückfall in die Nikotinabhängigkeit riskieren. Lieber Alkohol, da sei der Entzug sowieso erst noch in Planung. So schleppend, wie sich der Verkehr durch die überlasteten Einfallstraßen quälte, würden wir noch mindestens eine halbe Stunde bis ins Büro brauchen. Ich sagte der Schauspielerin, dass diese halbe Stunde durch Büchsenbier auch für mich deutlich an Lebensqualität gewinnen könne. An einer Tankstelle hielten wir an, sie holte vier kleine Dosen, eine davon war schon für mich geöffnet. Als ich mich wieder in die vierspurige Straße einfädelte, merkte ich, wie die Schauspielerin an irgendetwas herumfummelte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und warf eine frische Schachtel DDR-Zigaretten auf die Ablage. Konsequent inkonsequent, sagte sie, aber bisher sei sie damit immer gut durchgekommen, im Osten und im Westen.
Auf den großen Regisseur! Auf dass er sich mit unserem Filmprojekt ausgiebig befriedige. Dabei hielt sie mir ihre Büchse hin, um mit mir anzustoßen. Mit der anderen Hand hielt sie sehr cool die Zigarette. Ein Großteil des Tabaks verglimmte von alleine, denn während sie weiterredete, nahm sie nur einzelne Züge. Diese selbstverliebte Art des großen Regisseurs beim Inszenieren kenne sie schon, meist vom Theater. Beim Film gehe das normalerweise nicht, weil da irgendwo ein Produzent sitze, der zwar einerseits an sein Geld, aber andererseits auch an die Zuschauer denke. Von denen möchte er sein Geld letztendlich zurückbekommen. Produzenten seien erklärte Feinde der Regisseurs-Onanie. Das heiße dann aber nicht, dass da immer was Tolles bei rauskomme, wenn der Produzent die Regisseurs-Onanie abwürge, das gehe auch oft genug schief und gefalle dann überhaut niemandem.
Ich ließ mir von ihr eine Zigarette anzünden und nahm einen großen Schluck Bier. Die Schauspielerin hatte stets einen kleinen, feinsinnigen Schuss Erotik in ihren Gesten und in der Betonung ihrer Worte, ganz zu schweigen von ihrer schönen Stimme und der anzüglichen Art, mit der sie die Arbeit des großen Regisseurs runtermachte. Das gefiel mir alles sehr gut, so gut, dass ich gar nicht wusste, was ich sagen sollte. Das störte nicht weiter, denn sie redete genug: Der Regisseur habe natürlich längst bemerkt, dass es nicht so laufe, wie er es sich erhofft habe, aber was soll er machen? Inzwischen seien alle so gereizt, dass sie bei jeder Kleinigkeit überreagierten. Das werde so ein Hickhack bleiben, wo jeder aus Böswilligkeit dem anderen nichts gönne, jede Bevormundung werde mit einer Widerspenstigkeit quittiert, jede missliebige Äußerung mit einer Retourkutsche und wenn jemand sich die Blöße gebe und Entgegenkommen signalisiere, werde es ausgenutzt. Wenn schließlich irgendwann die Premiere stattfinde, werden aber alle sagen, dass es ein tolles, ein supertolles Team gewesen sei.
Du übertreibst, sagte ich, und sie gab mir Recht. Das sei alles Polemik, aber sie sei gerade in der Laune, die Polemik als Wahrheit zu sehen, ihre Wahrheit, die sie sich jetzt zum Feierabend gönne, so wie der Regisseur sich seine, und er habe auch noch den Anspruch, diese durch den Film zu manifestieren. Theater, Film, Fernsehen, und dann auch noch die Werbung, alles Tummelplätze für unterschiedliche Wahrheiten, manchmal mit riesigem Aufwand inszeniert, um ihr Gewicht und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Wahrheit ihrer kleinen Feierabendpolemik sei dagegen banal und harmlos, aber sie habe keine Lust, die echte Wahrheit zu entschlüsseln, denn dazu müsse sie Verständnis für den armen großen Regisseur aufbringen, schließlich wolle der auch nur einen guten Film machen, aber habe sich eben in den Schauspielern vergriffen und nun sei es ihr gemeinsames Problem, mit dem sie sich gegenseitig auf den Nerven rumtrampelten. Morgen früh gehe sie wieder total objektiv an die Sache ran, dann werde die nächste Szene in den Kasten gesteckt, gedreht oder digital hineingesaugt. Das machen wir dann noch einen Monat lang, bis wir fertig sind. Danach suche ich mir den nächsten neurotischen Regisseur, der gerade eine mittelalte, mittelerfolgreiche Schauspielerin mit Mittelscheitel braucht. Ich schaute sie an. Du hast doch gar keinen Mittelscheitel, sagte ich. Sie könne sich jederzeit einen Mittelscheitel machen, dann sehe sie wirklich aus wie die typische, widerspenstige Ostlerin, die der Regisseur sowieso schon in ihr entdeckt habe, sie könne sich aber auch blondieren, dann sei sie im Nu eine West-Tussi vom Ku’damm. Sie mache sowieso alles Mögliche, um den dämlichen Ideen der Regisseure, Filmemacher und Casting-Agenten gerecht zu werden. Außerdem sei sie gar nicht mittelberühmt, sondern ziemlich bedeutungslos. Nur mittelalt, das stimme. Ich hätte es mit meiner Tonangel wirklich viel einfacher.

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Die Prognose der Schauspielerin stimmte nur teilweise. Zwar zeigte sie sich wie angekündigt am nächsten Morgen sehr kooperativ gegenüber dem großen Regisseur, aber in Bezug auf den Zeitplan lag sie ziemlich falsch. Die restlichen Dreharbeiten dauerten nicht einen Monat, sondern es vergingen drei, und trotzdem waren wir immer noch nicht ganz fertig. Aber der Hauptdarsteller hatte tatsächlich in Köln eine langfristige Rolle in einer Krankenhausserie bekommen, was künstlerisch zweifellos noch fragwürdiger war als unser Projekt, aber optimale Bedingungen bot, um die Familie zu ernähren. Eddi sollte erstmal beim Abschlussfilm eines überambitionierten Filmhochschulregiestudenten Kamera machen, vierzehn Drehtage ohne Pause und dann noch ein Wochenende auf der Zugspitze. Auch andere Personen des Teams hatten zu dem Zeitpunkt schon neue Verpflichtungen.
Die restlichen zwei bis drei Drehtage sollten kurzfristig an Sonntagen eingeschoben werden, darauf hatten sich alle geeinigt. Um das Projekt nicht zu kippen, erklärten wir uns auch bereit, auf die tariflich garantierten Sonntagszuschläge zu verzichten. Bei mir würde es immer passen, es gab zu dem Zeitpunkt für mich keine andere Verpflichtungen, die Auftragslage als Kameratagelöhner sah gerade recht schlecht aus, das war der große Mist. Zuvor hatte ich bereits aus Rücksicht auf den großen Regisseur einige gutbezahlte Tageseinsätze ausgeschlagen.
Aber zunächst durfte ich am Mittwoch beim Poetry Slam in der angeblich extrem coolen und total angesagten Bar mitmachen. Die Bar lag in Schöneberg und dieser Stadtteil rutschte damals auf dem Trendbarometer gerade in den Keller. Trotzdem war der Typ an der Bar, von dem ich zunächst nicht wusste, ob es sich um den Besitzer handelte oder nur um einen von diesen selbstgefälligen Cocktailschwenkern, extrem arrogant und fand unzählige Gründe, weshalb unser Poetry Slam die Leute davon abhalten könnte, Getränke zu bestellen. Dass ich einen Projektor in den Gastraum stellen wollte, bezeichnete er als ungemütlich und faselte dann auch noch was Kritisches von wegen Elektrosmog. Wie er einzelne Lampen ausschalten könnte, um das Licht für die Filmvorführung zu dämpfen, wusste er nicht. gab das nicht zu, sondern behaupte, die Lampen nicht ausschalten zu wollen.
Der Moderator war schon ganz verzweifelt, weil er befürchtete, dass die Backstage-Stimmung in seiner neuen, tollen Location durch so einen zickigen Barkeeper versaut würde. Und dann sollten wir auch schon um neun anfangen, denn, so der Barkeeper, um elf müssten wir fertig sein, um elf sei die Bude voll mit Gästen, die Cocktails trinken, da habe Schluss zu sein mit der Poetry, damit sein ultracooler Acid Jazz laufen könne. Bei so viel Anteilnahme verflog die Vorfreude, es machte mir überhaupt keinen Spaß, die Technik hinzustellen und zu verkabeln. Die anderen Slammer, die erst später eintrafen, weil sie weder einen Projektor schleppen noch aufbauen mussten, waren unverschämt gut gelaunt und bekamen von den vielen Vorbehalten des Barkeepers gar nichts mit. Stattdessen kümmerte sich plötzlich eine vorlaute Thekenschlampe um uns, die das genaue Gegenteil von ihrem Kollegen war. Sie sagte, es sei toll, dass endlich mal was los sei in dem langweiligen Schuppen und wir sollten nicht zu früh anfangen, und dann noch eine Filmprojektion, das fand sie prima. Dieser Stimmungsumschwung war gut für unsere Motivation, das Publikum kam aber trotzdem nur sehr zögerlich. Erst trudelten ein paar dubiose Gestalten ein, denen weder Interesse an Poetry, noch an ultracoolem Acid Jazz anzumerken war, dann zwei Pärchen, die sich nur unterhalten wollten und schließlich doch noch ungefähr zehn Gäste, die tatsächlich wegen unserer literarischen Darbietungen gekommen zu sein schienen. Denen gefiel es dann aber so gut, dass wir problemlos bis Mitternacht vortragen konnten, zumal die erwarteten 23-Uhr-Cocktail-Trinker ausblieben. So entpuppte sich die Ankündigung der üppigen Gage als purer Zweckoptimismus und es blieb nur eine Möglichkeit, das Aufwand-Nutzen-Verhältnis des Abends zu verbessern: Viel trinken. Gemeinsam mit einem der anderen Poetry Slammer ließ ich mich volllaufen. Er fand meinen Film gut und ich seinen Text. Ich hatte zum Film übersteigerte apokalyptische Visionen vorgelesen, er eine minimalistische Perkussion auf Bierflaschen und Gläsern hingelegt, die nicht nur zu seinen Pointen über das Herumhängen in Bars passte, sondern auch dazu, wie wir gemeinsam am Tresen saßen und mit der Thekenschlampe Witze rissen.
Allerdings war ich schließlich so betrunken, dass ich meinen Filmprojektor nicht bis nach Hause bekam. Irgendwo ließ ich ihn einfach stehen. Ich konnte mich vage erinnern, in der U-Bahnstation laut mit dem Projektor geredet zu haben und ihm vorwarf, er sei viel zu schwer und eine aussterbende Technologie, deshalb habe ich die Schnauze voll, ihn herumzuschleppen. Gekostet habe er mich auch nichts, was ein weiteres Indiz für seine Wertlosigkeit sei. Deshalb werde er jetzt sofort entsorgt, und ich verabschiedete mich von diesem bewährten Produkt der tschechischen optischen Industrie, das lange Zeit in einer Ecke des Hinterhofprogrammkinos verstaubt war, bis es mir der Hinterhofprogrammkinodirektor geschenkt hatte. Nun war der Projektor weg und der restliche Teil der Rückfahrt verschwand in einer tiefen Gedächtnislücke.
Am folgenden Tag spielte ich mit dem Gedanken, einige U-Bahnstationen oder gar das Fundbüro aufzusuchen, aber ich war zu schwach und ließ mich wieder ins Bett fallen. Dass ich den Projektor leichtfertig im Vollrausch zurückgelassen hatte, bescherte mir nun selbstquälerische Fragen, was das alles mit mir und meiner wahren Mitte zu tun haben könnte. Beim Tragen hing dieser scheißschwere Projektor an mir wie die Eisenkugel am Sträfling, aber war das nicht die notwenige Masse zur Stabilisierung meines Standpunktes? Welcher Standpunkt überhaupt? Und der Stapel von Filmdosen in meinem Arbeitszimmerregal, war das mein ICH? Vom Lokalfernsehen über die Seifenoper bis zum Neurosenregisseur hatte ich meine wertvolle Energie für einen Spottpreis hergegeben. Mir schien, als sei sie dabei verpufft, im großen Rauschen des medialen Universums verschwunden. Sollte ich mich nicht glücklich schätzen, in Form des scheißschweren Projektors und der Filmdosen mit den Filmen, den Negativen und den Tonmischungsmagnetbändern etwas zu haben, das ich anfassen konnte und das trotzdem von der kosmischen Leichtigkeit eines künstlerischen Werkes durchdrungen war? Etwas, das durch die ihm innewohnende Masse an mir klebte und gleichzeitig als kreative Idee zur Welt-Subkultur beitrug? Oder war dieses Bedürfnis, ETWAS anfassen zu wollen nur ein Verhaltensmuster, das ich mir schleunigst abgewöhnen sollte, um in meiner Branche mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten. In den wenigen Jahren, während denen ich dabei war, hatte sich schon so vieles umgekrempelt und alles wurde ständig fortentwickelt, schlichtweg unglaublich und beeindruckend! Nein, es war vermutlich nur eine romantische Vergangenheitsverklärung, wenn ich dachte, der scheißschwere Projektor könnte mir Stabilität verleihen. Nochmals versuchte ich aufzustehen, schwankte in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Kniete dann im Klo vor der Schüssel und versuchte vergebens, mich zu übergeben. Den anderen Projektor aus dem Gehöft von Tinas Opa hatte ich auch noch, deshalb schmiss ich mich wieder ins Bett und verließ es erst am Abend.
Es folgten einige Tage Dreharbeiten mit dem großen Regisseur, was ohne emotionale Verwerfungen über die Bühne ging. Als ich wieder einen Tag frei hatte, putzte ich halbherzig die Wohnung, klaubte schwermütig ein trockenes Blatt des Gummibaums vom Boden und bevor ich anfing, in der Küche mit dem Schrubber Unheil zu stiften, ging ich lieber spazieren. Ich lenkte den Schritt in die Richtung von Achims Wohnung, aß unterwegs einen Döner und trotz bemühter Langsamkeit war es erst halb vier, als ich ankam, also noch zu früh für Mariannes Kaffeepause. Trotzdem klingelte ich und wurde eingelassen. Die Wohnungstür war angelehnt, drinnen in der Wohnung herrschte Stille, nicht das übliche Klackern der Tastatur. Marianne war allein, saß zurückgelehnt vor ihrem Laptop und ließ die Arme merkwürdig lasch nach unten hängen. Eine Haltung, die ich an ihr noch nie gesehen hatte. Als ich mit einem fragenden Hallo um die Ecke bog, schien sie Erleichterung zu verspüren, atmete tief aus und meinte, jetzt sei sie beruhigt, dass ich es sei und nicht Achim. Ob Achim keinen Schlüssel habe? fragte ich. Doch, den habe er, allerdings sei er derzeit völlig unberechenbar. Eben, kaum zehn Minuten zuvor, habe er die Tür, auf deren Schwelle ich gerade stünde, zugeknallt, von außen laut zugeknallt und damit den Streit beendet, in dessen Verlauf er ihr die Freundschaft gekündigt habe. Sie habe während der letzten Tage gemerkt, wie Achim eine ganz allmählich zunehmende Skepsis entwickelt habe. Zunächst bezog sich diese Skepsis nur auf einen Running Gag, der direkt mit ihm zu tun hatte: Jede Szene ihres Theaterstücks beginne damit, dass der Protagonist seinen Kollegen erkläre, er habe eine neue Anfangsszene für sein großartiges Drehbuch. Zunächst habe Achim diese Anspielung lustig gefunden, schließlich ging es um seine ABM-Erfahrungen. Erfahrungen, die er Marianne aus freien Stücken anvertraut hatte. Die übelsten Schoten und Zoten seien ihm am Anfang noch nicht schockierend genug gewesen, um die Sinnlosigkeit der Angelegenheit sowie die Borniertheit ihrer behördlichen Durchführung zu entlarven.
Aber all die Anekdoten, die er lieferte, so Marianne, seien lediglich Schildbürgerstreiche der Teilnehmer gewesen und das habe sich schließlich auch in ihrer Bearbeitung niedergeschlagen, sie sei ja nicht der Bund der Steuerzahler, sondern eine Schriftstellerin und müsse mit dem Material arbeiten, das er ihr anbiete. Da sei Achim wohl im Laufe der letzten Tage zur Erkenntnis gekommen, seine schonungslose Offenheit hätte seinen Kollegen keinen Dienst erwiesen, sondern sie seien gerade dabei sie in die Pfanne zu hauen, nicht er, aber Marianne.
In Achims Augen, wie könne es auch anders sein, sei Marianne schuld daran, dass die Angelegenheit aus dem Ruder laufe, sie hätte seine Schilderungen falsch interpretiert. In den Tagen zuvor seien es nur skeptische Zwischenfragen und zynische Bemerkungen gewesen, aber dann sei es plötzlich aus ihm herausgeplatzt, er habe ihr vorgeworfen, sie mache sich über die Arbeitslosen lustig und gebe sie der Lächerlichkeit preis. Was sie aus seinen Schilderungen gemacht habe, sei eine Perversion seiner ursprünglichen Absichten und ein Schlag in das Gesicht derer, die sowieso von der Gesellschaft um die Würde einer sinnhaften sozialen Position betrogen würden. Achim hätte Marianne vorgeworfen, dass ihr Text mit voller Absicht genau das Gegenteil von dem ausdrücke was er habe mitteilen wollen.
Mariannes Rechtfertigungsversuche hätten ihn noch weiter in Rage gebracht, bis er sich schließlich von ihrem gemeinsamen Projekt distanzierte, oder sie vielmehr angeschrien habe, dass sie sein großes Thema doch gefälligst verschonen solle, sie könne sich ihre reaktionären und sexistischen Phantasien, ihr schmieriges Geschreibe einrahmen oder in den Reißwolf stopfen, er jedenfalls wolle nichts mehr damit zu tun haben. Damit basta, Türzuknallen und das wäre es gewesen. Sie habe ihn noch nie so aufgebracht gesehen, obwohl er sich oft in Erregung rede. Nach ihrer Einschätzung werde er sich nicht einfach wieder beruhigen. Darüber hinaus sei fraglich, ob er sein Urteil zu ihrem Theaterstück jemals revidieren werde.
Da gab ich ihr Recht, Achims Sturheit sei bekannt und unerschütterlich. Also müsse SIE nachgeben. Da schaute sie mich an, als hätte ich ihr gesagt, sie solle sich aus dem Fenster stürzen. Das gehe nicht, sie habe es doch geschrieben, meinte sie mit spürbarer Ergriffenheit, und ich überlegte, ob dieses Argument überhaupt eine Berechtigung hatte. Ich bekomme dafür das Stipendium, ich muss das Stück abgeben, ich bin davon überzeugt, ich will das nicht ändern, ich muss das fertigmachen. So wie es ist.
Angesichts dieser Ich-Bezogenheit der Begründung reizte es mich, Marianne zu widersprechen, auch wenn ich überhaupt nicht einschätzen konnte, ob das Stück, wie Achim behauptet hatte, wirklich moralisch fragwürdig sei. Vermutlich war seine Begründung ebenfalls total Ich-bezogen. Er hatte sich ideologisch immer weiter von uns entfernt, aber nicht, weil er sich bewegte, sondern weil er stehen geblieben war. War er standhaft oder borniert? Und wir? Oder ich? Angepasst oder flexibel oder beides? Irgendwie kann man immer begründen, dass das, was man macht richtig ist, oder zumindest notwendig, oder unvermeidbar oder der Hochverrat an fast vergessenen pubertären Weltverbesserungsphantasien. Wie transformiere ich meine Ideologie in die Wirklichkeit? Noch vor kurzem hatte ich in meinem verkaterten Delirium den scheißschweren Projektor als Standpunkt angesehen und die Erinnerung daran ließ mich jetzt sein Gewicht am Arm fühlen, dieses Gezerre, ihn durch lange U-Bahnverbindungsgänge zu schleppen. Natürlich konnte ich mir eine schöne gerechte Welt vorstellen, in der die Menschen nicht vom Kapitalismus gehetzt werden, sondern der Kreativität huldigen, aber ich hatte nie herausgefunden, wo ich diese Welt einschalten kann, und auch nicht, wer in dieser Welt verstopfte Kloröhren repariert oder dementen Greisen den Arsch abwischt. Diese Gedanken nutzten gerade gar nichts. Schließlich fragte ich Marianne nach den Gründen für ihre Geheimniskrämerei mir gegenüber. Erst tat sie so, als wisse sie nicht, was ich meine. Aber das stimmte nicht, das war mir klar. Ich bohrte weiter, bis sie zugab, dass Achim mich als Opportunisten bezeichnet habe und es sei Achim durchaus bewusst, wie wenig ich ihn ernst nähme, dass ihn auch die anderen nicht erst nehme würden, und dass er wiederum diese Anbiederei an Wichtigtuer wie den großen Regisseur und Typen wie Schleimspur-Eddi nicht aushalten könne, überhaupt sei es ihm zuwider, wie sich all die alternativen Geistesmenschen in ihrer vermeintlichen Künstlerselbstverwirklichung gegeneinander ausspielen lassen. Was sie davon halte, fragte ich und Marianne gab zu, dass sie Achims Einschätzung nur mit Einschränkungen teile, aber ernst nähme. Auch wenn jetzt das gegenseitige Vertrauen im Eimer sei, immerhin habe sie auf seine Meinung so viel gegeben, dass sie das Theaterstück gemeinsam mit ihm begonnen habe, so ganz könne sie sich seiner Gedankenwelt nicht entziehen. Immerhin sei er sehr konsequent.

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Den Vorwurf, ich sei ein Opportunist wollte ich zwar nicht auf mir sitzen lassen, aber mit Achim darüber zu diskutieren kam auch nicht in Frage. Mit Marianne schon eher, zumal es mich interessierte, ob es Neuigkeiten gab. Nach einigen Tagen schaute ich vormittags bei ihr vorbei, doch es öffnete niemand. An Achims ramponiertem Briefkasten prangte in großen, roten Buchstaben die Aufforderung: Hier keine Post für Wurststock einwerfen, unbekannt verzogen. Diese totale Ablehnung passte zu Achim. Es sah also ganz danach aus, als sei der Streit noch nicht geschlichtet und Marianne aus der Wohnung verschwunden. Ob sie auch aus Berlin verschwunden war, konnte ich nicht herausfinden, denn alle Telefonnummern, die ich von ihr kannte, blieben stumm. Das Bedürfnis, zwischen den beiden als Vermittler aufzutreten, verspürte ich in keiner Weise, aber die Neugier quälte mich.
Weitere turbulente Drehtage für den digitalen Spielfilm folgten, nebenbei arbeitete ich an einem Trickfilm, der sich mit der Frage beschäftigte, wie lange es dauern würde, bis alle dreieinhalb Millionen Bewohner Berlins, vom Fernsehturm hinuntergesprungen wären, sofern es ihnen in den Sinn käme, kollektiv Suizid zu begehen. Vielleicht deutete sich in dieser Filmidee bereits meine aufkeimende Berlinverdrossenheit an. Meine Rechnung beruhte auf einigen Annahmen und Näherungen, aber vor allem auf der Erkenntnis, die Transportkapazität der Fernsehturmlifte sei der geschwindigkeitsbestimmende Faktor des Prozesses und so errechnete ich, dass das Ganze auf jeden Fall mehr als 68 Tage und Nächte in Anspruch nehmen würde. Anschließend berechnete ich noch die Größe des Leichenhaufens am Fuß des Fernsehturms. Die Hauptdarstellerin des digitalen Spielfilms sprach den kurzen erklärenden Text mit ihrer schönen Stimme während einer Drehpause ein und so ergab es sich, dass ich mit sehr wenig Aufwand meinen bis dahin erfolgreichsten Animationsfilm sehr schnell fertig stellen konnte, nur ein paar einfache Skizzen, Fotokopien des Fernsehturms und einige mathematische Formeln. Durch einen glücklichen Zufall gelang es mir sogar, das Werk mit dem Titel „Einige Zahlen über die Bevölkerung Berlins“ im Fernsehen unterzubringen, später sollte er auf einer DVD mit anderen Filmen über Berlin erscheinen.
Als der Herbst begann, grau und verregnet, gingen die Dreharbeiten am digitalen Spielfilm endlich dem Ende entgegen. Alle redeten tagelang vom gefürchteten Berliner Winter, was in seiner kollektiven Hysterie viel schlimmer war als das Wetter an sich. Gleichzeitig trafen in unregelmäßigen Abständen Postkarten von sonnendurchfluteten australischen Stränden bei mir ein und hielten mich erfolgreich davon ab, mich anderen Frauen anzunähern. Ansonsten verursachten die Postkarten eher Neid, als dass sie Trost gespendet hätten. Dem Gummibaum fielen noch einige Blätter zu Boden und ich ergatterte hin und wieder interessante Kamerataglöhnerjobs, die mir wenig Spaß machten, obwohl sie gar nicht schlecht bezahlt waren. Je näher der Jahreswechsel kam, desto verunsicherter fühlte ich mich. Vor allem, als die Postkarte mit dem Hai, der gerade eine Blondine fressen will, eintraf und Tina darauf verkündete, dass genau jetzt ihr Geld alle sei, aber sie auf jeden Fall noch bis zum März bleiben wolle, um sich den deutschen Winter zu ersparen und mir die Gelegenheit zu geben, noch ein bisschen ihre Wohnung zu bewohnen. Ihr Rückflug sei für den 25. März gebucht, einem Samstag.
Am Ende der Nachricht wies sie explizit darauf hin, dass sie mich liebe. Das las sich gut, stimmte mich allerdings misstrauisch. Ich hatte keinen Anlass für Verdächtigungen, steigerte mich aber dennoch in die Wahnidee hinein, dass sie das nur schreibe, um mich in Sicherheit zu wiegen. In Verbindung mit meiner zu dem Zeitpunkt unklaren Berufsperspektive, dem unglücklichen Abgang von Marianne und Achim, ganz zu schweigen von der Wohnungssuche, die sowohl lustlos als auch unergiebig war, sah ich mich einmal mehr als Spielball widriger Umstände. Eigentlich zweifelte ich weniger an Tinas Treue als an der Notwendigkeit, ihre Wohnung zu verlassen, aber es gab da ein Restrisiko: Was wäre, wenn sie doch mit einem neuen Freund zurückkäme? Ulrich und Henry hatten sich zur gleichen Zeit plötzlich dafür entschieden, jeweils eine Einzimmerwohnung zu beziehen, Ulrich in Charlottenburg, Henry in Mitte. Beide hüllten sich über den Grund dieser Entscheidung in Schweigen, aber der Rückweg in die WG war versperrt. Blieb nur die Flucht nach vorne, in die ostdeutsche Provinz. Das sei auch eine Lösung, sagte ich zur allgemeinen Überraschung meiner Mitmenschen. Irgendwann hatte ich mich auf die Stellenanzeige einer kleinen Universität in den neuen Bundesländern beworben. Daraufhin lud man mich tatsächlich zu einem Bewerbungsgespräch ein und hatte dann monatelang nichts von sich hören lassen. Als ich schon längst nicht mehr damit rechnete, traf plötzlich ein Brief ein, dass ich den Job haben könnte. Eine unbedeutende Stelle mit zuverlässiger Bezahlung. Die brauchten dort jemanden, der sich unter den Bedingungen des öffentlichen Dienstes um Video, Fotografie und alle anderen medialen Möglichkeiten kümmern sollte.
Ulrich meinte, das sei noch schlimmer als Charlottenburg und Henry sagte, ich müsse nicht unbedingt in Mitte wohnen, so wie er, aber in die Provinz abzuhauen, das sei sehr uncool. Er wusste, dass ich nicht uncool sein wollte. Aber ich war es. Dass ich dazu fähig war, mit verschiedenen Kurzzeitjobs genügend Geld zum Überleben zusammenzukratzen, hatte ich bewiesen. Jetzt, da sich eine Alternative bot, erschien mir mein Berliner Arbeitsalltag überhaupt nicht mehr cool, sondern anstrengend, unergiebig und total überbewertet. Martin war einer der wenigen, der mich darin bestärkte, in die Provinz zu gehen. Oder war es seine Angst, ich könnte wieder versuchen, bei ihm zu wohnen, falls Tina mich nach ihrer Rückkehr vor die Tür setzen würde? Ich verbrachte einen Abend mit ihm in der Kunstakademie, irgendwelche tollen Klangskulpturen mussten bestaunt werden. Einer von Martins Studienkollegen habe ebenfalls an einer Provinzuni gearbeitet, wo ihm eine Disketten-Kamera in die Hände gefallen sei, ein merkwürdiges Ding, das Fotos direkt auf eine 3,5-Zoll-Diskette schreibe. Martin hatte sich in den Kopf gesetzt, damit einen Film zu drehen, und ich solle den Job annehmen, wenn es diese Kamera dort an der Uni gebe. Wenn es sie nicht gebe, dann solle ich sie kaufen, möglichst schnell, denn das Ding sei sehr praktisch, aber voraussichtlich schon bald veraltet.
Martin hatte unterdessen unter den vielen staunenden und lauschenden Gästen des Klangkunstfestivals eine Frau entdeckt, die er offensichtlich unbedingt ansprechen wollte. So eine lange, dünne, die sehr kulturbeflissen wirkte und sich in Begleitung einer etwas dicklichen Rothaarigen befand. Wenn die Unternehmung erfolgreich sein sollte, dann müsste ich mitmachen, zumindest am Anfang. Die dünne Blondine stellte sich jedoch als ziemlich spröde und humorlos heraus, während die kleine Rothaarige total auf mich abfuhr. Leider fand ich sie nicht richtig hübsch. Der übliche Berliner Kultur-Chic, elegant im schwarzen Kleidchen und sorgsam bemalte dunkelrote Lippen, aber mit den ausgewogenen Proportionen von Tina konnte sie bei weitem nicht mithalten, sie hatte eben ein Pfannkuchengesicht. Allerdings wanderte mein Blick allzu oft weiter nach unten und fand dort ausreichend Nahrung, um meine Gedanken dann doch in eine quälende Ambivalenz hineinzumanövrieren.
Martin verwickelte die beiden Frauen ziemlich geschickt in ein lockeres Gespräch, wobei er sich wie nebenbei als erfolgreicher Geschäftsführer seiner Internetkonzeptions- und Realisierungsfirma darstellte, die zu diesem Zeitpunkt noch mit vielen Anfangsschwierigkeiten kämpfte. Andererseits brachte er über meine kuriosen Filmprojekte künstlerischen Anspruch ins Spiel. Von der Diskettenkamera wollten wir jetzt beide nicht mehr reden, sondern lieber über völlig veraltete Technik, Oldtimerromantik der Medientechnologie, die Nummer mit dem 16-mm-Film kam immer gut an, wir durften die beiden Frauen schließlich nicht überfordern. Unsere Mischung aus Kreativität, Nonkonformismus und Geschäftstüchtigkeit sollte genügen, um erst einmal herauszufinden, auf welches dieser drei Wettbewerbsfelder sie anspringen würden. Ansonsten Sekt spendieren, ohne allzu aufdringlich zu wirken.
In der Tat ließen sie sich dazu bewegen, mit uns im Taxi zu einer Bar zu fahren, die Martin als Geheimtipp pries. Der Vorteil dieser Bar bestand aber vor allem darin, dass Martin im Nachbarhaus wohnte und er später, mit oder ohne Blondine, zu Fuß nach Hause gehen könnte. Im Taxi verriet die Blondine, dass sie in der Bank arbeite, während die Rothaarige in irgendeiner Umweltbehörde gegen die Anfeindungen diverser Chemieunternehmen zu kämpfen hätte. Das beeindruckte mich, aber sie wollte nichts von ihrer Arbeit erzählen. Unter dem Einfluss weiterer Drinks geriet ich immer weiter in den Bann ihrer üppigen Oberweite, die sich mir, vor allem wenn sie sich zu mir beugte, um zu wiederholen, was ich wegen des hohen Lärmpegels in der vollen Bar nicht verstanden hatte, unter dem enganliegenden Stoff ihres Kleides prall entgegenstreckte. Als sie aufs Klo ging, folgte ich ihr. Da ich eher fertig war, erwischte ich sie, als sie aus der Damentoilette heraus in den Flur trat.
Ich betrachtete die Plakate, die in beeindruckend großer Anzahl in mehreren Schichten übereinander die Wände vollständig bedeckten. Tatsächlich fand ich sogar drei Plakate meiner Filmvorführungen, zwei davon waren nur als kleiner Ausschnitt einer bereits überklebten Schicht zu erkennen. Diese wuchernden Plakatwände, die eine Art temporäres Archiv kultureller Ereignisse waren und die es damals in fast allen Toilettenvorräumen gab, liebte ich. Speziell dann¬, wenn Plakate von mir enthalten waren, wobei vermutlich Martin dafür gesorgt hatte, dass sie in seiner Nachbarschaftskneipe aufgehängt wurden. Stolz wies ich die Rothaarige auf meine fotokopierten kulturellen Duftmarken hin und konnte es nicht lassen, ihr dabei an den Hintern zu langen. Das war wohl genau das, was sie nicht wollte, oder noch nicht, oder nicht im Toilettenvorraum. Sie schob meine Hand weg, deutete auf das Plakat einer Tangotanzveranstaltung und berichtete mir, dass sie dort gewesen sei und es sei so schön gewesen. Für Tango interessierte ich mich nun überhaupt nicht, schlimmer noch: Ich konnte Leute, die sich für Tango interessierten, nicht leiden. Ohne weiteren Meinungsaustausch gingen wir zurück an den Tisch, wo Martin mit der Blondine erfolgreich zu flirten schien. Das hätte mich ermuntern können, stattdessen fühlte ich mich mit einem Mal völlig entmutigt, die Luft war raus. Mir fiel nichts mehr ein, obwohl die Rothaarige mich immer wieder groß anschaute. So quälte ich mich mit Smalltalk und versuchte dann nochmals eine Berührung, indem ich meine Hand auf ihrem Bein platzierte. Da küsste sie mich ganz energisch auf den Mund und erklärte anschließend, sie verabscheue One-Night-Stands. Sie nahm mich mit auf die Straße, um dort mit mir zu knutschen, ging dann zurück und unterhielt sich mit ihrer Freundin, während ich an der Bar Getränke holte. Den Sekt, den ich ihr hinstellte, verschüttete sie, vielleicht sogar mit Absicht. Dann lachte sie plötzlich ohne erkennbaren Grund laut auf und beschloss von einer auf die andere Sekunde, sich ein Taxi zu nehmen, ich solle mich nicht bemühen, sie nach draußen zu bringen, sie kenne den Weg. Als ich ihr dennoch folgte, fiel sie mir wieder um den Hals, küsste mich leidenschaftlich, wollte wissen, ob ich sie liebe und weil ich mit meiner Antwort länger als drei Sekunden zögerte, beschimpfte sie mich, ich sei so, wie alle anderen Schwanzmenschen auch, triebgesteuert und rücksichtslos. Sie scheuchte mich davon, ich solle wieder reingehen. Als ich über die Schwelle trat, hörte ich ein seufzendes Klagen und glaubte zu verstehen, wie sie sich halblaut darüber beschwerte, dass ich tatsächlich mache, was sie von mir verlange.
Martin und die Blondine waren allerdings inzwischen verschwunden und deshalb trank ich an der Bar allein einen Whiskey. Dabei versuchte ich möglichst emotionslos zu wirken, während mir die Vorwürfe der Rothaarigen durch den Kopf gingen. Am nächsten Tag schrieb ich gleich nach dem Aufstehen einen knappen Brief an die Personalstelle der Provinzuniversität um mitzuteilen, dass sie mit mir rechnen konnten. Zum angegebenen Termin würde ich die Stelle antreten.

5. Abschnitt: Internet

37.
Noch bevor Tina aus Australien zurückkehrte, begann in der Provinzstadt mein Angestelltenverhältnis. Wie sie mir aufgetragen hatte, besorgte ich mir eine eigene Wohnung, allerdings nicht in Berlin. Die Wohnung war ziemlich schäbig und schlecht zu heizen, aber das störte mich erst einmal nicht. An der Universität gab es für mich mehrere kleine Räume und einen Keller, in denen all die Sachen untergebracht waren, die ich für meine Filme brauchte. Natürlich sollte ich diese Technik nur betreuen oder vielmehr die Studenten betreuen, wenn sie die Technik benutzen wollten, aber niemand hielt mich davon ab, wenn ich mich selbst betreute.
So hatte ich also in meinem sogenannten Medienlabor ein kleines Sortiment an 16mm-Geräten inklusive Filmvorräte, eine professionelle Videokamera mit Schnittpatz, wie es sie auch beim Lokalfernsehen hatte, eine tolle Fotoausrüstung und tatsächlich drei Diskettenkameras. Alle Architekturstudenten waren damals scharf darauf im richtigen Moment, also dann, wenn sie ihr Architekturmodell fertig gebastelt hatten, eine von diesen Diskettenkameras ausleihen zu dürfen. Kaum kam die Kamera zurück, stand schon der nächste Student bereit, um sie mir aus den Händen zu reißen. Es ging darum, ohne Zeitverzögerung Bilder zu machen und in den Computer hinzubekommen. Was später über USB-Anschlüsse und SD-Karten und noch später mit Handy und Internet zur trivialen Selbstverständlichkeit wurde, war damals nur mit der Diskettenkamera machbar: digitale Verfügbarkeit der Fotos ohne Verzögerung und ohne Kompatibilitätskomplikationen. Alle Computer hatten damals Diskettenschlitze. Andere Digitalkameras brauchten Spezialkabel oder Spezialsoftware und selbst das Brennen einer lausigen Daten-CD war eine Angelegenheit für Fortgeschrittene. Deshalb war die Diskettenkamera die einzige Kamera, die nicht nur problemlos funktionierte, sondern es funktionierte genauso problemlos, ihre Bilder zu übertragen: Von der Kamera auf den Rechner oder von einem Rechner zum anderen. Der Diskettenkamerahype war ein Triumph der Problemlosigkeit über die Qualität. Im Umfeld rings um mein Medienlabor wurde das vorweggenommen, was später mit den Smartphones weltweit den Umgang mit Fotografie umkrempelte. Auch wenn die ambitionierten Fotokünstler über die lächerlich geringe Auflösung der Diskettenkamera schimpften, wollte niemand, der es eilig hatte, erst einen Film entwickeln und dann die Abzüge scannen. Trotzdem mussten sich die neuen Technologien daran messen, was die vorhandene und bewährte Analogtechnik leisten konnte. Das war in vielen Fällen unfair, denn meist wurde hochwertige Spezialtechnologie mit schnelllebiger Unterhaltungselektronik verglichen. Kein Wunder, dass es die digitale Unterhaltungselektronik bei den Filmfachleuten schwer hatte. Wenn es ums Fotografieren ging konnten die digitalen Fotoapparate schnell aufholen, beim bewegten Bild sollten noch etliche Jahre vergehen. Auch die Diskettenkamera hatte einen Videomodus und der war von der Qualität her wirklich eine Zumutung. Wenig Auflösung, schlechte Kontraste, farbstichige, matschige Bilder und Blockartefakte. So nannte man es, wenn durch die viel zu starke Komprimierung Vierecke im Bild herumtanzten. Als wäre das nicht schlimm genug, durfte keine Aufnahme länger als 15 Sekunden dauern, denn mehr passte nicht auf die Diskette. Zu guter Letzt war auch der Ton blechern und wurde über ein eingebautes Mikrofon mit Kugelcharakteristik aufgenommen. Ein externes Mikro konnte nicht angeschlossen werden. Es war, als hätten wir das Filmemachen plötzlich neu erfunden, stünden wieder ganz am Anfang und wüssten nicht, ob unser Film ein Gruß aus der Zukunft oder aus der Vergangenheit sein soll. Zur Gegenwart schien er nicht zu gehören.
Obwohl die Idee, einen Film mit der Diskettenkamera zu drehen, von Martin stammte, teilte er mir mit, er hätte überhaupt keine Zeit für dieses Projekt. Jede Menge Aufträge für seine Firma würden verhindern, dass er, wie versprochen, in die Provinz käme. Also musste ich mir neue Mitstreiter suchen, was kein Problem zu sein schien, da ich auf ein großes Reservoir von Architekturstudenten zugreifen konnte. Da waren einige dabei, die sich um ein nonkonformes Auftreten bemühen und eine auffällige Affinität zur Subkultur zeigten. Damit wollten sie vermutlich von ihrer Zielstrebigkeit und ihrem Ehrgeiz ablenken. Vor allem Karsten, ein blondierter Punk, war regelmäßiger Gast in meinem Medienlabor und eifriger Benutzer der Diskettenkamera. Als ich ihm von dem Filmprojekt erzählte war er begeistert und bot mir an, dass wir in seinem Wohngemeinschaftshaus drehen könnten. Es war gerade Dienstag, am Mittwoch würde dort eine Party stattfinden. Das sei die richtige Gelegenheit, alle diejenigen kennenzulernen, die als Helfer und Helfershelfer für den Film in Frage kämen, sagte Karsten und eine Party in der neuen Stadt kam mir gerade recht.
Mühsam vertrödelte ich am Mittwoch nach Feierabend die Zeit. Obwohl ich erst nach zehn Uhr abends an der angegebenen Adresse auftauchte, herrschte dort noch entspannte Ruhe. Es standen schon einige Leute herum, die den Eindruck erwecken wollten, als seien sie noch gar nicht richtig da. Man hatte viel Aufwand betrieben, dem verwitterten Altbau eine extravagante Note zu geben. Später merkte ich, dass zwischen den verschiedenen Häusern, die ausschließlich aus Studenten-WGs bestanden, eine heimliche Konkurrenz herrschte, wer die coolsten Partys macht. Bevorzugte Ausstattungsobjekte waren Relikte aus der DDR, blinkende Ampelmännchen, Lampen aus verfallenen Industrieanlagen oder große und kleine Schilder, die von ideologisch veralteten Institutionen kündeten. Ein Mosaik mit dem Händedruckemblem des FDGB diente als Tischplatte, war jedoch kaum zu erkennen, weil Flaschen und Gläser einen Großteil der Fläche bedeckten. Karsten tauchte neben mir auf und drückte mir eine Bierflasche in die Hand. Die Räume im Erdgeschoss gehörten zum gemeinschaftlich genutzten Teil des Hauses, es gab dort ein Badezimmer mit einer Wanne für alle und zwei weitere Räume, die als Wohnzimmer galten. Da könnten wir dann auch mal eine Filmvorführung veranstalten, meinte Karsten, am besten die Premiere. Das Haus als Filmschauplatz war ein verlockendes Angebot, weil ich die Bewohner gleich mit nutzen konnte. Je länger ich dort blieb, desto besser gefiel es mir, bis ich keine Zweifel mehr hatte. Auch Karsten steigerte sich während unseres Gesprächs in Euphorie hinein und machte mir eine Menge Vorschläge für den Film. Die Frauen müssten sich auf der sogenannten „Liegewiese“ räkeln, sagte er, die Liegewiese sei eine Installation von Karstens Mitbewohner und wir standen direkt davor. Es war ein aus alten Schaumgummimatratzen gestapelter Kubus mit verborgenem, eingebauten Lautsprecher, der eine Toncollage abspielte. Man konnte es nur hören, wenn man das Ohr an die Matratzen drückte. Ich legte mich auf die Liegewiese und lauschte, hörte tatsächlich leise die verführerischen Stimmen von Frauen, die ihre sexuelle Verfügbarkeit anboten. Alles aus Telefonhotlines, sagte Karsten, der es aber nicht selbst aufgenommen habe, es sei sein Kommilitone und WG-Kumpan gewesen, der dazu unter einem Vorwand das gute Richtmikrofon aus meinem Medienlabor ausgeliehen hatte. Die Telefonsexrecherche und die darauffolgende Telefonsexaufnahme hatten für eine deftige Rechnung gesorgt. Eine Zahlungsaufforderung über dreihundert Mark sei Karsten, auf dessen Namen der Telefonanschluss angemeldet war, völlig unerwartet ins Haus geflattert. Sein Mitbewohner musste zugeben, dass er an einigen einsamen Abenden diese neuartige Kommunikationstechnologie ausprobiert, aber sich nicht einfach nur der Selbstbefriedigung hingegeben, sondern künstlerisch die Initiative ergriffen hätte.
Die Aufnahmen schnitt er mit dem MiniDisk-Rekorder zusammen und dann habe er sich aus dem Studentenwohnheim einen Stapel ausgemusterter Matratzen geholt, an denen bestimmt bereits der eine oder andere Tropfen Selbstbefriedigungssperma klebte.
So sei die Liegewiese als temporäres Kunstwerk für den Partyabend entstanden und nun drangen aus ihrem Inneren vulgärerotische Avancen nach draußen. Mit gefiel das sehr gut. Im Laufe des Abends legte ich mich immer wieder hin, um zu lauschen. Aber zunächst unterhielt ich mich ausgiebig mit Karsten, der alle männlichen Studenten zu kennen schien und so tat, als wisse er, auf welche Frau jeder von ihnen gerade scharf war. Für meinen Film sollten sich dann möglichst viele von diesen Frauen, zumindest aber die, auf die er und sein Kumpel es abgesehen hatten, auf der Liegewiese räkeln. Als Parallelmontage würden dazu junge Männer bei ihren Junge-Männer-Ritualen zu sehen sein: auf der Hantelbank, bei einer exotischen oder auch banalen Sportart, beim Autofahren. Als intellektueller Höhepunkt sollte ein Student dabei gezeigt werden wie er das größte und schönste Architekturmodell aller Zeiten baue.
Die Auswahl der Sportarten und des Autos bot viel Diskussionsstoff. Jeder vertrat eine andere Meinung. Immer wieder quatschten wir vorbeikommende Frauen an, damit sie eine Stellungnahme darüber abgaben, was sie am meisten beeindrucken würde, welche Sportart, welche Autos. Einen amerikanischen Straßenkreuzer wollte ich auf keinen Fall, aber den hatten wir ja auch gar nicht. Karsten wollte ein Cabrio, wobei im Bekanntenkreis nur ein banales Golf Cabrio vorhanden war, also verengte sich im Lauf des Abends die Auswahl auf einen roten Käfer und einen rostigen 80er-Jahre Mercedes. Bei den Sportarten lief es auf Capoeira, Baseball und Windsurfen hinaus. Die Diskussion verflachte nach einigen Bieren, aber das Thema funktionierte die ganze Nacht hindurch als Einstieg, um jeden und jede anzusprechen.
Dabei geriet ich an den Kommunikationstechnologieexperten. Er kam mit suchendem Blick in die Gemeinschaftswohnung und setzte sich auf die Liegewiese. Dann schaute er sich um, verschwand wieder und kehrte mit einem Bier zurück. Wir gerieten ins Gespräch und es stellte sich heraus, dass er neben mir einer der wenigen Nicht-Studenten war. Er sei, so wie ich, erst einige Wochen zuvor an die Provinzuni gekommen und arbeite nun am Lehrstuhl Kommunikationstechnik, also dort, wo man sich Gedanken über das Innenleben von Videokameras macht. Sein Diplom als Elektrotechniker stammte aus Süddeutschland und nun lebte er tatsächlich hier, da es zum Pendeln zu weit sei. Zwangsläufig verwickelte ich auch ihn in ein Gespräch über meine Filmaktivitäten und er entpuppte sich als entschiedener Befürworter des amerikanischen Straßenkreuzers. Er behauptete, dass dies doch die einzige Motivation sein könne, überhaupt ein Auto ins Spiel zu bringen. Meine Abneigung gegen alle Ikonen und Symbole des Hollywoodkinos wollte er nicht gelten lassen, weil ich doch meine Filme sowieso nicht dort drehen würde. Sein eigener Opel Kadett kam in seiner braven Banalität als Filmauto auch nicht in Frage. Trotz meines Ansatzes, die Szenerie durch minderwertige Bildqualität zu unterhöhlen, hatte diese Karre auch als ironisches Anti-Prestigeobjekt zu wenig Potential.
Dass wir mit der Diskettenkamera drehen wollten, nahm der Kommunikationstechnologieexperte emotionslos zur Kenntnis, obwohl, oder gerade weil er mir einiges an Wissen über digitale Technologie voraushatte. Die Datenrate sei eben etwas niedrig, das habe Konsequenzen, aber egal, die Entwicklung sei im Gange, was heute noch nicht gehe, gehe morgen, oder übermorgen, das sei nicht aufzuhalten. Die analoge Magnetbandspeicherung mit ihren Unzulänglichkeiten habe nur als Steigbügelhalter zu dienen und werde im Lauf der Zeit in der digitalen Informationstechnik aufgehen. Noch sei die Informationstechnik eine lahme Krücke, wer wolle schon mit einem Auto fahren, das sich langsamer als Schrittgeschwindigkeit fortbewege, da könne man auch laufen. Der notwendige Geschwindigkeitszuwachs sei ein technisches Problem, aber die Lösungen schon unterwegs. Der alte, chemische Film, der habe es ganz einfach gehabt, das sei wie Stempeln gewesen, einmal den Stempel aufs Papier geknallt, schon sei das ganze Bild gespeichert gewesen, also technisch habe das bedeutet, dass das Licht aus der Optik für eine lächerliche Fünfzigstel Sekunde aufs Negativ gefallen sei und alle chemischen Moleküle hätten sofort und gleichzeitig reagiert.
Die arme Digitaltechnik hingegen, die müsse seriell arbeiten, das sei, wie wenn man das vollgeschriebene Blatt Papier nicht kopiere, sondern abschreibe, ich solle mir doch mal vorstellen, 25 Seiten pro Sekunde mit der Schreibmaschine abzutippen, da würden die Finger ganz schön flott fliegen, aber erschwerend käme hinzu, dass die Seiten ziemlich groß seien, nämlich jede einzelne 20 Quadratmeter, das sind vier mal fünf Meter, wenn man die Auflösung eines High-Definition-Bildes zugrunde lege. Geschwindigkeit sei zwar keine Hexerei, aber bei diesen Anforderungen werde die technologische Umsetzung durchaus anspruchsvoll. Die Diskettenkamera schaffe gerademal ein Zehntelpromille des erforderlichen Datendurchsatzes, weil die Laufwerke grundsätzlich viel zu langsam seien. Da helfe dann eben nur noch gnadenlose Komprimierung. Weil aber Technologiereaktionäre unbedingt an ihrer dem Untergang geweihten, total redundanten Analogtechnik festzuhalten beabsichtigten, machten sie Komprimierung schlecht und polemisierten ständig gegen sie, fuhren unglaubliche argumentative Geschütze gegen eine Technologie auf, die sich auf jeden Fall durchsetzen werde.
Der Kommunikationstechnologieexperte verfiel jetzt in einen Erkläreifer, der mir in meiner Partystimmung etwas zu weit ging. Konzentrieren konnte ich mich auch nicht, denn es legte sich gerade eine dunkelhaarige Studentin mit orientalischen Gesichtszügen auf die Liegewiese. Bestimmt war sie durch eines der vielen internationalen Austauschprogramme in die ruinöse Hälfte der deutschen Provinz geraten. Sie verstand kaum Deutsch und als ich ihr übersetzen wollte, was die leisen Stimmen sagten, die zwischen den Matratzen flüsterten, schaute sie mich zunehmend entsetzt an. Schließlich verschwand sie, was für mich der Anlass war, einen weiteren Streifzug durch das Haus zu unternehmen.
Ein Stockwerk weiter oben hatte man eine Wohnung leergeräumt, die nun als Tanzfläche diente. Elektronische Mainstream-Musik bumberte vor sich hin. Die Gäste drängten sich dicht aneinander, so dass ich für mich keinen Platz fand und noch weiter nach oben stieg. Im Treppenhaus schlängelte ich mich zwischen verschiedenen Grüppchen hindurch, die auf den Stufen tiefsinnige Gespräche führten. In jedem Stockwerk gab es je eine Zwei- und eine Dreizimmerwohnung, die Eingangstüren sperrangelweit geöffnet und dort befanden sich weitere trinkende Menschen. Die wenigsten kannte ich, aber einige glaubte ich schon mal gesehen zu haben.
Schließlich traf ich auf eine blonde Studentin, die bereits ihre Mitarbeit im Film zugesagt hatte. Sie mixte für alle Vorbeikommenden einen sehr wirksamen Drink aus allerlei Schnäpsen, von dem sie behauptete, es sei ein polnisches Geheimrezept. Ich war gerade der einzige, der an ihrer Theke stehenblieb. Deshalb gab es für mich eine besonders wirksame Mischung und sie erzählte mir von ihrem silbernen Paillettenminirock, der bestimmt perfekt für den Film sei und außerdem habe sie weiße Plateaustiefel. Eifrig bekräftigte ich, wie gut das passen würde. Wir unterhielten uns bis mein Drink leer war, so dass es sich lohnte mir noch einen zweiten einschenken zu lassen, mit dem ich dann die Treppe hinunterstieg. Dann schaute ich zur Liegewiese, später auch auf die Tanzfläche und noch später kehrte ich zur Theke im dritten Stock zurück und bekam wieder einen der hochkonzentrierten Drinks.
Ab und zu überfiel mich die Erinnerung, dass es Mittwoch war. Um neun Uhr hatte ich im Büro zu erscheinen. Aber das brachte mich nicht aus der Ruhe. Ich kam plötzlich zu der Erkenntnis, dass die Party zu meiner Einarbeitung in den neuen Arbeitsplatz gehörte. Schließlich musste ich die Studenten kennenlernen, um sie zu verstehen, und wenn ich sie verstünde, könnte ich ihnen besser helfen. Diese Hilfe war die eigentliche Aufgabe meines neuen Jobs. In dem Bewusstsein, dass ich kein gewöhnlicher Partygast war, sondern soziale Recherche zur Optimierung meiner Serviceleistungen im Dienste der Universität betrieb, verbrachte ich gutgelaunt noch weitere Stunden zwischen den tanzenden und trinkenden Studenten.

38.
Am nächsten Tag saß ich verschlafen in meinem Büro und zum Glück wollte niemand etwas von mir. Ein eigenes Büro zu haben, war für mich neu, zugleich beruhigend und komfortabel. Die Konsolidierung meines Arbeitslebens wirkte sich besonders an jenen Tagen wohltuend aus, an denen ich die Exzesse des Vorabends ausbaden musste, und so freute ich mich an der Gewissheit, bezahlt zu werden, obwohl ich dösend im Zimmer saß und darauf spekulierte, nicht gestört zu werden.
In der Tat störte mich an jenem Tag niemand aus der Uni. Die meisten Studenten schliefen vermutlich, auch wenn es ratsam gewesen wäre, sich um die laufenden Projekte des Studiums zu kümmern. Für mich gab es außer den banalen Untertiteln für ein englischsprachiges Interview nichts zu tun. Das konnte ich später machen, morgen, oder erst in der folgenden Woche.
Als das Telefon klingelte, überlegte ich, ob ich überhaupt ran gehen sollte, denn es war durchaus denkbar, dass sich eine anspruchsvolle Aufgabe ankündigte, deren Bewältigung mich in meinem verkaterten Zustand überfordern könnte. Aber es war noch schlimmer, es war Achim, der nach monatelangem Schweigen dringend mit mir reden musste. Die Telefonnummer hatte er wohl von Martin bekommen. Es ging ihm, wie kaum anders zu erwarten, um Marianne, denn die habe nun ihr unsägliches Theaterstück, das auf seiner Mitarbeit beruhe, inzwischen fertig. Ein schreckliches Machwerk, das zu seinem Entsetzen sogar aufgeführt werde, natürlich im Südwesten der Republik. Dort, wo die Menschen Arbeitslosigkeit nur aus den Nachrichten kennen würden, habe das Stück inzwischen Premiere gefeiert. Das Scheißstück von der blöden Marianne, der alles wurstegal sei, nur ihr Geschreibe nicht, aber er habe sich den Dreck angeschaut, obwohl es ihm schwer gefallen sei, es bis zum Ende auszuhalten. Da seine Versuche gescheitert seien, den Eklat auf diplomatische Weise zu vermeiden, indem er die Theaterleitung davon überzeugt, das Stück vom Spielplan zu nehmen, bliebe nun leider nur noch die Möglichkeit, eine Klage anzustrengen, also eine einstweilige Verfügung zu veranlassen, die eine weitere Aufführung verhindere.
Das sei doch Wahnsinn, sagte ich, aber Achim widersprach mir. Das sei kein Wahnsinn, das sei notwendig und ich müsse ihm bestätigen, dass die Idee zu dem Stück von ihm stamme, ich sei doch dabei gewesen, mehrmals, und habe sehen können, dass Frau Wurststock sich seines Materials bedient habe, um ihren gequirlten Mist daraus zusammenzubrauen, was somit nicht nur ein moralisches, sondern auch ein urheberrechtliches Vergehen sei. Wenn es dann zu juristischen Verfahren kommen würde, speziell zu einer Gerichtsverhandlung, müsste ich als Zeuge zur Verfügung stehen, um Achims Position zu unterstützen. Auf keinen Fall, antwortete ich und dachte mir, dass es eine absurde Vorstellung sei: Ein Gericht, das sich mit einem verkrachten Künstlergespann rumschlagen muss. Das ist euer Problem, sagte ich. Sogleich wurde ich von schier endlosen Tiraden der Polemik über Marianne, über ihr Stück und über das bornierte Theater, das sich erdreistet habe, das Machwerk aufzuführen, überrollt. Mir brummte der Kopf. Der hysterische Achim, der die Weltverschwörung herbeiredete, war auf nüchternen Magen unerträglich. Das einzige was ich verspürte, war Unwillen, den Vermittler zu spielen. Um seine Argumentation abzuwürgen, sagte ich ihm, dass er spinnen würde. Achim solle alles mit Marianne klären und mich aus der Sache draußen lassen. Ich versuchte, dabei möglichst bestimmt zu klingen. Trotzdem musste ich es mehrmals wiederholen. Als er es endlich verstanden zu haben schien, bekam ich den Vorwurf zu hören, dass ich ein mutloser Drückeberger sei, der sich in die Kunst flüchte, um dort Stellvertreterkriege zu führen, aber für eine Kontroverse im echten Leben zu feige sei. Dann knallte er den Hörer hin.
Anstatt feige hätte ich lieber harmoniebedürftig gehört. Dafür könnte man auch friedliebend sagen, oder schlicht und einfach friedlich. Friedlich ist eine positive Charaktereigenschaft, sagte ich mir, daran gibt es nichts auszusetzen. Leider hatte Achim nicht friedlich gesagt, sondern feige, und das ging mir tagelang durch den Kopf. Als Opportunisten hatte er mich sowieso schon abgestempelt. Vergeblich wartete ich die ganze Woche lang darauf, dass sich der Gedanke an Achims Vorwürfe verflüchtigte. Stattdessen wurde es immer schlimmer, plötzlich erschien mir die Tatsache, dass ich in der Provinzstadt herumsaß als Zeichen des Versagens, ich sah meinen langen Weg durch die verschiedenen Jobs als endlose Kette von Anbiederungen, doch es fehlte die erlösende Idee, was ich sonst hätte tun sollen. In dieser selbstkritischen Stimmung erschien mir auch Tinas nahende Rückkehr als Bedrohung. Obwohl es immer noch keine konkreten Hinweise gab, steigerte ich mich in die Vorahnung einer bösen Überraschung hinein und zusammen mit meinem Grübeln über Achims Vorwürfe ergab das eine lähmende Gedankenschleife.
Tina hatte mir nochmals eine Postkarte mit ihrer Ankunftszeit geschickt, die sehr liebenswürdig formuliert war. Ich spielte mit der Idee, am Samstag mit dem Zug direkt aus der Provinz zum Flughafen zu fahren, doch dann verwarf ich diesen Plan und setzte mich bereits am Freitagnachmittag in den Zug, damit ich Tinas Wohnung aufräumen und putzen konnte und vielleicht auch, um darüber nachzudenken, was in den Kühlschrank gehörte, um ihr die Rückkehr zu verschönern. Als ich die Wohnung betrat, befremdete mich der Gedanke, dass ich nur noch eine Nacht lang der Hausherr war, danach lediglich Gast. Merkwürdig schwankend zwischen Befürchtungen und Freude registrierte ich, dass der Gummibaum gleich zwei Blätter abgeworfen hatte, aber im Großen und Ganzen gut dastand. Wie nicht anders zu erwarten, blinkte der Anrufbeantworter. Dass einige Nachrichten von Achim stammten, wunderte mich nicht. Sie waren allerdings durch unser Telefonat im Büro längst überholt. Es folgten Nachrichten von Marianne. Sie sei erschüttert über Achim und bat mich, sie zurückzurufen, dringend. Es gab insgesamt drei Nachrichten von ihr, wobei sie zweimal die Nummer hinterlegte, unter der ich sie erreichen könne. Keine Berliner Nummer, auch sie schien irgendwo in der Provinz zu stecken. Ich versuchte es und tatsächlich ging sie ans Telefon.
Ob Achim mich schon erreicht habe, wollte sie wissen. Ich bestätigte. Dann sei mir ja klar, was los sei, da brauche sie gar nichts zu erzählen, und sie zweifle daran, ob es irgendetwas helfen würde, wenn ich jetzt versuchte, Achim zu besänftigen. Ob Achim mir auch erzählt habe, dass er inzwischen Hausverbot im Theater habe, wo ihr Stück gespielt werde da er die Besucher mit Flugblättern gegen sie aufzuhetzen versuche. Sind Arbeitslose Arschficker? sei die Schlagzeile seines Pamphlets, das er als Fotokopie nicht mehr im Theater verteilen dürfe, aber das könne ihn in seinem missionarischen Eifer nicht aufhalten, er verteile es jetzt eben auf der Straße vor dem Theater. Dabei habe er selbst vorgeschlagen, dass die Mitglieder der ABM-Maßnahme im Stück über Analverkehr diskutierten, und nun, da seine Vorschläge umgesetzt seien, behaupte er dreist, hier handle es sich um die Diskreditierung einer sozialen Gruppe, eine Beleidigung für alle Arbeitslosen des ganzen Landes. Mit solchen haarsträubenden Thesen habe er erst die Theaterdirektion belästigt und jetzt seien auch die Passanten und Theaterbesucher nicht mehr vor seinen verbalen Attacken sicher. Also ein richtiger Skandal, der zum Glück nur im kleinen Theater einer kleinen süddeutschen Stadt seine kleinen Kreise ziehe, doch es habe sie ziemlich aus der Bahn geworfen.
Aber ich kann da nichts machen, sagte ich, ihr müsst euch einigen, oder soll ich Händchen halten? Wem denn bitte? Achim doch wohl nicht! Marianne fiel mir erregt ins Wort. Vielleicht musst du ihm eine reinhauen, sie könne das nicht, sie sei eine Frau, sagte sie und ich erkannte keinerlei Ironie in ihrer Stimme. Achim habe sie auf offener Straße beschimpft, das sei kein Spaß gewesen, das wolle sie nach Möglichkeit in Zukunft vermeiden. Es sei reiner Zufall gewesen, dass sie sich an einer völlig beliebigen U-Bahnstation, die weder besonders nah an Achims Wohnung noch an ihren bevorzugten Aufenthaltsorten lag, begegnet seien und Achim sie auf dem Bahnsteig als Demagogin, Sexistin und Lügnerin angefeindet habe, natürlich mit seiner lauter Stimme, so dass alle Umstehenden groß geschaut hätten. Es sei eine unglaublich peinliche Situation gewesen. Zum Glück sei Achim in die U-Bahn eingestiegen und weggefahren, während sie am Bahnsteig zurückgeblieben und dann aus Panik versehentlich in die andere Richtung gefahren sei, was letztendlich dazu geführt habe, dass sie die Stadt mit der Ringbahn fast vollständig umkreist habe, um schließlich mit Stunden Verspätung an ihr Ziel zu kommen.
Vielleicht solle sie ihren Namen ändern und eine neue Identität annehmen, sagte sie, um aus dieser Scheiße herauszukommen, denn ich sei offensichtlich keine Hilfe. Nein, das bin ich nicht, warf ich mit einem Anflug von Trotz ein, denn die Aufforderung, ihr zu helfen, verdarb mir die Stimmung. Ich erinnerte mich an ihre und Achims Geheimniskrämerei und wie sie versucht hatten, mich aus der ganzen Geschichte raus zu halten. Ich könne nicht erkennen, wie ich mich in dieser verfahrenen Situation nützlich machen soll, erklärte ich ihr, aber ich würde mich freue, wieder von den beiden zu hören, wenn sie sich versöhnt hätten. Das, quietschte Marianne, werde nicht passieren. Mir egal. Schönen Abend! Ich musste die Vorbereitungen für Tinas Rückkehr hinter mich bringen, ging noch mal auf die Straße, um mir einen Wein zu besorgen, den ich trank, während ich aufräumte und putzte, ein bisschen Staub wischen, Fegen, dann noch mehr Staub wischen, wo kam der eigentlich her. Ich dachte die ganze Zeit an Marianne, nicht an Tina. Und an Achim. Obwohl sein Anruf in meinem neuen Büro schon einige Tage zurücklag, waren seine Anschuldigungen durch die Anrufbeantworternachrichten nun ins Bewusstsein zurückgekehrt. Sollte ich ihm vielleicht doch eine runterhauen? Jetzt erschien es mir als Frechheit, dass er mich als feige bezeichnet hatte. Dabei war es seine Unbeherrschtheit, die ihm diese Schwierigkeiten eingebracht hatte, dieses mangelnde Vermögen, sich selbst einzuschätzen, dieser fehlende Wille auch mal einen Kompromiss einzugehen, trotzig wie ein enttäuschter Liebhaber. Tina hatte gesagt, daran erinnerte ich mich leider allzu deutlich, ich solle Achim helfen, er sei mein Freund. Jetzt, da sie zurückkehrte, war die Lage so richtig beschissen.
Inzwischen hatte ich keinerlei Anhaltspunkte darüber, wie Achim sein sonstiges Leben gestaltete. Wenn er sich weiterhin als Arbeitsloser und Gelegenheitsarbeiter durchschlug, wäre es für ihn zweifellos ein teures Vergnügen, einen Prozess anzustrengen, zumal es hier nur darum ging, sein Vergeltungsbedürfnis zu befriedigen. Vielleicht konnte er sich das gar nicht leisten? Bei dem Gedanken, dass Achim aus rein materiellen Gründen den Schwanz einziehen müsste, empfand ich keinerlei Bedauern und bedauerte auch nicht, dass mir dieses Bedauern fehlte. Ich bedauerte auch Marianne nicht und versuchte herauszufinden, was ich überhaupt empfand. Eigentlich war ich beleidigt, weil sie mich erst übergangen hatten und jetzt beschimpften. Beide wollten meine Solidarität jeweils für sich. Andererseits amüsierte mich das Schmierentheater und ich lachte in mich hinein, wie Achim seinen Ruf als Provokateur zu immer neuen Höhepunkten trieb. Das hatte wirklich Unterhaltungswert, leider jenseits der Grenze des guten Geschmacks.
Angesichts der Peinlichkeit seines irren Benehmens war es höchste Zeit, sich von ihm zu distanzieren. Dieser Gedanke war mir zum ersten Mal durch den Kopf gegangen, als sich Marianne beschwert hatte, dass Achim sie mit seinen ständig neuen Drehbuchideen belästige. Inzwischen hatte ich meinen Lebensschwerpunkt in die Provinz verlegt und war gerade dabei, meine letzte Nacht in der eigenen Wohnung in Berlin zu verbringen. Meine ohnehin schwach gewordene Beziehung zu Achim konnte ich ganz einfach abstreifen, ich brauchte bloß NICHTS zu tun. Das dachte ich in unzähligen Variationen, während ich die Küche putzte und das Geschirr so sortierte, wie es Tina haben wollte. Alles abstreifen, alles zurücklassen, alles neu machen. Alles was vorher war, glaubte ich plötzlich nicht mehr zu brauchen. Ich schüttete den letzten Rest aus der Weinflasche in mein schon wieder leeres Glas. Endlose Runden aus Essen, Trinken, Onanieren und anderen Samenergüssen dienten mir dazu, mich in ein Selbstbedauern hineinzusteigern, mit dem ich mich über die Unsicherheit hinwegtrösten wollte, die mir das Leben bereitete.
Aber dann schlief ich gut und tief, brachte am nächsten Morgen die vielen leeren Weinflaschen in den Altglascontainer und fuhr zum Flughafen. Dort verlief alles wie in einem billigen Familienfilm: Wir umarmten uns, küssten uns, freuten uns, hatten uns viel zu erzählen, fuhren mit dem Taxi quer durch die sonnige Frühlingsstadt, Tina schaute verträumt aus dem Fenster, ich auf ihre braungebrannte Haut, auf die wirren Strähnen ihrer nun blondierten Haare, die sie länger trug als zuvor. Sie lachte ständig und die einzige auffällige Abweichung von ihrem üblichen Verhalten war die Tatsache, dass sie das Taxi nicht bezahlte, die letzten australischen Dollar waren ausgegeben und deutsches Geld habe sie sowieso nicht, sagte sie lachend. Sie müsse sich jetzt dringend von Luft und Liebe ernähren, ausgiebig. Für sie als Jetlag-Gequälte sei das Bett die einzige Rettung und ich solle mich als Rettungshelfer betätigen. Von Müdigkeit konnte bei ihr nicht die Rede sein, sie war überaktiv und schöner denn je.
Es war später Nachmittag, als wir das Bett wieder verließen. Dann kochte ich und sie führte einige Telefonate. Beim Essen rückte sie mit Hintergründen heraus, die sie mir bisher immer verheimlicht hatte. Der Onkel, dessen 16-mm-Kamera in meinen Besitz übergegangen war, hatte ihr damals neben seiner fototechnischen Gerätesammlung eine nicht unerhebliche Summe an Geld vererbt. Dieses Geld, das wegen testamentarischer Formalitäten erst nach ihrer Indienreise bei ihr angekommen sei, ermöglichte ihr während der letzten Jahre ein sorgloses Auskommen. Mit voller Absicht habe sie sich damals dazu entschlossen, das Geld einfach auszugeben, keine Rücklagen durch fragwürdige Kapitalanlagen zu bilden oder Zeit durch Nebenjobs zu verschwenden. Sie habe einfach von der Substanz gelebt und diese Substanz sei nun weg, Australien habe den Rest aufgezehrt, ihr Konto, das fünf Jahre lang ununterbrochen im Plus gewesen sei, sei jetzt ordentlich überzogen. Nun beginne für sie der Ernst des Lebens. Mein neuer banaler Job an der Provinzuni passe dazu ganz gut, sowas brauche sie auch. Am besten sofort. Aber erst müsse sie noch die Masterarbeit für ihr Studium schreiben. Umgehend und schnell, ohne Motivationsprobleme, ohne Verzögerungen, ohne Beziehungskrisen und ohne sexuelle Durststrecke, wie sie gerade eine hinter sich habe. Verstanden? fragte sie und ich sagte ja. Also los.

39.
Zwei Wochen später besuchte mich Tina am Wochenende in der Provinzstadt und wir drehten mit der Diskettenkamera im Wohngemeinschaftshaus alle Szenen, in denen die Frauen mitspielten. Die Darstellerinnen hatten sich außerordentlich hübsch gemacht und sollten sich auch dementsprechend verhalten. Vor allem dekadent herumliegen, sich schminken, tanzen und gegenseitig anzicken. Meine hübsche Tina hatte sich vorher die Haare schwarz gefärbt und im Second-Hand ein orangefarbenes, enges Kleid besorgt, mit dem sie den silbernen Paillettenrock der blonden Architekturstudentin nicht unbedingt übertraf, aber gut mithalten konnte.
Die dritte im Bunde kam aus Polen, sprach mit einem hilflos wirkenden Akzent und war mit ihrer roten Lockenmähne für eindrucksvolle Gegenlichtaufnahmen prädestiniert. Von ihr stammte auch das hochprozentige, polnische Geheimrezept, aber die blonde Architekturstudentin hatte es modifiziert und darüber stritten die beiden so lang, bis wir das schließlich in die Handlung integrierten. Den Streit und die Drinks. Die Dreharbeiten und das feuchtfröhliche Beisammensein gingen nahtlos ineinander über und alle waren bester Laune.
In diesem Zusammenhang ließ sich Tina zu der unerwarteten Aussage hinreißen, meine Lebensbedingungen in der Provinzstadt seien offensichtlich angenehmer als ihre in Berlin. Gleichzeitig behauptete sie, dort motiviert an ihrer Masterarbeit herumzuschreiben. Aber je mehr Zeit verging, desto deutlicher beschlich mich das Gefühl, dass sie das nur vortäuschte. Außerdem ging sie sehr lustlos einem Studentenjob nach. Bei einer Autovermietung nahm sie die Vorbestellungen entgegen und bekam dafür ein ordentliches Gehalt. Weil es nur ein paar Stunden pro Woche waren, langte das trotzdem nicht zum Leben. Nun musste sie die leidige Erfahrung machen, wie es sich anfühlt, wenn das Konto immer leer ist. Manche Menschen stört das nicht, mich schon. Ich empfand es als schicksalhaft, dass Tina exakt zu dem Zeitpunkt in die finanzielle Unterversorgung hineinrutschte, als ich den sehr angenehmen Zustand erreicht hatte, mich auf den monatlichen Zahltag verlassen zu können. Als Gegenleistung für mein Wochenendwohnrecht übernahm ich einen Teil ihrer Miete. Abgesehen davon wollte sie keine Hilfe von mir. Rechtzeitig hatte ich die Unwägbarkeiten der Tagelöhnerei gegen die Vorhersehbarkeit eines Angestelltenverhältnisses mit bescheidenem Gehalt eingetauscht. Die Film- und Fototechnik gab es noch dazu und davon machte ich ausgiebig Gebrauch, der Diskettenkamerafilm war nur der Anfang. Um ihn zu Ende zu drehen, verbrachten Tina und ich gemeinsam mit Studenten oder Studentinnen aus der Wohngemeinschaftshaus-Clique viele schöne Tage des Frühsommers. Wir suchten die Schauplätze, die am besten zu unseren gutaussehenden männlichen Darstellern passen würden. Ausflüge in die nähere Umgebung der Provinzstadt, um leerstehende Industriegebäude, Tagebaulandschaften oder verlassene Militäranlagen zu erkunden, erwiesen sich als sehr ergiebig. Auch bei den Studenten kam das gut an, zumal sie einige Geheimtipps beizusteuern hatten. Wir fuhren viel herum und drehten dann doch in der Stadt oder direkt am Stadtrand.
Ich setzte die jungen Männer, die möglichst imposant aussehen sollten, übertrieben elegant in Szene, aber die bescheidene Bildqualität der Diskettenkamera gab sie auf sarkastische Weise der Lächerlichkeit preis. Das Gleiche galt für die Frauen, die sich prima als Tussis gebärdeten. Letztendlich war der Film nicht mehr als eine Parallelmontage, die zwischen hyperaktiven Männern und dekadenten Frauen hin- und hersprang, bis die Männer schließlich ohne vorherige Andeutung das Zeitliche segneten. Der eine fiel vom Surfbrett ins Wasser und tauchte nicht wieder auf, dem Bodybuilder quetschte die große Hantel die Luft ab, bis er erstickte und der Autofahrer stieß mit dem Studenten zusammen, als dieser gerade sein riesiges Architekturmodell über die Straße trug. Die Frauen beklagten sich zur gleichen Zeit, ohne von den Zwischenfällen zu wissen, über schreckliche Langeweile. Dann war der Film zu Ende. Ich gab ihm den tiefgründigen Titel “Zwischen Mann und Frau liegt der Rest der Welt”.
Als ich den Film fertig hatte, war gerade die nächste Party im Wohngemeinschaftshaus in Vorbereitung. Wieder sollte es über alle Stockwerke gehen und man hatte, ohne mich zu fragen, bereits beschlossen, dass die Filmpremiere im Gemeinschaftsraum stattzufinden habe. Die „Liegewiese“ hatte die Lautsprecher und ihre kubische Form verloren und sich mittlerweile als Matratzenlandschaft in die ganze Fläche des Raums ausgedehnt. Am Anfang des Abends lief der Film fast ununterbrochen, da immer wieder neue Gäste eintrafen. Ich selbst lag auf einer Matratze direkt vor der Leinwand, neben mir der Laptop. Beim Starten des Films, fiel mir auf, dass die Zuschauer beobachten konnten, wie sich der Mauszeiger der Playtaste näherte, weil der Beam das Menü mitübertrug. Das gefiel mir gar nicht, aber auch als ich die Lautstärke vom Laptop aus korrigierte, sahen alle zu, ganz zu schweigen davon, dass der Mauszeiger manchmal mitten im Bild liegen blieb und einmal bemerkte ich ihn erst, als er direkt auf der Nase von Tina saß. Mir passte diese Vermischung von Steuerung und Inhalt überhaupt nicht, aber es gelang mir nicht, die unerwünschten Hintergrundinformationen von der Leinwand zu verbannen. In Gedanken beschimpfte ich das Verhalten des Laptops als eine Frechheit und Verschwörung, dabei hätte ich mich einfach damit beschäftigen sollen, wie man den Videoplayer durch Shortcuts auf der Tastatur steuert. Zu dieser Erkenntnis kam ich erst ein paar Jahre später. Aber bei der Premiere entschädigte mich die monumentale Projektion, die riesig wirkte, weil ich mich so nah an der Leinwand befand. Das Matratzenambiente war genau richtig. Die permanente Wiederholung der ritualhaften Handlung funktionierte wie erhofft als Sinnentleerung. Die Zuschauer beachteten weniger die vermeintlich tiefsinnige Bedeutung der Geschichte, sondern lachten über die Dialoge der zickigen Frauen und die unerwarteten Todesfälle.
Kurz nach Mitternacht traf Tina mit dem letzten Zug aus Berlin ein und brachte nicht nur, wie angekündigt, Martin, sondern auch Sabine mit, außerdem stand, völlig unerwartet, die große Tina vor mir. Wir hatten uns seit Jahren nicht gesehen. Jetzt, da ich Berlin verlassen hatte, war sie mit Mann und Kind dorthin gezogen. Von denen hörte ich zu dem Zeitpunkt zum ersten Mal, da die große Tina mir, wie sie sagte, hatte ersparen wollen, ihre blitzartige Verwandlung zur Mutter und Ehefrau eines Bauingenieures mitverfolgen zu müssen. Es genüge durchaus, dass ich dies als vollzogenen Prozess zur Kenntnis nähme, deshalb hatte sie die kleine Tina, die schon lange davon wusste, zum Stillschweigen verpflichtet. Bei Gelegenheit könne ich aber sehr gerne ihre mehr als großzügige Wohnung am Prenzlauer Berg begutachten, denn da ihr Mann sehr erfolgreich weltweit Großprojekte betreue, entspräche ihre Sechs-Zimmer-Maisonette durchaus gehobenem Niveau. Hier mischte sich die kleine Tina ein, um zu beteuern, dass es in der Tat ausgesprochen schockierend für sie gewesen sei, die große Tina erstmals in deren neuem Zuhause zu besuchen. Wie im Lifestyle-Magazin sehe es dort aus, alles neu und nur Designermöbel. Zum Glück finge inzwischen der kleine Sohn an zu laufen und sorge so für eine natürliche Unordnung.
Wie es der Zufall wollte, besaßen Sabines Eltern in der gleichen Straße auch einen Altbau, dessen Sanierung demnächst abgeschlossen sein sollte. Luxus-Sanierung, warf ich ein, zwischen Frage und Anklage schwankend. Der Luxus von heute, antwortete Sabine darauf lässig, sei ohnehin nur der Standard von morgen. In einigen Monaten ziehe sie dort hin, direkt in die Nachbarschaft von Tina. Jetzt, da ihre Tochter alt genug sei, um allein zu Hause zu bleiben, sei es an der Zeit, endlich wieder in einem lebendigen Stadtteil zu wohnen. Ihr neuer Teilzeitjob bei einer kleinen Firma, die Daten für Navigationssysteme aufbereite, sei ganz angenehm und entspräche voll ihren Qualifikationen, aber das Geld, das sie damit verdiene, reiche bestenfalls für die Tochter, keinesfalls für diese Wohnung und den Lebensstil, den sie sich inzwischen einfach so, aus dem finanziellen Überfluss ihrer Eltern heraus, die nichts Besseres mit ihrem Geld anzufangen wüssten, als es ihr ungefragt hinterherzuwerfen, angewöhnt habe. Schließlich brach sie diese Schilderung ihrer Daseinsbedingungen mit dem Satz “Ich will jetzt endlich tanzen!” ab, einem Satz, den ich vor allem von denjenigen Frauen hörte, die in ihrer Jugend überhaupt nie eine Tanzfläche betreten hatten, aber irgendwann zu Einsicht gelangten, dass sie wohl etwas verpasst haben könnten. Sabine warf die Arme in die Luft und wackelte mit der Hüfte, offensichtlich meinte sie es ernst. Los, nach oben mit dir, da ist die Tanzfläche, sagte ich. Da packte sie mich an der Schulter und schob mich die Treppe rauf, als sei ich nur für sie da. Beide Tinas kamen hinterher, während Martin erst noch einen Abstecher zur Bar machte und etwas später mit den Bierflaschen auf der Tanzfläche erschien. Der Party-DJ hatte gerade das erste Set mit den ausgelutschten Stimmungshits hinter sich. Jetzt versuchte er es mit anspruchsvoller elektronischer Club-Musik. Auf der Tanzfläche war genug Platz, so dass wir uns hemmungslos gehen lassen konnten. Martin legte merkwürdig staksige Nerd-Verrenkungen an den Tag, die beiden Tinas wechselten zwischen Knutschen und ekstatischem Zappeln und Sabine erging sich in zeitlupenhaften erotischen Hüftschwüngen, die gar nicht zum aufgekratzten Tempo der Musik passten. Ich schüttelte meinen Körper, den Kopf, die Arme, spürte den total technischen, aber wahnsinnig kraftvollen Bass, wie er mich durchdrang und in Bewegung hielt. Im bunten Licht der Partybeleuchtung erhaschte ich bizarre Anblicke dieser Menschen, die ich liebte, die sich im Rhythmus der Musik näherten und entfernten, an mir vorbeiglitten oder sich untereinander berührten, nutzlos in der Sonne, ekstatisch in der Nacht, getriggert vom banalen Bums einer synthetischen Bassdrum, flirrenden Klängen, die härter und spröder wurden, während mir die ichbezogene Idee durch den Kopf glitt, dass sie mich umkreisten wie Planeten ihre Sonne. Karsten, der blondierte Architekturpunk, schwirrte an mir vorbei, die Blondine mit dem silbernen Paillettenrock klebte an seiner Seite. Die beiden wirken, als hätten sie gerade gefickt, sagte ich mir, sie haben es sicher ganz oben im letzten Zimmer getan, dort bietet sich die beste Gelegenheit. Auch wenn das nur eine Fantasie war, mit der ich meine Erregung steigern wollte, wirkte sie. Die kleine Tina drückte sich erst von hinten an meinen Rücken, dann fiel sie mir um den Hals und ich glaubte zu erkennen, wie sich Sabine an den ungelenk tanzenden Martin ranschmiss. Dann wiederum sah ich wie durch einen Schleier die beiden Tinas küssend vor mir. Das ist meine Welt, sagte ich, aber niemand konnte es hören, denn die Musik füllte nicht nur mich, sondern auch den ganzen Raum bis kurz vor dem Zerplatzen aus. Der Beat hämmerte Energie in unsere Köpfe und Körper und mir standen Tränen in den Augen. Es war einer der Momente, der mich mit ungebremsten Gefühlen in eine Sphäre hob, die oberhalb des gewöhnlichen Daseins zu schweben schien. Auch wenn es wahrscheinlich von außen lediglich so aussah, als wäre ein verirrter Ü30-Partytrupp auf die falsche Tanzfläche geraten, um dort auszuflippen, war es für mich viel mehr, denn sie, genau SIE, waren zu mir gekommen, nachdem ich diesen Weg, der mir so lang und anstrengend vorgekommen war und der genau ins jetzt und hier führte, bewältigt hatte. Ich fragte mich, ob dies nun ein Höhepunkt meines Daseins war oder nur ein zuckendes Irrlicht. Aber was könnte denn sonst das Echte und Wahre sein? Unser wildes Gehüpfe auf der Tanzfläche einer leergeräumten Wohnung eines runtergewirtschafteten Hauses in einer unbedeutenden Provinzstadt? Ja, aber alles andere auch.
So adrenalinübersättigt, wie wir uns verausgabten, konnte es nicht lange weitergehen. Die Euphorie wurde zunehmend von der Schwäche unserer irdischen Körper verdrängt. Als der DJ wieder zu Konsensmusik überging, begann die Realität zurückzukehren, in Gestalt von Studenten, die einen flotten Sommerhit als Anlass nahmen, die Tanzfläche zu überfluten. Wir pausierten paarweise an den Fensterbänken, beobachteten die Tanzenden und tranken Bier. Schließlich fanden wir uns im Gemeinschaftsraum wieder, wo ich den Diskettenkamerafilm zum letzten Mal in dieser Nacht vorführte. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich die meisten Studenten in den oberen Stockwerken auf, weshalb wir genug Platz hatten, um kreuz und quer auf den Matratzen und Sofas herumzuliegen, teilweise übereinander und ineinander verschränkt. Beide Tinas kamen dann zum Übernachten mit zu mir. Wie selbstverständlich verabschiedeten sich Martin und Sabine gemeinsam mit dem Hinweis, dass sie ein Hotel gebucht hätten. Das hörte sich an wie von langer Hand geplant, störte mich aber zu meinem eigenen Erstaunen überhaupt nicht.
Am nächsten Tag beim gemeinsamen zweiten Frühstück in meiner Wohnung stellte sich heraus, dass allen außer der kleinen Tina die Premiere wie ein Déjà-vu vorgekommen war. Wir erinnerten uns an die Rückbesinnung, meinen Super-8-Film, dessen erste Aufführung damals in Martins Wohnung stattgefunden hatte. Die Szenerie, die das schäbige Wohngemeinschaftshaus bot, entsprach durchaus Martins unrenovierten Altbau, die Stimmung empfanden wir alle als merkwürdig ähnlich, nur die Tatsache, dass wir zehn Jahre älter waren, als der Großteil der Gäste, gab uns zu denken. Diese Rückbesinnung auf die Rückbesinnung sorgte natürlich schon aufgrund des kuriosen Wortwitzes für Heiterkeit. Ich rechnete nach und stellte fest, dass die Premiere der Rückbesinnung auf wenige Tage genau zwölf Jahre zurücklag. Sabine machte einen Witz über die fragwürdige Bildqualität des Diskettenkamerafilms, aber Martin und ich belehrten sie, dass genau das unser Ziel gewesen sei, woraufhin sie erwiderte, in weiteren zwölf Jahren wolle sie dann aber endlich einen ordentlichen Film zu sehen kriegen. Oh nein, riefen da die anderen, alles, nur das nicht, das sei keinesfalls meine Bestimmung, das könnten, sollten und müssten Andere machen.
Deshalb beschlossen wir, dass ich nun, nachdem ich sowieso schon, wenn auch unbeabsichtigt, die Stimmung der Rückbesinnung aufgegriffen hätte, genauso gut auch die Arbeit an dem damals verlorengegangen falschen Film wiederaufnehmen könnte. Ohne in der Vergangenheit zu schwelgen, fing ich sofort mit dem Brainstorming an und begann, neue Ideen für das alte Konzept zu sammeln. Ich liebte es schon immer, mit Freunden zusammenzusitzen und dabei Handlungsfäden zu spinnen. Gerade an jenem Frühstückstisch hatten sich die richtigen versammelt und in der Tat erarbeiteten wir einen fast vollständiges Handlungsstrang für den nächsten Film, der wiederum der erste Teil einer Serie wurde, deren Produktion sich dann wirklich über die von Sabine erwähnten zwölf Jahre hinziehen sollte.


  1. Den Anspruch, mit jedem Film ein zeitloses ideologisch-ästhetisches Denkmal zu setzen, hatte ich nie einlösen können. Eigentlich war es sogar vermessen, solche hochtrabenden Begriffe im Kontext meines künstlerischen Werks zu benutzen. Je länger ich mich mit dem Filmemachen beschäftigte, desto mehr wurde mir bewusst, wie viel mir missglückt war. Manche meiner eigenen, aber auch viele Werke der anderen unabhängigen jungen Filmemacher gingen mir in ihrer Bedeutungsschwere inzwischen auf die Nerven. Als Konsequenz daraus versuchte ich nun einfache, unterhaltsame Geschichten zu erzählen. Aber das Wertesystem, das meinen Geschichten zu Grunde lag, sollte nicht so spießig sein wie beim Konsensfernsehen. Ansonsten realisierte ich meine Filme so einfach wie möglich, da ich keine Ambition verspürte, die teure Ästhetik des professionellen Films aufwändig nachzuahmen. Immerhin musste ich mich an meinem Arbeitsplatz erst vierzig Stunden pro Woche um die Probleme der Universität und der Studierenden kümmern, bevor ich mit meinen eigenen Werken beginnen konnte.
    Ständig kamen neue Kameramodelle auf den Markt, aber weiterhin waren die meisten mit Magnetbandkassettenlaufwerk ausgestattet. Als digitalen Schnittplatz brauchte man einen Computer, der eine bestimmte Rechenleistung haben musste, um 25 Bilder pro Sekunde liefern zu können. Zunächst schafften das nur solche Rechner, die in jeder Hinsicht optimiert waren, nach ein paar Jahren genügte ein einfaches Modell und noch später war jeder billige Laptop gut genug. Entscheidend war nur, dass er den passenden Anschluss hatte, der den aufregenden Namen Fire Wire trug. Mit diesem Feuerdraht konnte man die Videoaufzeichnung verlustfrei von den Magnetbandkassetten in den Computer holen. Wenn der Film fertig war, wurde er wiederum digital auf eine Kassette ausgespielt. Oder als Datei abgespeichert, aber zu dem Zeitpunkt konnte ich mich mit Videodateien noch nicht anfreunden. Entweder waren sie viel zu groß und hatten trotzdem eine schlechte Bildqualität, oder sie waren klein und die Bildqualität war noch viel schlechter, also fast so mies, wie bei der Diskettenkamera. Alles eine Frage der Komprimierung, sagte der Kommunikationstechnologieexperte. Ich versuchte viele verschiedene Komprimierungsparameter, doch es klappte nie so gut, wie bei der Ausgabe auf Kassette. Dort war die Bildqualität immer von gleichbleibender hoher Qualität. Ich hatte einen Videowalkman zur Verfügung, mit dem man die Kassetten bequem abspielen konnte. Die meisten anderen Menschen mochten diese Kassetten nicht, kein Wunder, sie hatten kein Abspielgerät.
    Während ich einen Film fertigschnitt, schrieb ich meist schon am Drehbuch für den nächsten. In Anlehnung an den falschen Film betätigte ich mich tatsächlich als Kriminalist und ermittelte gegen eitle Regisseure, Filmfestivalfanatiker oder Pressesprecher, also gegen alle, die mir nicht in den Kram passten. Wenn möglich, wurden Gummienten in die Handlung integriert oder als Requisite im Bildhintergrund platziert. Es gab einerseits genügend Studierende, die mithelfen wollten, andererseits ist es ein Vorteil der Provinzstädte, dass man früher oder später die Leute trifft, deren Interessen zu den eigenen passen. So machte der Kommunikationstechnologieexperte bei mehreren Filmen den Ton, aber auch als Leiche musste er herhalten. Es gab noch zwei andere Filmemacher in der Stadt, ein paar Schauspieler ohne Engagement, Musiker, Schreiberlinge, alle jeweils vereinzelt, nicht im Überfluss wie in der Großstadt. Solange meine Filme zügig und ohne Stress abgedreht wurden, fand sich immer jemand, der Lust hatte, mitzuarbeiten. Das war gut. Meine Tina machte Kamera, wobei wir uns darauf beschränkten, minimalistisch zu drehen, entweder Totale vom Stativ oder bewegte Handkamera für die ganze Szene. Unschärfen gab es kaum, weil wir möglichst weitwinklig drehten. Wenn ein Mikrofon im Bild sichtbar war, störte uns das nicht. Das ersparte viele Komplikationen bei den Dreharbeiten. Ich hatte sowieso genug damit zu tun, mich auf meine komplizierten Texte zu konzentrieren, denn ich selbst war Hauptdarsteller und Regisseur in einem.
    Irgendwann während meines zweiten oder dritten Jahres als Universitätsangestellter zog Tina zu mir in die Provinz. Ihre Masterarbeit über kunstgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Bauhaus und Hausbau hatte sie trotz vieler innerer Widerstände fertiggeschrieben. Bewerbungsaktivitäten, um einen Job zu bekommen, der ihren Qualifikationen entsprach blieben lust- und erfolglos. Inzwischen hatte ich mir eine große, billige Wohnung besorgt, Tina war immer häufiger am Wochenende zu mir gekommen. Ich selbst hatte den Kontakt zu meinen früheren wichtigen Berliner Bekannten, den Kneipen und Kulturinstitutionen, den Poetry Slams, den Lesebühnen und Off-Filmvorführstätten weitgehend einschlafen lassen.
    An einem der letzten Wochenenden in Tinas Berliner Wohnung rief unerwartet Marianne an. Sie teilte mir mit, dass sie nun endlich fest in Berlin wohne, die Adresse brauche ich aber gar nicht wissen, es reiche, dass sie mir ihre E-Mail-Adresse gebe, das sei sowieso viel universeller, ortsunabhängig und zeitlos. Sie habe keinen Festnetzanschluss mehr, nur ein Prepaid-Handy. Einen Teil ihrer geschäftlichen Aktivitäten wickle sie inzwischen nun doch aus verschiedenen Gründen, wobei Achim der triftigste davon sei, unter einem anderen Namen ab. Vor kurzem habe er sie nochmals auf offener Straße beschimpft, deshalb sei es ihr wichtig, dass er ihre neue Adresse nicht erfahre. Trotzdem sei die Angelegenheit weitgehend ausgestanden, Achim habe zwar ursprünglich eine Anwaltskanzlei damit beauftragt, gegen sie und das Theaterstück vorzugehen, doch der Kanzlei sei ein Formfehler unterlaufen, woraufhin die Klage nicht angenommen wurde. So wie es aussehe, reiche Achims Kraft nur noch für ein paar Kraftausdrücke, falls sich ein zufälliges Treffen ereignet, aber nicht mehr für weitere juristische Schritte. Dann verabschiedete Marianne sich überraschend schnell und legte auf. Ich konnte ihr gar nicht mehr sagen, dass die Telefonnummer, die sie gewählt hatte, mitsamt der zugehörigen Adresse schon fast der Vergangenheit angehörte. Ihre E-Mail-Adresse gab mir zwar die Möglichkeit, ihr so viele Informationen zukommen zu lassen, wie ich wollte, doch ich wollte gar nicht. Ich hätte sie gerne mal wieder persönlich getroffen, oder, besser noch, mit ihr zusammengearbeitet, aber das Leben schien sich in eine andere Richtung zu entwickeln. Dementsprechend erwartete ich vor ihr keinen nennenswerten Einfluss mehr auf den weiteren Verlauf meiner Aktivitäten.
    Einer der Gründe, weshalb Tina zu mir in die Provinzstadt gezogen war, bestand darin, dass sie auf offener Straße eine Plakatwerbung gesehen hatte, auf der nach Arbeitskräften gesucht wurde und zwar von einer Firma, die offensichtlich direkt hinter dem Plakat in einem frisch renovierten Fabrikgebäude untergebracht war. Tina hielt es für aussichtslos, sich solange zu bewerben, bis irgendwo in der großen Bundesrepublik genau das Arbeitsplätzchen für eine Kunstgeschichtlerin mit wenig ausgeprägtem Selbstvertrauen geschaffen worden wäre, das auf ihre Qualifikationen zugeschnitten sei und höchstwahrscheinlich wäre es dann in einer fremden Stadt, in der sie nicht wohnen wollen würde. Stattdessen erlag sie der Faszination, dass jemand genau dort Arbeitskräfte suchte, wo sie gerade spazieren ging. Da sie es am Telefon des Autovermieters so lange ausgehalten hatte, glaubte sie, es könne in einem Callcenter auch nicht schlimmer sein. Es war einer der Arbeitsplätze, der durch die zunehmende Digitalisierung und den Ausbau der Kommunikationsnetze entstanden war. Nur ein Gelegenheitsjob, der sich zur Überbrückung anbot, aber Tina hatte leider keine richtige Vorstellung, wohin sie überbrücken sollte. Trotzdem ging es uns ausgesprochen gut, vor allem im Sommer. Wir wohnten in meiner sonnigen Vierzimmerwohnung mit Aussicht auf den Park. Wenn uns Freunde von unten zuwinkten, gingen wir runter, um mit ihnen auf der Wiese am Springbrunnen eine Flasche Wein zu trinken. An einem Samstag, an dem Tina zur Wochenendschicht eingeteilt war, erkannte ich den Kommunikationstechnologieexperten, der mit unbekannten jungen Leuten Boule spielte. Wie sich herausstellte, waren zwei von ihnen Informatikstudenten, einer langhaarig mit durchlöcherter Jeans, der andere jung und so brav aussehend, als hätte ihn Mutti vor dem Verlassen des Hauses gekämmt und ein Butterbrot zugesteckt. Dann gab es noch eine junge Frau, die mit ihrem Kurzhaarschnitt von weitem wie ein Mann wirkte und die neue Kollegin des Kommunikationstechnologieexperten war. Sie habe schon von mir gehört, sagte sie bei der Begrüßung, ob ich der Filmemacher mit den Komprimierungsproblemen sei. Was hatte man da schon wieder von mir erzählt, fragte ich mich, aber gab bereit willig zu, dass ich in Sachen Komprimierung ziemlich unbefriedigt sei. Wie schafften es die anderen, ihre Videos im Internet in bester Qualität laufen zu lassen, während alle meine bisherigen Versuche schrecklich aussahen, übersät von Artefakten und Störungen, sie ruckelten, das Bild blieb grundlos stehen oder die Übertragung brach ganz ab. Warum immer bei mir? Viel lieber als Komprimierung sei mir Redundanz. Bei dieser Aussage fühlte ich mich, als sei es das Bekenntnis in einer Selbsthilfegruppe. Redundanz ist cool, sagte der langhaarige Student, aber in der digitalen Welt könne man sie sich noch nicht leisten. Armselig, sagte ich, während ich mit dem Korkenzieher an der Weinflasche herumfummelte. Wie nicht anders erwartet, widersprach die androgyne Kollegin. Komprimierung sei ökonomisch, sagte sie und deutete auf die Boule-Kugeln. Meine Kugel lag gerade in der besten Position. Wenn ich beschrieben habe, wo alle diese Kugeln liegen und ich werfe eine dazu – was sie auch machte, wobei ihre Kugel knapp an meiner vorbei kullerte und weit hinten landete –, dann brauche ich doch zur Darstellung des Endzustandes nicht noch mal die Position aller Kugeln zu beschreiben, es genüge die Feststellung, dass eine Kugel dazugekommen sei, deren Position ich angeben könne. Dann habe ich alle Information, die ich brauche. Mit lautem Plopp zog ich den Korken aus der Flasche. Ob das nicht unnötig kompliziert sei, fragte ich, aber der brav aussehende Student musste auch noch seinen Senf dazugeben: Es wäre noch ökonomischer, den Endstand der Kugeln zu notieren und den kompletten Spielverlauf daraus rückwärts zu beschreiben. Damit arbeiteten die effektiven Komprimierungsmethoden, die einzelne Bilder des Filmes durch ihre Veränderung zu nachfolgenden Bildern beschrieben. Das sei eine durchaus elegante Methode. Vorher werde aber natürlich geprüft, welche Beschreibung einfacher sei, die von vorne oder die von hinten. Mir war noch gar nicht klar, was das bedeutete, es kam mir aber sehr geheimnisvoll vor.
    Das klingt nach Zeitreise, meinte die androgyne Kollegin versöhnlich, ist es aber nicht, denn im Computer sei es kein Problem, die Daten von mehreren Bildern gleichzeitig im Arbeitsspeicher liegen zu haben, wobei alle zugänglich sind und nicht, wie bei einer Filmrolle, immer nur einzeln erfasst und dann vergessen werden. Die analoge Technik sei doch extrem grobschlächtig und unflexibel, total auf das JETZT fixiert. Wenn der Film aus dem Internet komme, so müsse der Rechner nur einen Pufferspeicher füllen, um die zehn, zwanzig oder hundert Bilder, die für die Decodierung nötig seien, vorliegen zu haben, eventuell seien das vier Sekunden, eine Zeitverzögerung, die aber niemandem weh tue. Vier Sekunden tun niemandem weh? fragte ich ungläubig. Mir schon, ich leide unter jedem der 25 Bilder pro Sekunde, das nicht rechtzeitig erscheint. So sei das nicht gemeint, beschwichtigte mich die androgyne Kollegin, es gebe nur eine einzige Verzögerung, nämlich die, wenn der Film startet. Ich schmiss meine Kugel und knallte gleich zwei gegnerische davon, was mir aber nichts nützte, da meine eigene am allerweitesten ins Abseits geriet. Trotzdem gab ich mich nicht geschlagen. Diese schamlose Sympathie, die meine Boulepartner der Komprimierung entgegenbrachten, provozierte meinen Widerspruch.
    Es sei ja, fuhr ich fort, nicht nur eine Frage der Eleganz, sondern auch der Sicherheit. Bei den S-VHS-Kassetten, da habe eine kleine Störung auf dem Magnetband, wie sie durch ein Staubkorn verursacht werden könne, dafür gesorgt, dass eine einzelne Zeile eines Videobildes zerstört wurde, dies konnte durch die Verdopplung der benachbarten Zeile aber wieder repariert werden. Bei den DV-Bändern, die ja viel kleiner seien, führten aber ähnliche Störungen auf dem Band dazu, dass gleich ein ganzes Bild unbrauchbar werde, komplett. Aber bei diesen höheren Komprimierungsmethoden, die von einem Bild zum anderen arbeiteten, da könne ein ebenso kleiner Fehler mehr als eine Sekunde des Materials vernichten, weil sich der Fehler fortpflanze, durch die Bilder hindurchziehe, und das sei sehr bedrohlich, eine heimtückische Gefahr, wenn nicht gar eine tickende Zeitbombe. Wenn man Videobilder als Gefahr sehen will, dann ja, meinte schnippisch die androgyne Assistentin und verkannte offenbar den Ernst, mit dem ich die Angelegenheit sah. Trotzdem gelang es mir nicht, ihre gut platzierte Boulekugel weg zu schießen.
    Stattdessen quälte sie mich auch noch mit ihren Weisheiten über Fehlerkorrekturverfahren. Denn Fehler gebe es ja überall, auch in der Digitaltechnik. Es sei bei weitem nicht so, dass die Eins von der Null immer zweifelsfrei unterschieden werden könne, aber in allen Speichersystemen gebe es Korrekturverfahren, die einzelne Fehler komplett wegbügelten, doch wehe, wenn die Anzahl der Fehler einen kritischen Wert überschreite, dann breche der Leseprozess auf dem Datenspeicher zusammen. Mit etwas Pech sei alles weg, dann stecke die CD, die DVD oder die Kassette im Laufwerk und der Bildschirm bleibe schwarz oder blau oder zeige eine Fehlermeldung, je nach Gerät. Unterhalb der kritischen Fehlerhäufigkeit sehe man gar keine Störungen, oberhalb des kritischen Wertes sinke aber der Informationsgehalt schlagartig auf null, sagte mein Freund, der Kommunikationstechnologieexperte. Das beunruhigte mich sehr. Würden meine digitalen Magnetbänder in einigen Jahren plötzlich unbrauchbar werden und die Filme verschwinden? Das könne durchaus der Fall sein, meinte die androgyne Kollegin und alle anderen Informatik-Experten nickten zustimmend. Der Erdmagnetismus und die Selbstmagnetisierung seien schuld. Man hatte mich also gewarnt.
    In den folgenden Jahren hätte ich mich darum kümmern müssen, die Daten von den Magnetbändern auf ein anderes Medium zu transferieren. Aber wenn ich mir die alten Bänder anschaute, merkte ich, dass die Erinnerung an die Filme schöner war, als die Filme selbst. Das nahm mir die Motivation und ich schob die Aufgabe Jahr für Jahr vor mir her. So lagen die Magnetbänder nur herum und ihre Langzeithaltbarkeit beim Rumliegen war vergleichbar schlecht. Später, also Jahrzehnte später, wollte ich sie einfach nur abspielen, das war das einzige, was ich wollte und dieses einfache Abspielen, das ging bei der einen oder anderen Kassette nicht mehr. Es war so, wie es mir die Fachleute im Park vorhergesagt hatten: ganz oder gar nicht. Trotzdem blieben die wichtigsten Filme erhalten, weil von ihnen Kopien, Internetversionen, Dateien oder zusätzliche DVDs vorhanden waren. Deshalb hatten sich nur UNWICHTIGE Filme von alleine verabschiedet. Somit ergab sich fast von allein eine Komprimierung des Archivs. Das waren also die Aussichten und der Kommunikationstechnologieexperte ein schlechter Boulespieler. Auch ihm gelang es nicht, die Kugeln unserer Gegner wegzuschießen. Wir verloren haushoch und es wurde noch schlimmer, als Tina von der Arbeit kam. Sie sah uns von weitem und ging daraufhin gar nicht ins Haus hinein, sondern zu uns, um meine Mannschaft zu verstärken. Sie wirkte ziemlich fahrig, schmiss die Kugeln ohne Optimismus, aber mit zynischen Kommentaren. Die anderen sollten acht auf ihre Eier geben, war ihre beliebteste Redewendung beim Werfen. Meistens scheiterten ihre Attacken und häufig endete es damit, dass sie selbst in letzter Sekunde rausgekickt wurde. Schließlich verabschiedete sich die Informatik-Clique.
    Wir gingen in die Wohnung und Tina saß wieder mal so verknotet auf dem Küchenstuhl, wie ich es von ganz früher kannte. Beide Beine auf der Sitzfläche, dazu hatte sie einen großen Schlabberpullover übergestreift, unter dem sie eines ihrer angewinkelten Beine verstaute. In der Wochenendschicht gebe es immer viele obszöne Anrufe, sagte sie schließlich, damit habe sie heute Pech gehabt. Dumme Wichser, die in der Hotline des Bestellservices plötzlich anfingen, von ihrem Schwanz zu erzählen. Das sei unangenehmer, als sie zugeben wolle, obwohl man die Leute wegdrücken könne, aber manchmal kämen die dann wieder, nochmal in die gleiche Leitung, speziell am Wochenende seien gar nicht so viele Mitarbeiter da und dann quatschten diese Menschen so eine unschuldige Telefonistin mit ihren Wichsfantasien voll, sie müsse gleich kotzen, wenn sie zu viel darüber erzähle oder sich einfach nur daran erinnere. Ich wusste gar nicht, was ich dazu sagen sollte und wunderte mich, dass Tina so mitgenommen war. Einige Kolleginnen drückten dann einfach das Headset-Mikrofon in die Ohrmuschel, erklärte sie, das ergebe sofort eine entsetzlich pfeifende Rückkopplung, die gut sei, um die Wichser zu vertreiben, oder auch, um sich eine Genugtuung zu verschaffen. Sie selbst empfinde das Piepen als zu nervig. Außerdem sei es gar nicht das Problem, die Typen aus der Leitung zu schmeißen, sondern die Tatsache, dass sie sich mit ihren Selbstbefriedigungsgedanken nicht zurückhalten könnten, das mache sie fertig, das sei etwas, was ihr überhaupt nicht in den Kopf gehe. Der Tag sei ihr völlig verdorben.

41
Dann verkroch sich Tina in ihr Zimmer und strickte, was sie gerne tat, um sich von allem zurückzuziehen. Zweifellos würde sie früh ins Bett gehen, das kannte ich und es störte mich nicht. Es war vielmehr die richtige Gelegenheit, um mich mal wieder alleine auf den Weg zu machen. Der Wein im Park war der richtige Anfang gewesen. Nun öffnete ich noch eine Flasche, mit der ich die Zeit zu überbrücken versuchte. Ich brachte Tina ein Glas ins Zimmer, für das sie sich bedankte, aber als ich eine Stunde später die Wohnung verließ, war ihr Glas immer noch voll und ihr Schal schon beachtlich gewachsen. Ich hatte unterdessen mit dem Schreiben einer Kurzgeschichte begonnen, von der ich noch gar nicht wusste, worauf sie hinauslaufen würde. Die Handlung sollte sich konfus und rastlos durchs Nachtleben ziehen, mit Bewusstseinsunschärfen und Identitätsverwirrungen, so ähnlich, wie ich es für den späteren Verlauf des Abends erwartete und an anderen Abenden schon erlebt hatte.
Aber die Realität begann zunächst eher banal. Es gab in der Provinzstadt nur eine Handvoll Bars, in denen ich mich sehen lassen wollte. Wenn ich allerdings genug getrunken hatte, konnte ich auch irgendwo anders landen, in der Nepp-Anmach-Tanzbar oder dem spießigen Irish Pub. An dem Abend blieb es langweilig, obwohl ich lange trank und nach der Lieblingsbar noch in eine Diskothek ging, nach der Diskothek in die Nachtbar. Es begann in der Lieblingsbar mit Smalltalk. Ein mir bekannter Musiker erzählte unnötig viele Details von seinem neuen Heimstudio, was da so alles gehe, was er sich alles zugelegt habe, was er alles vorhabe und wie toll das werden würde. Und dann ein Student, der anfragte, wann ich bei der Arbeit freie Termine für ihn hätte, was ich in meiner Freizeit weder hören wollte, noch beantworten konnte. Eine andere Thekenbekanntschaft drängte mir ein Gespräch über Handyklingeltöne, Handynutzungsgewohnheiten und Handyknebelverträge auf, das nicht enden wollte, während die hübschesten anwesenden Frauen ausgerechnet mit dem anderen Filmemacher herumsaßen und ihm an den Lippen klebten. Es sah zu vertraulich aus, als dass ich mich einfach hätte dazusetzen können. So lauerte ich an der Theke und versuchte den richtigen Moment abzupassen, aber dann verabschiedeten sich die hübschen Frauen unerwartet schnell mit Küsschen und Umarmung. Der Filmemacher kam zu mir und nach dem üblichen Informationsaustausch beschwerte er sich über die beiden Tussis, die von ihm einen Film haben wollten, aber kein Geld hatten, um ihn zu bezahlen. Ich trug auch ein bisschen zur Unterhaltung bei, indem ich über meine Lebens- und Arbeitsbedingungen klagte. Vor allem über dürftige Bezahlung, Unverständnis und mangelnde Akzeptanz. Bei diesen ewigen Themen für Künstler und alle, die es werden wollen, kippten wir ein paar Schnäpse. Ich fühlte mich reif für die Diskothek, wo ich lange herumstand, aber niemanden traf, der sich mit mir unterhielt. Als die Diskothek sich leerte, ging ich in die Nachtbar, wo mir plötzlich die Trostlosigkeit des Abends allzu deutlich vor Augen stand. Der Anblick der provinziellen Nachtschwärmer, dieser traurigen Klientel, bedrückte mich. Männer mit hängenden Wangen, vernebeltem Blick und dem Verlangen nach einer rassigen Frau, die ihnen nicht nur um den Hals fällt, sondern auch auf die absurde Idee kommen sollte, sie wolle gefickt werden. Selbst wenn eine solche Frau plötzlich erschienen wäre, eine, die völlig wahllos den Erstbesten nimmt, stünden die Chancen immer noch schlecht, da sieben Männer anwesend waren. Und die Thekendame, die mich freundlich um das letzte Geldscheinchen brachte, das ich noch in meinem Portemonnaie hatte.
Derart emotional übersättigt, setzte ich mich schließlich zuhause an den Computer, der seit Kurzem mit Hilfe des eingebauten Modems internetfähig war. Irgendwann hatte ich aufgeschnappt, dass es kostenlose Erotik-Chatrooms gab und nun war die Zeit reif, mich um ein virtuelles Gespräch mit Nadine-will oder monique21 zu bemühen. In der Tat klappte das, obwohl auch im Chatroom ein ernüchterndes Zahlenverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Teilnehmern vorherrschte. Vielleicht gab es ja ein paar digitale Dummies oder Hostessen, die bezahlt wurden, um zu verhindern, dass die Frauenquote auf null absank. Ganz abgesehen davon war sowohl die sexuelle als auch die sonstige Identität meiner Chat-Partnerinnen völlig unklar. Einige Frauen hatten tolle, sexy Bilder von sich im Profil veröffentlicht, aber von denen reagierte keine auf meine Anfragen, und manche von denen, die mir antworteten, blieben darin verfangen, immer nur ein einzelnes Wort zu schreiben, bevorzugt NEIN oder JA, je nachdem wie meine Frage formuliert war. Schließlich verhedderte ich mich dann in einen variationsreichen Dialog über die Möglichkeiten, unter und auf dem Tisch zu kopulieren und welche Varianten der Fesselung dabei angebracht seien. Praktische Erfahrungen fehlten mir zu diesem Themenkomplex völlig, was mich aber nicht daran hinderte, so zu tun, als könne ich kompetent mitreden. Schließlich ist so ein Tisch ein übersichtliches und leicht vorzustellendes Objekt und meine Chatpartnerin spornte mich mit Anregungen immer wieder an. Trotzdem war sie ganz plötzlich verschwunden. Vielleicht doch ein Mann, der nach der Ejakulation die fragwürdige Lust, sich als unterwürfige Mitvierzigerin auszugeben, schlagartig verloren hatte? Solange man nicht abgespritzt hat, erscheinen einem die merkwürdigsten Dinge auf irritierende Weise wahnsinnig verlockend. So kam es auch dazu, dass ich unglaublich leichtfertig Vertrauen zu einer Person fasste, die sich hinter dem Decknamen Dorfdomina verbarg und mich ganz schnell einwickelte. Es stellte sich heraus, dass Dorfdomina gerade mal 30 km entfernt von meinem Provinzstädtchen ihrer Leidenschaft nachging, oder vielmehr nachzugehen versuchte, aber mangels ausreichend spritzwilliger Schwänze gar nicht ausgelastet sei und sich nun allzu oft langweile. Weil sie es aus reiner Leidenschaft mache, betonte sie, sei sie keineswegs scharf darauf, sich von mir bezahlen zu lassen. Inzwischen hatte ich zuhause noch eine halbe Flasche Wein geleert, was meine kognitiven Fähigkeiten weiter einschränkte. Aber den Fahrplan fand ich und konnte ihn sogar lesen. In einer Viertelstunde würde der erste Zug des Tages in die fragliche Kleinstadt abfahren. Als mir Dorfdomina ihre Adresse mitteilte und hinzufügte, dass sie inzwischen das Studio aufräumen könne, regte sich kein Misstrauen, sondern vielmehr die Lust auf Abenteuer in fremden, mir bisher verschlossen gebliebenen Welten.
Auf dem Weg zum Bahnhof holte ich mir Geld aus dem Automaten, sicherheitshalber nicht zu viel. Dann bestieg ich im zarten Morgengrauen den Bummelzug. Ich nahm die Nebelfetzen über den feuchten Wiesen gerade noch zur Kenntnis. Der Ausblick aus dem rumpelnden Zug hätte sehr romantisch sein können, wenn ich nicht sofort eingeschlafen wäre. Immerhin lieferte mir mein nur noch partiell arbeitendes Gehirn ab und zu den Impuls, aufzuwachen und zum Fenster herauszuschauen, ob ich schon angekommen sei. Allerdings im falschen Moment. Den richtigen Bahnhof verschlief ich, aber die Kleinstadt, in der die Domina ihrer verlockenden Tätigkeit nachging, hatte noch eine zweite Haltestelle, weit außerhalb, am ehemaligen Kombinat. Dort wachte ich auf, als der Zug schon stand und rannte auf Strümpfen panisch nach draußen. Die Schuhe hatte ich ausgezogen, um die Füße auf die Sitze zu legen. Nun trug ich sie glücklicherweise in der Hand. Meine Mütze fehlte, entweder hatte ich sie überhaupt nicht mitgenommen oder sie war im Zug geblieben. Die Domina würde mich für diese Schlamperei hoffentlich ausgiebig bestrafen.
Aber bis zu ihr war es, wie sich herausstellte, fast eine halbe Stunde Fußweg. Die Sonne kroch über den Horizont und mein sexuelles Verlangen schwand dahin. Zum Glück, denn die Adresse, die man mir genannt hatte, existierte nicht, ich fand keine Hausnummer 93 am Marktplatz. Dass ich bei Schmitt mit Doppel-T hätte klingeln sollen, erhärtete die Vermutung, zu gutgläubig gewesen zu sein, naiv, blauäugig, zum Deppen hatte ich mich machen lassen, zum Volldeppen. Derlei Selbstbezichtigungen kreisten in meinem Kopf, als ich mir gegen halb sieben bei einem Bäcker ein Brötchen holte. Immerhin war das Brötchen ein wirklich gutes, noch warmes Bäckerbrötchen, das mich fast mit der Welt versöhnte. Kaum eine Minute vom Marktplatz entfernt lag der Bahnhof, den ich bei der Hinfahrt verschlafen hatte. Der Zug zurück in die Stadt fuhr vor meiner Nase davon, weshalb ich es mir auf einer Wiese mit hohem Gras bequem machte und wieder einschlief. Ich freute mich über das freundliche Wetter und die sanften Strahlen der Vormittagssonne. Als es mir schließlich zu warm wurde, waren einige Stunden vergangen und bereits zwei Züge in die Stadt gefahren. Ich holte mir noch ein Brötchen und einen Kaffee, dann trat ich den Heimweg an.
Tina war verwirrt, aber nicht beunruhigt über mein Ausbleiben und glaubte mir eine wilde Geschichte, in der ich behauptete, dass der Filmemacher mich von der Kneipe in sein Studio mitgenommen habe, um mir die neueste Schnittsoftware zu zeigen und dann seien wir auf die Idee gekommen, eine achtteilige amerikanische Underground-Serie auf DVD zu schauen, und zwar komplett. Tina staunte, schien aber keinen Verdacht zu schöpfen. Ich fiel ins Bett und schlief bis zum Abend.

  1. Tina fühlte sich im Callcenter weiterhin nicht so richtig wohl. Kein Wunder, es war ein Scheißjob, bei dem man seine Zeit absitzen musste. Zwar lernte sie immer wieder nette Kollegen und Kolleginnen kennen, die aber im Gegensatz zu Tina selten länger als ein halbes Jahr dabeiblieben. Im Lauf der Jahre reduzierte Tina ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden pro Woche und gönnte sich einen entspannten Tagesablauf.
    An meinem Arbeitsplatz an der Universität zeigte unterdessen der technische Fortschritt deutlich seine Wirkung, denn die Studierenden liehen sich immer weniger Geräte, da sie diese nicht mehr brauchten. Die Diskettenkameras waren schon lang weggeräumt, die erste Generation von USB-Digitalfotoapparaten hatte ebenfalls ausgedient. So etwas besaßen sie inzwischen alle selbst. Fotohandys wurden bereits benutzt, aber bevor das iPhone auf den Markt kam, galt Handyfotografie als nicht salonfähig und wurde dementsprechend vor allem für Selfies und weniger für Architekturmodellfotografie eingesetzt. Videokameras mit Bandlaufwerk, die wegen ihrer bewährten Qualität zur Ausleihe bereit lagen, führten immer häufiger zu der Frage, ob diese Kassetten nicht altmodisch seien, das wäre doch gar nicht digital. War es schon, aber der digitale Übertragungsweg in den Computer stand bei den meisten Nutzern nicht zur Verfügung. Wenn die Daten erst einmal im Computer drin waren, konnten inzwischen viele Studenten ihre Videos zu Hause schneiden. Ich hätte gar nicht mehr genug zu tun gehabt, wenn nicht gleichzeitig das Selbstverständnis der Universitäten einer kontinuierlichen Öffnung zum Wettbewerb hin unterworfen worden wäre.
    Der große Spaß, den die neuen Bundesländer dabei gehabt hatten, sich mit Hilfe der Vereinigungsmilliarden überall schöne neue Universitäten hinzustellen oder ihre alten, ideologisch unbrauchbaren Institute umzukrempeln, war vorbei. Viele dieser neuen Universitäten dümpelten lasch vor sich hin, anstatt einen Nobelpreisträger nach dem anderen auszuspucken oder als sogenannte Wachstumskerne für die herbeigesehnten Hochtechnologiebranchen zu fungieren. Silicon Valley entstand weder an Elbe oder Spree, noch in der mecklenburgischen Seenplatte. Auch über unsere Universität und die dazugehörige Provinzstadt waren verschiedene Wellen der Ernüchterung hinweggeschwappt. Obwohl sich die Landesregierung sozialdemokratisch gab, fand neoliberales Gedankengut auch im Bildungsbereich Platz, sich zu entfalten. Wenn im Geldspeicher der Landesregierung gerade nichts für den Bildungsbereich übrig war, sollten doch die Universitäten selbst schauen, wie sie zu Geld und zu Studierenden kommen. Deshalb war es in den Führungsetagen der Universitäten inzwischen angesagt, nicht mehr nur nach Weisheit und Erkenntnis zu streben, sondern auch die Werbetrommel für Forschungsgelder und Studierende zu rühren. Marketing-Mentalität griff immer weiter um sich und nahm mich unter ihre Fittiche. Es fing mit einzelnen Fotos für die neue Internetseite an, dann produzierte ich einen Film, der zeigte, wie schön es an unserer Universität sei. Im Lauf der Zeit wurden solche Aufgaben immer häufiger, bis ich als verlängerter Arm der Marketingabteilung fast nur noch damit beschäftigt war, das Image unserer Provinzinstitution aufzupolieren. Eine anspruchsvolle Aufgabe, bei der die Qualität des Handwerks darin bestand, minderwertiges und mittelmäßiges nach Gold aussehen zu lassen. Je besser das klappte, desto verlogener erschien es mir. Hier ging es nicht, wie beim Dokumentarfilm, um eine Interpretation der Wirklichkeit, sondern um ihre Erfindung, druckreif, frisch gebügelt und pseudo-authentisch. Meist sah es trotzdem nur nach durchschnittlicher Provinzuni aus, manchmal gelangen mir aber Bilder, die sogar mich selbst beeindruckten. Mein Lieblingsfoto nannte ich “Studentin am lasergesteuerten Kirschkernspaltungsreaktor”. Der Reaktor trug in Wirklichkeit eine andere Bezeichnung, die ich mir von Anfang an nicht merken konnte. Die Studentin war beim Fotoshooting zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Reaktor in Berührung gekommen. Normalerweise forschte ein bebrillter Wissenschaftler mit Halbglatze an dem Gerät und wollte lieber nicht fotografiert werden. Ihn zu zeigen, wäre die langweilige Wirklichkeit gewesen, die keiner sehen wollte, und die zudem noch um die Information hätte ergänzt werden müssen, dass für das Forschungsprojekt die Anschlussfinanzierung nicht bewilligt worden war. Aber die Studentin, bei der es sich um eine studentische Hilfskraft zur Praktikumsbetreuung handelte, sah sehr gut aus und trug unter dem weißen Labormantel ein enganliegendes buntes Kleid. Ihr Lächeln ging eine merkwürdige Symbiose mit den glänzenden, gewundenen Edelstahlbauteilen des Reaktors ein, die den Betrachter im Unklaren darüber ließ, ob sie das Gerät bewunderte oder sich darüber amüsierte. In Wirklichkeit hatte ich ihr einen Witz erzählt, den sie gut fand. Es fanden sich zum Glück noch viele andere Studentinnen, die mir das Vergnügen bereiteten, mit ihnen Fotos zu machen. Das tröstete mich erfolgreich darüber hinweg, dass meine Aufnahmen der Wirklichkeitsverzerrungen dienten. Der schöne Schein wird medial am Glänzen gehalten, sagte ich mir, dafür sind die Medien da, wozu sonst? So versuchte ich mich zu rechtfertigen, dabei hatte niemand nach einer Rechtfertigung gefragt. Immer, wenn ich mit derartigen Überlegungen anfing, hielt man mich für einen komischen Kauz.
    Damals gab es vor allem das ursprüngliche Internet, noch wenig vom interaktiven Web 2.0, das mit seinen ausufernden gegenseitigen Verweisen, seinen Posts und Likes alles in sich aufsaugte und ins schier Unendliche übersteigerte. Eine Information stand einfach nur im Netz. Was allerdings auch schon zu viel sein konnte, wenn es denn die falsche war. Wie zum Beispiel: “Jeanette XYZ ist gar keine Studentin, sondern eine Prostituierte.” Dieser Satz war Teil einer Kurzgeschichte, die ich in jener Nacht begann, als mich die vermeintliche Domina aufs Glatteis lockte. Ein banaler Satz innerhalb einer gut zwanzig Seiten langen Story, wobei anstatt des Kürzels XYZ ein echter deutscher Nachname mit geringer Häufigkeit stand. Das war der ganze Fehler. Martin hing leider auch noch mit drin, denn er betrieb die Internetseite, er hatte den Text veröffentlicht und er stand als Verantwortlicher im Impressum. Vorher hatte er zu mir gesagt, das Internet sei größer als meine Welt. Ich würde in meiner Provinzstadt vielleicht ganz gut leben, werde aber nicht entsprechend gewürdigt. Für ihn war es ein Kinderspiel eine Internetseite zusammen zu stellen, ging bei ihm ganz schnell und selbstverständlich sah die Website ziemlich gut aus, schließlich war er Profi.
    Er kannte einige Künstler, die, wie er sagte, alle unter einem notorischen Veröffentlichungsstau litten, die kontinuierlich mehr produzierten, als sie an den Mann bringen konnten, die immer noch darauf warteten, dass irgendwo aus dem Nichts heraus eine Fangemeinde entstehen könnte. Das Internet sei extrem dafür geeignet, nicht nur künstlerische Ergüsse hineinzustopfen, sondern auch die damit verbundenen Hoffnungen warmzuhalten, ganz zu schweigen von der risikoarmen Endlagerung für unerwiderte Kommunikationsbedürfnisse. Auf den Servern ist immer noch ein Plätzchen frei. Bevor es eng wird, entsteht das nächste Rechenzentrum, wo die Hardware Hallen füllt und Häuser heizt und direkt daneben baut man noch ein Kraftwerk, das den Laden mit elektrischer Energie versorgt. Irgendwo dreht sich dann eine Festplatte und macht meine Kurzgeschichte weltweit verfügbar, sagte Martin.
    Nach der großen Entmutigung, die die wirtschaftlich ambitionierten Eliten in den Siebzigerjahren zur Kenntnis nehmen mussten, als ein paar Spielverderber ihnen die Weisheit aufs Brot schmierten, dass auf einem endlichen Planeten kein unbegrenztes Wachstum möglich sei, konnten sie jetzt wieder aufatmen. Der erste Hoffnungsschimmer war die Tatsache, dass die regelmäßige Verdopplung der Komplexität integrierter Schaltkreise, die schon in den Sechzigerjahren im Moore’schen Gesetz prognostiziert worden war, nicht abknickte, sondern immer noch galt. Das war recht abstrakt und nicht unmittelbar wahrnehmbar, aber das Internet, diese Parallelwelt, die ließe sich aufpumpen bis zum Gehtnichtmehr, da hauen einem die Experten die Giga-, Tera-, Peta-Größenordnungen um die Ohren, immer mit der Betonung darauf, dass das wächst und wächst wie das Bohnenkraut im Märchen. Von Aschenputtel hat es auch noch was, denn der digitale Raum, der Cyberspace, ist der große Tanzsaal für alle, da erhofft sich so manches Aschenputtel, dass der Prinz sie entdeckt. Könnte ja schließlich sein, ich schreibe ein vierzeiliges Gedicht in das Internet hinein und der Lektor des größten Verlagshauses Europas findet es, liebt es, und will es heiraten. Aber so sei es nur im Märchen, deshalb könne man das Internet ebenso als denkbar größte Gedankenmüllkippe bezeichnen, das stehe außer Frage. Aber für ihn, Martin, sei das alles ein gutes Geschäft und damit der Müll von ein paar Perlen durchsetzt sei, betreibe er seine persönliche Kunstsammlung im virtuellen Raum. Meine Kurzgeschichten würden sowieso nur bei mir in der Schreibtischschublade herumliegen, da könne ich ihm genauso gut eine zur digitalen Veröffentlichung überlassen. Meine Begeisterung hielt sich angesichts dieses Angebotes in Grenzen, aber verpassen wollte ich auch nichts, geschweige denn Martin den Spaß verderben. So kam es dazu, dass ich meine Kurzgeschichte für seine Kunstwebsite beisteuerte. Sie war sowieso zu lang, um sie live auf der Bühne vorzulesen. Ich hatte sie in einem selbstkopierten, kleinen DIN A6-Heft veröffentlicht, wobei einige dieser Hefte tatsächlich in der Schreibtischschublade aufbewahrt wurden. Rückblickend muss ich sagen, dass diese Aufbewahrungsmethode deutliche Vorteile gegenüber einem Webserver hat, denn sie spart Strom und bietet wenig Angriffsfläche für Rechtsanwälte, die das legendäre Wachstum des Internets auf ihre Bankkonten zu übertragen versuchen. Das Geld wollten sie ausgerechnet bei mir holen. Gerade als ich in der Umkleidekabine eines Kaufhauses dabei war, die Jeans auszuziehen, meldete sich mein damals noch neues Handy mit seinem nervigen Klingelton. Ich fischte es aus der Hosentasche und stand dann in Unterhose hinter dem Vorhang. Es war Martin, dem ich schon bei der Begrüßung anmerkte, dass er extrem gereizt war. Trotzdem versuchte ich mit einer freien Hand die Jeans, die ich mir zur Anprobe zurechtgelegt hatte, übers Bein zu ziehen. Martin erklärte, dass ein Brief von einer Anwaltskanzlei bei ihm eingetroffen wäre, und diese Anwaltskanzlei hätte eine Schadenersatzforderung in Höhe von sage und schreibe zwanzigtausend Euro an ihn, wegen meiner Geschichte. Wie bitte? Ja, diese Jeanette XYZ, von der es heißt, dass sie keine Studentin sei, sondern Prostituierte, die hätte sich gemeldet, beziehungsweise ihren Anwalt auf Martin gehetzt. Die gibt es doch gar nicht, die habe ich mir ausgedacht, antwortete ich und kam mir mit dem einen Bein in der Hose ziemlich unpassend vor, auch wenn es niemand sah. Es schien mir machbar, auch das zweite Bein mit etwas Geschick in das Hosenbein zu schieben. Dabei quäkte mir Martins Stimme ins Ohr, dass es diese Jeanette sehr wohl gäbe, aber nur einmal auf der ganzen Welt, und genau deshalb verklage sie uns. Verwechslung sei, wenn es diesen Namen nur ein einziges Mal gibt, völlig ausgeschlossen, deshalb wäre mein Text eine Verunglimpfung, egal ob er fiktional oder dokumentarisch oder künstlerisch gemeint sei. Behauptet der Anwalt. Und nun? stotterte ich. Er würde die Geschichte am Abend aus dem Netz nehmen, wie verlangt, und dann müssten wir mal sehen, er kenne sich mit diesen juristischen Hintergründen nicht aus. Endlich war es mir gelungen, die Hose hochzuziehen, so dass meine Beine bedeckt waren, aber natürlich gab es keine Chance, den Hosenknopf zu schließen, solange ich das Handy mit der Hand ans Ohr hielt. Ich sagte, dass ich das alles nicht verstehen könne, aber ich würde Martin helfen, auch wenn die Anwaltskanzlei der beleidigten Jeanette den Brief nur an ihn geschickt hätte. Die Mail sei schon an mich weitergeleitet, meinte Martin, da könne ich selbst lesen, was der Anwalt für einen scharfen Ton an den Tag legen würde. So eine Scheiße, sagte ich zur Verabschiedung, und Martin erwiderte „Ober-Mega-Scheiße“, dann legte er auf. Endlich konnte ich den Knopf an der Jeans schließen, oder vielmehr konnte ich versuchen, ihn zu schließen, was aber nicht ging, da die Hose viel zu eng war. Der Spaß am Hosenkaufen war mir sowieso schon vergangen. Ich zog meine eigene wieder an, verschwand schleunigst aus dem Kaufhaus und ging nach Hause. In der Tat lieferte Google, als ich den fraglichen Namen eintippte, nur ein einziges Ergebnis, was mir nie zuvor und auch später nie wieder mit einem Suchbegriff passiert ist. Der umstrittene Satz, der Jeanette XYZ als Prosituierte bezeichnete, wurde direkt im Suchergebnis fett gedruckt angezeigt. Durchaus schockierend, dachte ich, missverständlich, aber natürlich in keiner Weise bösartig oder verunglimpfend gemeint. Den Namen hatte ich mir ausgedacht, weil ich einen Namen für die Geschichte brauchte. Da das Ausdenken von Namen schwierig ist, nahm ich den Namen einer Zufallsbekanntschaft, bei der ich ein oder zwei Jahre vorher in einigen trinkfreudigen Nächten knapp an der Vollstreckung des Beischlafs vorbeigeschlittert war. Ihr Name war nicht Jeanette, sondern Janet gewesen und im Nachnamen hatte ich einige Buchstaben vertauscht. Auch diese Zufallsbekanntschaft hatte nichts mit Prostitution zu tun. Sie war nur der Auslöser für einige Gedanken gewesen, die sich dann verselbstständigten, dann zu Selbstbefriedigungsphantasien wuchsen und plötzlich geriet ich mal wieder in einem dubiosen Chatroom, verirrte mich in der Virtualität, redete wundersame Obszönitäten, für die es in meinem normalen Leben keinen Platz gab, immer ungehemmt direkt und je perverser, desto besser, bis es mich anödete, diese übersexualisierte Chatterei, diese Fakes und Amtsanmaßungen. Um dem zu entkommen, schrieb ich an der halbfertigen Geschichte weiter, verlegte sie in eine zusammenphantasierte Halbwelt, die irgendwo zwischen Nachtleben-Realität und kriminellen Rotlicht-Milieu liegen sollte. Dort konnte ich mein langweiliges, monogames Angestelltendasein abstreifen und das erleben, was mich im echten Leben erschrecke. Die geeignete Plattform, um triebgesteuerte Phantasien durch geschickte Formulierung zur Abstraktion zu erheben, die dann nicht nur der körperlichen, sondern auch der geistigen Selbstbefriedigung dienten. Glaubte ich zumindest. Leider hatte ich jetzt den Anwalt von Jeanette am Hals, die sich da hineingezogen fühlte, obwohl sie weder etwas damit zu tun hatte, noch damit zu tun haben wollte. Vielleicht hielt sie mich sogar für einen Zuhälter, dabei konnte man an Martins Internetseite sofort sehen, dass es sich um Literatur, also um Kunst oder zumindest Pseudo-Kunst handelte. Unser kultureller Anspruch war bestimmt kein Trost für die arme Frau, die sich unerwartet verunglimpft sah. Zwanzigtausend Euro eigneten sich schon eher dazu, ihr Genugtuung zu verschaffen, genug Geld für fast ein Jahr Leben, zwei richtig große Weltreisen oder zehn Urlaube in Mallorca. Vielleicht auch hundert Besuche im Bordell, aber das war vermutlich das letzte, was Jeanette als Satisfaktion wollte.
  2. Die Geschichte mit Jeanette XYZ endete erst einmal glimpflich. Ich konsultierte einen Anwalt, der uns bestätigte, was wir schon vermutet hatten: Dass Jeanette keine zwanzigtausend Euros von uns kriegen würde. Das könnte sie nur dann einfordern, wenn wir uns weigerten, die Geschichte aus dem Netz herauszunehmen. Wir weigerten uns nicht und schickten eine nette E-Mail, dass uns alles schrecklich leidtun würde. Schon war die Angelegenheit erledigt. Dachten wir, zwei Jahre lang. Dann kam der nächste Brief. Er offenbarte, wer sich an der Misere bereicherte: Die Rechtsanwaltskanzlei. Jetzt wurden wir auf Schadenersatz verklagt, weil Jeanette über tausend Euro Rechtsanwaltskosten gezahlt hatte und dieses Geld wollte sie wiederhaben. Natürlich von uns. Letztendlich lief das dann auf einen Vergleich hinaus, den mir mein Anwalt anzunehmen empfahl, da eine Gerichtsverhandlung lange dauern würde und ein kleines Restrisiko nicht auszuschließen war. Falls der Richter das Internet nicht leiden kann und ein Exempel statuieren will, sagte mein Anwalt, könnte Jeanette Recht bekommen. Ich glaubte dem Anwalt. Letztendlich waren es nur ein paar hundert Euro, die ich zu berappen hatte, aber die verdarben mir den Spaß an den angeblich unbegrenzten Möglichkeiten des WWW gehörig. Von den prognostizierten Abertausenden von Aufrufen bemerkte ich jedoch nichts, auch nicht bei meinen Filmen. Da die Datenraten kontinuierlich stiegen, lösten sich auch die Komprimierungsprobleme in Wohlgefallen auf. Durch die weiterentwickelte Technik ruckelten selbst meine Filme kaum noch, wenn man sie im Internet ansah. An die sonstigen Widrigkeiten der Computer hatte ich mich gewöhnt. Für die allgegenwärtige Verfügbarkeit konnte man einige Umstände in Kauf nehmen. Mein Erlebnishorizont schränkte sich unterdessen immer weiter ein, die sogenannte wirkliche Welt blieb klein und überschaubar wie die Provinzstadt. Das war wohl das normale Leben, sagte ich mir. In der teilnahmslosen Stimmung, die sich aus dieser Haltung ergab, interessierte es mich nicht, als die jungen Leute, zu denen ich mich nicht mehr zählte, anfingen, mit ihren digitalen Spiegelreflexkameras zu filmen. Mit den filmenden digitalen Spiegelreflexkameras wurde das letzte Kapitel einer technologischen Entwicklung geschrieben, die das Ende des chemischen 35-mm-Films besiegelte. Wie mein Freund der Kommunikationstechnologieexperte schon festgestellt hatte, fehlte nur ein bisschen Geschwindigkeit, mit der die Daten verarbeitet und gespeichert wurden. Als die Geschwindigkeit groß genug war, schlug der analogen Technik ihr letztes Stündchen.
    Karsten, der blondierte Architekturpunk, kam mit einer dieser Spiegelreflexkameras zu mir und behauptete, dass sie angeblich in höchster Qualität filmen könne und von mir wollte er wissen, wie das geht, damit es nach Kino aussieht. Mir war nicht klar, worauf er hinauswollte, und überhaupt empfand ich diese Fragestellung als Anmaßung, denn wenn es nur eines Schalters bedürfte, der umzulegen war, um vom kleinen Videofilm zum großen Kino zu kommen, dann würden doch vermutlich ALLE diesen Schalter einfach umlegen. Allerdings waren die videofähigen Spiegelreflexkameras tatsächlich ein wichtiger Schritt, der dafür sorgte, dass die Aufnahmequalität des 35-mm-Films gegenüber der digitalen Aufnahme seinen Vorsprung einbüßte. Denn die digitalen Spiegelreflexkameras unterschieden sich in einem entscheidenden Punkt von den Videokameras: Ihre Bildsensoren waren größer, weil sie an Objektive und Technik der Kleinbildfotografie angelehnt waren. Für diese großen Bildsensoren braucht man lange Brennweiten und lange Brennweiten führen zu kleinen Tiefenschärfebereichen. So wie bei 35-mm-Kinokameras. Natürlich hatten die Kamerahersteller schon digitale Filmkameras mit großen Bildsensoren auf den Markt gebracht, die waren zunächst extrem teuer und die Datenverarbeitung schrecklich umständlich. Als die Spiegelreflexkamerahersteller dann plötzlich das gleiche zu einem Zehntel des Preises anboten, kam der Markt richtig in Bewegung. Innerhalb weniger Jahre etablierten sich verschiedene digitale Kameramodelle, die die Bildästhetik der Kinofilmaufnahme hinbekamen. Die billigsten von ihnen kosteten weniger als tausend Euro. Das war der Wahnsinn. Damit war das Filmemachen mehr als je zuvor keine Frage der Produktionsmittel mehr, sondern der Kreativität und des Gestaltungswillens. Zumindest bei Kurzfilmen und vorausgesetzt, man vergisst das Ladegerät nicht. Obwohl mir die Bedeutung dieser Technologieentwicklung zu dem Zeitpunkt nicht bewusst war, nahm ich Karstens Einladung an, mit ihm und seiner digitalen Spielreflexkamera einen Trip quer durch Deutschland zu unternehmen. Er bereitete inzwischen seine Diplomarbeit vor, den Entwurf einer Autobahnraststätte und da es auch um konzeptionelle Gedanken und den Zeitgeist gehen sollte, beschäftigte er sich ausgiebig mit dem Phänomen der Mobilität, was immer das auch heißen sollte. Während seines ganzen Studiums hatten wir häufig zusammengearbeitet. Einerseits machte er als Helfer und Darsteller bei vielen meiner Krimis mit, andererseits war er immer wieder zu mir an den Schnittplatz gekommen, um an kleinen Filmen zu arbeiten, die mit seinen architektonischen Entwurfsprojekten zu tun hatten. Meistens quälte er mich mit seinen anarchistischen, unkonkreten Videoaufnahmen, bei denen der Autofokus sein Eigenleben entwickelte und die Lichter zu tanzen begannen.
    Nun hatte er sich über eine Autovermietung ein eigentlich viel zu teures Cabrio besorgt und wollte mit meiner Hilfe ein Roadmovie drehen, einfach so, nur um das Gefühl des Unterwegsseins einzufangen. Ich erlaubte mir die Anmerkung, dass es ihm vermutlich in Wahrheit gar nicht um motorisierte Massenmobilität gehe, denn die kannten wir seit Kindesbeinen, unsere Generation sei die Autogeneration schlechthin, vielmehr suche er doch nur nach einem Anlass, mit diesem coolen Sportwagen herumzufahren und sich dabei großartig zu fühlen. Klassischer Fall von künstlerisch verkappter Angeberei! Klar, antwortete er, und um die Angeberei so richtig auszukosten, quasi als Geschmacksverstärker, habe er mich als Filmemacher dabei. Ob ich denn die Kamera schon bereit habe, wollte er wissen, denn bevor er den Zündschlüssel herumdrehte, solle die Aufnahme laufen. Vor allem die Tonaufnahme, die Karre habe einen sensationellen Sound. Ich nahm seine digitale Spiegelreflexkamera, wechselte den Standardzoom gegen die 20-mm-Festbrennweite. Mein Lieblingsobjektiv, sagte ich und er antwortete, das sei gut, schließlich gehe es um sein Lieblingsauto. Wenn wir dann auch noch seine Lieblingsmusik unter das Video schneiden, müsse es großartig werden.
    Es konnte losgehen, ich startete die Kamera, Karsten den Motor und die Reise begann. Ich filmte, wie die Stadt an uns vorbeiflitzte, bis wir auf die Autobahn einbogen. Mit röhrendem Motor beschleunigte Karsten den Wagen auf über zweihundert Sachen. Wenn ich die Kamera etwas zu weit aus dem seitlichen Fenster schob, zerrte der Wind am Objektiv und die einzelnen Lastwägen, die sich auf der rechten Spur von Irgendwo nach Nirgendwo schleppten, überholten wir so schnell, als stünden sie auf dem Parkplatz. Karsten strahlte über das ganze Gesicht und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er das Lenkrad krampfhaft umklammerte. Ich wechselte das Objektiv, um Nahaufnahmen zu machen: Karsten in seiner kindlichen Freude, die zitternde Tachonadel, die angespannten Finger am Lenkrad, die Hand auf dem Schaltknüppel und allerlei andere nutzlose Details. Im Nu war der erste und einzige Akku alle. Später merkten wir, dass Karsten das Ladegerät vergessen hatte.
    Den Rest der Reise filmte ich deshalb mit meiner Videokamera, die ich als Ersatzkamera eingepackt hatte. Mit der kannte ich mich aus, es gab ausreichend Akkus und ein besseres Mikro. Jetzt konnte ich den Fachmann heraushängen lassen, was meinem Selbstverständnis viel besser entsprach. Karsten war sowieso gutgelaunt, denn unser rasanter Trip gefiel ihm ausgezeichnet und er tat, als gehöre ihm die Welt, auch wenn ich diese Welt nur mit einer nicht mehr ganz neuen DV-Kamera filmte.
    In Weimar gelang es Karsten in seinem Übermut zwei Studentinnen im Café anzuquatschen und ins Auto zu locken. Sie quetschten sich auf die kleine Rückbank und zeigten uns die Stadt. Wie sich herausstellte studierten auch sie Architektur und fanden interessant, was ihnen Karsten alles erzählte. Als wir an einem Park entlangfuhren und die Sonne durch das Laub der Bäume hindurchglitzerte, erhoben sie sich auf der Rückbank, so dass ihre Haare im Wind flatterten und ich filmte sie im Gegenlicht. Das hatte sich einfach so ergeben, doch es war eine Szene wie in der Coca-Cola-Werbung, eine coole Fahraufnahme, total beschwingt, die Studentinnen hübsch und das Wetter super. So gut, fast zu gut, weil es der Instant-Lebensfreude, die uns aus allen Werbespots anspringt, zu nahe kam. War das noch authentisch oder schon verlogen? Aber es war sowieso die falsche Stadt. Wie und wann hatte man mir eigentlich dieses Marketingbewusstsein verpasst, das mir so viel Befriedigung über die vermeintliche Werbewirksamkeit meiner Bilder bescherte? Oder war es doch nur das gute Gefühl, dass eine schöne Aufnahme gelungen ist. Diese Stimmung von Lebensfreude und Unbeschwertheit medial zu transportieren, danach leckten sich die Public-Relations-Abteilungen der Universitäten die Finger: Wie kann man der Zielgruppe vermitteln, dass Studieren NUR Spaß macht, und der Abschluss ALLES ermöglicht, ohne es mit Worten zu sagen, sei es geschrieben oder gesprochen? Zu Recht würde es niemand glauben. Inzwischen rasten wir mit einem Affenzahn auf der Autobahn in Richtung Westen, jetzt wieder zu zweit. Ab sofort waren nur noch Motels und Autohöfe erlaubt, wobei wir am folgenden Abend um ein Haar in eine Schlägerei mit einem Fernfahrer verwickelt wurden. Karsten hatte ein vorlautes Mundwerk, das bei vielen Frauen gut ankam, der Fernfahrer hingegen, den er beim Essen ansprach, hielt ihn vermutlich für schwul. Dass ich mit der Kamera daneben saß und bereit war, jederzeit zu filmen, machte uns dabei keine Spur vertrauenswürdiger. Gefilmt werden wollte der Fernfahrer überhaupt nicht, schon gar nicht von uns, denn er habe gesehen, mit welchem Auto wir angekommen seien, mit so ner Schwuchtelkarre, sagte er. Letztendlich scheuchte er uns mit dem Hinweis davon, dass wir ihn vermutlich gar nicht ernst nehmen würden, sondern es nur darauf abgesehen hätten, uns über ihn lustig zu machen. Damit lag er gar nicht so falsch.
    Im Lauf der Reise beschäftigten wir uns immer wieder mit den grobschlächtigen Typen, denen wir an den Trucker-Gaststätten begegneten und ich fotografierte und filmte die kuriosesten LKW-Dekorationen. Schließlich gelang es uns, einen Fernfahrer zu interviewen, den Karsten mit merkwürdigen Fragen über seine Kindheitsträume quälte und dann darauf spekulierte, ihn in Schlüpfrigkeiten betreffs der Länge seines Lastwagens hineinzumanövrieren. Trotzdem machte der Fahrer brauchbare Aussagen. Die Stimmung, die er auf der Autobahn empfinde, sei, wie er sagte, in erster Linie eine Mischung aus Langeweile und der Einsicht, dass man die Arbeit eben machen müsse. Und der immer wiederkehrende Gedanke: Hier war ich schon mal, was hat sich verändert? Manchmal, wenn man in einer Woche mehrmals die gleiche Route fahre, könne es geradezu traumatisch werden und man verfalle in ein zeitloses Nirgendwo, man fahre und fahre, aber es fühle sich an, als gebe es kein Ziel mehr, da sich jedes Ziel in den Start für die nächste Fahrt verwandle. Aber, und damit beendete er das Interview, man könne auch einfach nur fahren, Dudelradio hören und gar nichts denken. Er stieg in seinen Sattelzug und machte sich wieder auf den Weg. Als wir ihn ein paar Minuten später überholten, zogen wir langsam an ihm vorbei, um seinen LKW in einer langen Einstellung durchs Bild gleiten zu lassen. Danach durchquerten wir das Autobahnwirrwarr des Ruhrgebiets und steuerten Hamburg an. Eine der spektakulärsten Aufnahmen gelang uns auf der riesigen Brücke im Hafen, was zweifellos an der Brücke lag. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir bei Karstens Eltern, die in einer schier endlosen Einfamilienhaussiedlung ihren Bungalow bewohnten. Der Vater war irgendeine Art von Abteilungsleiter, die Mutter Design-Professorin und es gab auch noch eine kleine Schwester. Finanziell gut abgefederte Wohlstands-Bürgerlichkeit, die wir auch am nächsten Tag abbekamen, weil ich Karsten zu einem Kaffee bei Sabine mitnahm.

44.
Sabines Wohnung lag in einem besonders gut gentrifizierten Gebiet am Prenzlauer Berg, ganz ähnlich wie meine in der Provinzstadt: An einem kleinen Platz mit Park inmitten der Gründerzeitbebauung. Aber in Berlin war alles schöner, größer und teurer. Schon beim Einparken nahm ich zur Kenntnis, dass wir uns mit dem Cabrio in der richtigen Gesellschaft befanden, denn das Mittelklasse-Einerlei mischte sich mit verschiedenen Sportwägen, exotischen Marken und liebevoll erhaltenen Siebzigerjahreautos. Wir selbst waren nur auf Urlaub in der Welt der Luxusautos, fühlten uns trotzdem am richtigen Ort zur richtigen Zeit.
Wir hätten Glück gehabt, sie anzutreffen, sagte Sabine, da sie noch am Abend für eine Woche nach London fliege, eine geschäftliche Angelegenheit, Fortbildung und Konzeptgruppe, Meeting und Brainstorming oder so ähnlich. Sabine wurde bei ihren Erklärungen unterbrochen, weil ihre Tochter nach Hause kam. Ich war ziemlich überrascht, denn ich hatte mir gar keine Gedanken über ihr Alter gemacht und immer nur ein kleines Mädchen mit Spielsachen oder Kritzelbildern in Erinnerung. Aber jetzt war sie plötzlich eine junge Frau, vermutlich sechzehn und sah sehr gut aus. Die genetische Mischung aus ihrem afrikanischen Vater und der blonden Sabine war durchaus gelungen. Sie trug eine folkloristische helle Bluse und eine kaputte Jeans, was nichts Besonderes war, aber bei ihr sah es super aus. Außerdem bewegte sie sich so geschmeidig und gleichzeitig lässig, wie es nur Tina in ihrer besten Zeit hingekriegt hatte. Ich glaubte zu bemerkten, dass auch Karsten staunte und sich plötzlich nicht mehr für den architektonisch bemerkenswerten Grundriss der Wohnung interessierte, sondern für die Frage, welche der vielen Arten von Kaffee, die Sabines teure Maschine ausspucken konnte, die richtige sei, damit sich die hübsche Tochter zu uns an den Tisch setzte.
Sabine lenkte das Gespräch in die beste denkbare Richtung und meinte, es sei für ihre Tochter sowieso höchste Zeit, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was sie nach dem Abitur machen solle, das sei nur noch ein Jahr und die konfusen Großuniversitäten in Berlin könne Sabine aus eigener Erfahrung nur dann empfehlen, wenn man unbedingt die Stadt kennenlernen wolle, aber das sei in diesem Falle nicht nötig. Also könne die Tochter die Gelegenheit nutzen, sich bei uns über die Provinz und deren angeblich so gute Universität zu informieren. Die Tochter schlürfte ihren Milchkaffee. Karsten beteuerte, dass sein Architekturstudium geil gewesen sei, aber jetzt werde er das Diplom beginnen, gehöre er doch zu einem der letzten Jahrgänge, die noch Diplom machten und nicht in die Bachelor- und Masterstruktur hineingezwängt würden.
Bei der Gelegenheit meinte ich erklären zu müssen, dass wir wegen exakt dieser Diplomarbeit unterwegs seien, weil Karsten als besonders ehrgeiziger Student sich mit mir, dem Medienfachmann, verbündet habe, um sich über die Masse der nicht medial unterstützen Diplomarbeiter zu erheben. Denn es sei das herausragende Merkmal von Medien, nicht nur ästhetische Wirkung zu besitzen, sondern auch kommunikativen Mehrwert zu liefern. Das Medium gebe einer Aussage Gewicht, Brillanz und Bedeutung. Medial, sagte ich mit betonter Wichtigkeit, erheben wir uns über die Schlichtheit nackter Fakten. Was allerdings dann fatal werde, wenn sich irgendwann ALLE über ALLE erheben wollten, dann gebe es eine schreckliche Schaumschlägerapokalypse. Und womöglich fallen die Fakten dabei vom Tisch.
Sabine meinte, ich solle ihre Tochter mit meiner übertriebenen Selbstreflexion nicht verwirren, einfache Aussagen, wie das Leben als Medienfachmann sei, würden vollkommen genügen. Aber das ist doch interessant, widersprach die Tochter und so fühlte ich mich ermutigt, noch einen draufzusetzen: Die Tricksereien, das Geschummel sowie die Anmaßung, sich ihrer beliebig zu bedienen, um der eigenen Subjektivität eine imposante Bühne zu bauen seien der eigentliche, faszinierende Kern der Medienarbeit. Millionen von tagtäglich hin- und herfahrender Autos sind als Tatsachen eigentlich sehr schlicht und selbstverständlich bekannt, aber unser Film, der ja von nichts anderem erzähle, werde die Professoren bei der Diplompräsentation hoffentlich dennoch beeindrucken. Für trockene Technokraten sei natürlich eine schnöde Tabelle des statistischen Bundesamtes mit sorgfältigen Listen der Kilometer pro Kopf, pro Auto oder pro Tonne Warenverkehr in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt eine viel bessere Entscheidungshilfe. Was kostet jeder Autobahnkilometer, wie sinkt die Lebenserwartung durch die Unfalltoten und wie steigt sie durch die tadellos funktionierende Infrastruktur. Aber wir mit unserem Lifestyle-Getue und Mädchen mit wehenden Haaren im coolen Cabrio böten eine idealisierte und keineswegs repräsentative Darstellung des Phänomens Mobilität, eine romantisierende Abstraktion. Darum haben wir den Fernfahrer mit dem “Ich-hab-den-längsten”-Aufkleber auf seinem 25-Tonner interviewt, warf Karsten ein, der relativiere das verzerrte Bild durchaus wieder. Anschließend steuerte er noch einige Motel-Anekdoten bei, mit denen er sowohl Sabine als auch ihre Tochter mehr erheiterte, als ich mit meiner improvisierten Medientheorie.
Sabine beendete unsere Ausführungen mit dem Hinweis, dass es höchste Zeit sei, zum Flughafen zu fahren, damit sie nach London zu ihrem Thinktank käme. Ihre Tochter solle uns nicht zu ernst nehmen, aber trotzdem mitfahren und sich die Uni ansehen, sie habe doch sowieso gerade Ferien. Da stimmte die Tochter überraschend zu. Während sie ihre Klamotten in einen abgeschabten Rucksack stopfte, plauderte sie aus, dass Sabine gar nicht nach London MÜSSE, sondern nur hinwolle, um dort wieder mal einen besonders bedeutenden Liebhaber zu besuchen, angeblich sogar englischer Adel. Dann schob sie sich auf die Rückbank und wenn es Karstens Ziel gewesen sein sollte, mit dem sportlichen Cabrio auf Beutezug zu gehen, dann hatte das Auto jetzt seinen Zweck erfüllt.
Wir kamen am frühen Abend in unserer Provinzstadt an. Karsten umkreiste erst einmal den Campus und ich filmte die Ankunft. Dann machte ich einige sehr gelungene Fotos von Sabines Tochter. Ich wollte die Situation, wie ich sie schon in Weimar aufgenommen hatte noch mal reproduzieren, diesmal als Foto und auf dem richtigen Campus, auf meinem Campus. Ich hatte Glück, alles passte NOCH besser. Der niedrige Sonnenstand sorgte für sanftes Licht, dazu zarte Wölkchen und SIE mit einer coolen Sonnenbrille und ihrer hellbraunen Haut, im Hintergrund die schicke Architektur unserer neuen Institutsgebäude, das war prima. Ich sagte ihr, sie sei schon so gut wie immatrikuliert, denn die Fotos würden bestimmt in irgendeiner Broschüre der Uni abgedruckt werden, sofern sie nichts dagegen habe. Sie meinte nur, ihr sei das egal, das könne ich ruhig machen. Wir luden die Technik aus, dann ging sie mit Karsten zum gemeinsamen Abendessen in das Studentenwohngemeinschaftshaus und übernachtete schließlich bei Tina und mir im Arbeitszimmer. Wir zeigten ihr die Stadt und die Uni, zwei Tage später verschwand sie mit dem Zug nach Berlin.
Karsten schnitt den Film weitgehend allein und ich fand, dass das fertige Werk etwas zu sehr nach Musikvideo aussah. Bei seiner Diplompräsentation kam es zwischen den anwesenden Professoren zu einer kontroversen Diskussion, weil einige den Film zu oberflächlich und plakativ fanden und bemängelten, Karsten hätte sich mehr auf seine Entwurfsplanung konzentrieren sollen. Nur mit schönen Bildern wollte man sich nicht abspeisen lassen. Das fand ich gut, soviel Medienskepsis muss bei akademischen Niveau schon drin sein. Trotzdem verpasste man Karsten eine Eins, das fand ich ebenfalls gut. Danach war seine Zeit in der Provinzstadt abgelaufen. Die erste Generation von Studenten, die ich kennengelernt hatte und die mir ans Herz gewachsen war, trat von der Bildfläche ab.
Sabines Tochter kam auch nicht, sie ging zum Studieren erst nach Stuttgart und dann in die Schweiz. Das Foto mit ihr landete ein Jahr nach ihrem Besuch tatsächlich auf der Rückseite einer Infobroschüre. Nochmals einige Jahre später, als es um die Beschleunigung des Studiums ging, kramte wieder jemand das Foto von Sabines hübscher Tochter heraus, das sei doch ein tolles Motiv, und dann auch noch dieser Multikultilook, ganz wunderbar! Wir versuchten uns erfolglos an einem Remake des Fotos mit anderen Studentinnen und Studenten und schossen eine ganze Serie, auch unter Zuhilfenahme anderer Fortbewegungsmittel wie Fahrrad, Straßenbahn und Inlineskatern, aber das Original im Cabrio blieb unerreicht. Wieder entstanden Flyer, bei denen das Bild auf der Rückseite abgedruckt war. Die Mitarbeiterin in der Marketingabteilung fragte mich, ob ich von der jungen frau eine schriftliche Zustimmung zum Druck des Bildes habe. Ich rief bei Sabine an, konnte sie aber nicht erreichen. Eigentlich hatte mir ihre Tochter gesagt, dass ihr das EGAL sei, deshalb machte ich mir keine weiteren Gedanken, es gehe schon alles in Ordnung. So nahmen die Dinge ihren Lauf.
Ich wollte noch ein paar Tage Urlaub machen und fuhr mit Tina nach Tschechien, wo wir wanderten und billiges Bier tranken. Nebenbei tippte ich meine Ideen für eine neue Folge meiner Krimiserie in den Laptop. Tina diskutierte mit mir die Handlung und wachte streng darüber, dass die Geschichte stets eine unerwartete Wendung nahm und keine Klischees des gewöhnlichen Fernsehkrimis aufwies. Deswegen steckten wir inzwischen ziemlich fest in den Anti-Klischees. Tina meinte, Antihelden seien auch etabliert, warum nicht Anti-Klischees? Aber die seien ja im B-Movie-Hype der 80er Jahre schon abgefrühstückt worden. Um mich davon zu distanzieren, war es eine Gratwanderung, sich zwischen Klischee und Anti-Klischee geschickt zu positionieren. Manchmal stellt sich auch erst Jahre später heraus, dass man einem Klischee aufgesessen war.
Als wir am letzten Urlaubstag im Zug saßen, die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland hatten wir gerade passiert, checkte ich das Handy, das ich während der ganzen Woche ausgeschaltet gelassen hatte. Eine Mitarbeiterin der Marketingabteilung bat um meinen Rückruf, wegen der jungen Frau auf dem Foto. Dann eine weitere Meldung, die mit der Feststellung endete, dass vermutlich alles geregelt sei. In der Tat hatte man alles bereits geregelt, das konnte ich sehen, als wir am Bahnhof unserer Provinzstadt ausstiegen. Da prangte SIE, Sabines Tochter, überlebensgroß auf einer Plakatwand. Neben ihr der dämliche Werbeslogan, der der Menschheit vermitteln sollte, dass man an unserer Universität den langen Weg von der ersten Kontaktaufnahme bis zum akademischen Abwinken schneller als anderswo bewältigen könne. Jetzt fiel mir auch wieder ein, wie die Mitarbeiterin der Marketingabteilung etwas von Sonderkonditionen bei den Plakatwerbevermarktern gemurmelt hatte, da seien angeblich ein paar Quasi-Umsonst-Plakat für die Uni drin. Kein Wunder, die Plakatwerbewände hatten inzwischen drastisch an Bedeutung verloren und waren schon lang nicht mehr ausgebucht, weil der große Kuchen der Werbebudgets inzwischen auch mit den vielen Internetangeboten geteilt werden musste. Dass es mit der Realisierung der Plakatwerbung so schnell gegangen war, in nur einer Woche, während der ich in Tschechien durch den Wald spazierte, das verblüfte mich durchaus.
Ich trat näher an das Bild heran und staunte über die Größe und die Qualität. Es war mein erstes Foto auf einer Plakatwand. Sowohl von nahen als auch von weitem war es wirklich eine tolle Fotografie von einer tollen Frau in einer tollen Situation mit sehr vagen Zusammenhang zur Werbebotschaft. Das wichtigste Uni-Gebäude war im Hintergrund zu sehen, Sabines Tochter strahlte Lebensfreude im richtigen Alter für die anvisierte Zielgruppe aus, die Fahrt im Cabrio vermittelte Leichtigkeit und ungeheure Dynamik und alles zusammen war eine unverschämte Beschönigung der Ware „Studium“ die hier angepriesen wurde. Ob das Bild von mir sei, fragte Tina ungläubig, sie fand es einfach hübsch, sogar sehr hübsch und sonst nichts. Wie sich später herausstellte, war es nur diese eine Plakatwand am Bahnhof mit Sabines Tochter und zwei weitere mit anderen Fotomotiven in der Innenstadt, die während meiner Abwesenheit ganz überstürzt, aber kostenlos von der Universität für sechs unbedeutende Wochen bestückt wurden.
Mit ihrem Handy schoss Tina ein Beweisfoto, wie ich mit dem großen Reiserucksack vor dem Plakat stehe, das Gesicht zu einer merkwürdigen Grimasse verzogen. Ich dachte, ich sollte mich schuldig fühlen, war aber stolz. Tina postete das Foto im Internet, woraufhin Sabine einen Tag später mit dem Zug angefahren kam.
Sie wies mich darauf hin, dass sie bei ihrem letzten Besuch angekündigt habe, wiederzukommen, um nachzuschauen, ob ich endlich seriös arbeiten würde. Zwar seien die zwölf Jahre noch nicht voll, aber jetzt müsse sie hier nach dem Rechten sehen und kontrollieren, wie weit die mediale Ausbeutung ihrer Tochter getrieben werde. Eigentlich habe sie nichts dagegen, aber eigentlich sei es angesichts der Größe des Bildes etwas dreist ohne separate Einwilligung zu plakatieren und eigentlich sei es ein gutes Bild und ihre Tochter gut getroffen, aber eigentlich sei sie ziemlich ausgenutzt worden, obwohl ich eigentlich immer so getan habe, als sei ich selbst ein Opfer der Umstände, was sie eigentlich nie geglaubt habe, und sie habe den Eindruck gehabt, als wolle ich mit solchen Werbemethoden eigentlich gar nichts zu tun haben, oder sei das nur eine ideologische Tarnung gewesen? Eigentlich könne man mich für einen Opportunisten halten, der sein ganzes Leben lang nicht anerkennen will, dass sein Leben im Leben spielt, nicht im selbstgeschriebenen Drehbuch. Sie wisse gar nicht, ob sie mich nötigen solle, dazu etwas zu sagen, denn dann würde ich vermutlich wie immer in meine selbstgeschaffenen Fiktionen verfallen, ihr einen Film erzählen und ihre Tochter habe beim Anblick des Plakates ganz unumwunden geäußert: Jetzt kann ich mich in DER Stadt nicht mehr blicken lassen, aber zum Glück will ich da eh nicht hin!
Nachdem Sabine mir all das mit einem Lächeln an den Kopf geworfen hatte, meinte ich, es lohne sich nicht, meine Schuld zu leugnen, die gar keine echte Schuld sei, sondern nur eine Diskrepanz zwischen meinen Vorsätzen und meiner Daseinswirklichkeit, aber ich könnte es mit der sogenannten Wahrheit versuchen, wobei die Wahrheit inmitten all meiner medialen Verstrickungen und der medialen Verstrickungen der restlichen Welt gar nicht so leicht zu finden sei. Wenn ich trotzdem versuchen würde, sie zu erzählen, müsste ich damit beginnen, wie ich damals als Student an der weißen Plakatwerbewand stand, mit dem Faserschreiber in der Hand. Und dann unverrichteter Dinge nach Hause verschwand.

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