Teil 2 ___ Teil 3 ___ Teil 4 ____ Teil 5
1
Eine leere Werbefläche, wie man sie von überall kennt, aus Dörfern, Städten, von Landstraßen oder sogar aus leblosen Industriegebieten, die üblichen 10 qm, von denen uns normalerweise freundliche Gesichter anlachen, die sich mit einem Konsumprodukt verbündet haben, um es den Passanten, Fahrrad-, Bus- und Autofahrern zu empfehlen. Aber in diesem Fall war die Werbefläche inhaltslos, frisch mit weißem Papier beklebt und ich stand davor, kurz nach Mitternacht. Das ist der Anfang der Geschichte, denn ich wollte die Fläche bemalen, aber ich traute mich nicht, obwohl weit und breit niemand zu sehen war und die wenigen Autos kündigten sich durch ihre Scheinwerfer schon von weitem an. Leider verplemperte ich viel Zeit damit, es NICHT zu tun. Das hätte viel schneller gehen können, aber nein, zu lange stand ich vor der weißen Wand, trug die Faserschreiber in der Tasche, befühlte sie, dachte an die Worte, die ich hätte schreiben können, oder die Bilder, die ich hätte malen können, an die Reaktionen der Freunde oder die Reaktionen der Feinde, schwankte hin und her, verlor den Faden und ging schließlich bis an die Straßenecke, kehrte dann aber nochmal zurück, holte endlich einen Stift aus meiner Umhängetasche, von dem ich die Abdeckkappe herunterzog, dachte schon an den ersten Strich, aber die Kappe fiel mir auf den Boden, ich musste sie suchen. Während ich am Boden herumkroch, reifte der Entschluss, mich aus meiner mir selbst gestellten Aufgabe zurückzuziehen. Was bedeutete, dass ich nach Hause ging und bei meinem einsamen Spaziergang durch die ziemlich leblose Universitätsstadt umso lebhafter darüber phantasierte, wie bedeutsam es gewesen wäre, die Werbefläche in meinem Sinn zu gestalten, den Werbeflächenzweck zu invertieren, den Konsumgedanken zu negieren, etwas Kritisches zu formulieren. Etwas Aufrüttelndes. Eine Anti-These zur Heile-Welt-Darstellung der Werbebotschaften. Natürlich total originell. Aber letztendlich fiel mir nichts ein, was meinem eigenen Anspruch genügte, alle Ideen blieben stecken, sobald ich sie zu Ende dachte. Wenn ich etwas hingemalt oder hingeschrieben hätte, sollte es zumindest tiefsinnig und künstlerisch wertvoll sein, Selbstbestätigung wünschte ich mir, Selbstbefriedung wurde es, denn die endlose Kette der Gedanken, die zu nichts führte als zu der Einsicht, dass ich zu zaghaft, zu unentschlossen, zu unspontan sei und versagt hatte, ließ sich nur durch erotische Hirngespinste abwürgen, welche wiederum einen Samenerguss verursachten. Was mich emotional nicht weiter berührte, damals onanierte ich häufig, später auch.
Am Abend des Tages, der auf die Nacht folgte, in der ich meine Zeit an der leeren Werbefläche verplempert hatte, saß unerwartet eine unbekannte Blondine in der WG-Küche. Sowas kam bei uns nicht allzu oft vor. Da meine Vorlesung erst um zehn Uhr begonnen hatte, war ich halbwegs ausgeschlafen. Am späten Nachmittag war ich mit Holger, dem Lehramtsstudenten in der Küche gesessen, wir hatten Brote gegessen und uns über Alltäglichkeiten unterhalten. Danach gingen wir in unsere jeweiligen Zimmer um für das jeweilige Studium zu lernen. In den anderen Zimmern saß eventuell auch noch jemand. Da alle ihre Zimmertüren geschlossen hielten, war meist nicht ohne weiteres erkennbar, wer zu Hause war, und wer nicht. Ich beschäftigte mich damals ausgiebig mit Differenzialrechnung, weil es der Lehrplan so vorsah und es waren innerhalb der nächsten Tage Übungsaufgaben abzugeben. Als es mir gerade so schien, als hätte ich das entscheidende Problem der Aufgabe gelöst und ich könnte nun mit aufwändiger, aber vorhersehbarer Methodik ins mathematische Ziel schlittern, wollte ich mir in der Küche ein Glas mit Wein füllen. Den Übergang von der harten Gedankenarbeit zur Abendentspannung einläuten. Das war der Moment, als ich dort die Blondine mit dem Rücken zur Tür sitzen sah. Ausnahmsweise reagierte ich angemessen, sagte beiläufig hallo, nahm mir den Wein aus meinem Regal, blickte sie auch von vorne an. Vom Regal her kommend hatte ich die bessere Position. Von vorne gefiel sie mir nicht so gut, denn ihr Gesicht war etwas kantig und grob, die Lippen schmal. Von hinten hatte ich mir mehr erwartet. Die Bluse mit den großen Punkten fand ich gut, die halblangen glatten Haare auch, aber der Gesamteindruck lief, wie ich es in Gedanken formulierte, auf gehobene, sehr gehobene Mittelklasse hinaus. Sie nahm das angebotene Glas Wein von mir, ich setzte mich an den Tisch und dann plauderten wir ungezwungen. Sie war mit meiner Mitbewohnerin, der Geografiestudentin gekommen und die Geografin wollte noch duschen und sich aufhübschen, bevor die beiden dann gemeinsam zu einem Kunstfilmabend gehen würden, und deshalb saß die blonde Sabine mit dem kantigen Gesicht allein in der WG-Küche. Kurzfilmabend, das war mein Spezialgebiet, denn ich hatte mir ja inzwischen einen Namen als Super-8-Aktivist gemacht, aber nein, sie sagte ja Kunstfilm, war das überhaupt ein definierter Begriff? Es seien wohl Kurzfilme mit künstlerischem Inhalt, die im Spätprogramm des Videofestivals laufen sollten. Video? Ja, das gab es auch schon. Man könnte vermuten, dass Super-8-Filmemacher Videotechnik mögen, was aber in meinem Bekanntenkreis nicht der Fall war, es handelte sich eher um eine unbegründet verbissene Feindschaft. Super-8 war die Sparversion des ehrwürdigen Kinofilmes, Video das Handwerkszeug des Fernsehens, speziell des damals noch neuen Privatfernsehens, das alle Intellektuellen ungesehen verachteten. An ideologisch motivierter Polemik mangelte es nicht. Vielleicht ahnten die Super-8-Aktivisten damals schon, dass die Zeit gegen sie arbeitete und sträubten sich trotzdem gegen den Fortschritt, kompensierten ihren Wichtigkeitsmangel mit markigen Sprüchen wie „Alle Macht für Super Acht!“. Mit Sabine unterhielt ich mich angeregt über die Kontroverse, oder vielmehr textete ich sie mit meinem Spezialwissen zu und sie zeigte Interesse an meinen provokanten Thesen, mit denen ich mich gegenüber der videologischen Ideologie abgrenzte. Videologische Ideologie gab es vermutlich weder als Begriff, noch als Ideologie, aber ich tat so, als handele es sich um einen etablierten Fachausdruck. Am liebsten hätte ich ihr sogar einen Vorwurf daraus gemacht, dass sie zum Videofestival ging. Das verkniff ich mir, sondern beschränkte mich darauf, die künstlerische Überlegenheit filmischer Produktionsweisen auf filmischem Material zu erläutern. Sie nippte am Wein und hörte aufmerksam zu, vermutlich hatte sie darüber überhaupt noch nie nachgedacht, warum auch, sie war ja Geografin, so wie meine Mitbewohnerin, sie kannten sich aus dem Studium. Dann kam die Mitbewohnerin frisch geduscht und ausgehfertig in die Küche. Zu ihr hatte ich kein so gutes Verhältnis wie zu den anderen, sie nahm weniger intensiv am WG-Leben teil. Aber ihre Freundin Sabine brachte das Gespräch gleich in die richtige Richtung, denn sie beschwerte sich bei meiner Mitbewohnerin, dass sie ihr gar nicht gesagt hätte, dass ich Filmemacher sei. Meine Mitbewohnerin fragte daraufhin, ob ich nicht zum Videofestival mitkommen wolle. Nun saß ich in der Falle, denn da ich vorher gegenüber Sabine so ausführlich über die ästhetische Minderwertigkeit von Video schwadroniert hatte, musste ich jetzt, um Würde zu bewahren, darauf verzichten, mir die künstlerischen Kurzfilme beziehungsweise die kurzen Kunstfilme anzusehen. Meine geografisch bewanderte Mitbewohnerin versäumte nicht, mich zum Abschied mit der Aussage zu quälen, dass sie immer gedacht hätte, es sei egal, ob man mit Film oder mit Video dreht. Aber Sabine machte das wieder wett, sie forderte mich auf, Bescheid zu geben, wenn meine Filme mal irgendwo zu sehen seien. Das war gut. So musste ich gar nicht aufdringlich sein, um sie zu einem Wiedersehen anzuregen. Dann verschwanden die beiden und ich kümmerte mich, wie ursprüngliche geplant, um meine Mathematik-Übungsaufgaben.
2
Es vergingen ein paar Wochen. Meine Geografie studierende Mitbewohnerin traf ich nur selten in der Küche oder auf dem langen Flur unserer WG, und als wir uns über den Weg liefen, entwickelte sich kein Gespräch. Sie interessierte sich weder für meine künstlerischen noch für meine geschlechtlichen Ambitionen. Deshalb verzichtete ich darauf, mit ihr einen Austausch an Informationen bezüglich ihrer Freundin Sabine anzuregen. Unterdessen arbeitete ich an der Fertigstellung meines neuesten Super-8-Filmes, was bedeutete, dass ich verschiedene Geräusche zusammensammelte und mit Hilfe des Projektors auf den Film überspielte. Oder die Schauspieler die Dialoge synchron einsprechen ließ, Satz für Satz. Der Film hieß „Die Rückbesinnung“, ein zehnminütiges Werk. Es sollte, wie man anhand des Titels vermuten konnte, um Identitätssuche, Identitätsverwirrung, Identitätsfindung gehen. Man musste viel guten Willen aufbringen, um das nachzuvollziehen, denn eigentlich trieben sich nur drei vermeintlich coole Typen auf einem Kinderspielplatz herum und quatschten dummes Zeug, welche Kneipe warum und für welchen Daseinszustand angesagt sei, welche Form von Alkoholexzess das Sozialprestige steigert und welcher nicht. Die drei Schauspieler, die ja gar keine professionellen Schauspieler waren, sondern aus meinem Bekanntenkreis stammten, brachten das Absurde auf dem Spielplatz ganz gut rüber und es waren ein paar echte Kinder dazwischen geschnitten, auf der Wippe und beim Ballspielen, so dass die Dialoge immer wieder heitere Unterbrechungen bekamen und der Film, wie sich später herausstellte, den Zuschauern ganz gut gefiel. Meine Geografie studierende Mitbewohnerin sagte, dass sie bei der Premiere keine Zeit habe und machte noch eine kritische Bemerkung über den Titel, den sie blöde fände, ich solle doch nicht immer so rückwärtsgewandt sein. Aber trotzdem überbrachte sie auf meine Aufforderung hin eine Einladung an Sabine. Genaugenommen ein Flugblatt, so ein vervielfältigter DIN-A5-Zettel, mit Schreibmaschinenbuchstaben und dem ziemlich kontrastschwachen Bild einer leeren Kinderschaukel. Die verschiedenen Schriftgrößen erzeugte ich durch Vergrößerung im Copyshop, dann mit den vergrößerten Worten wieder nach Hause, wo die einzelnen Text- und Bildfragmente zusammenklebt wurden und diese Vorlage wurde schließlich wiederum im Copyshop vervielfältigt.
Mein guter Freund Martin bewohnte allein eine Vierzimmerwohnung, die immer wieder für Partys und Treffen genutzt wurde. Dort sollte die Premiere des Filmes stattfinden. Wir versuchten, so zu tun, als sei das nichts Besonderes, aber natürlich war es das. So ein Film, den man mit Super-8 dreht und dann vertont und es spielen auch noch drei coole Szene-Typen mit, das war nicht alltäglich. Damals gab es noch kein YouTube, wo inzwischen jeden Tag unglaublich viele Filmminuten hochgeladen werden, vermutlich mehr, als damals in der ganzen Bundesrepublik im ganzen Jahr auf Schmalfilm entstand. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass es damals aufgrund des geringeren technischen Entwicklungsstandes besser gewesen sei, aber es war exklusiver. Außerdem war es gut, weil Sabine kam und weil mein Freund Martin diese Vierzimmerwohnung unter dem Dach mit großem Balkon hatte. Es war ein altes, kleines Haus in einer Gasse. In den unteren Stockwerken waren Lagerräume untergebracht waren, so dass weder unsere alltäglichen Unternehmungen noch unsere nächtlichen Ausschweifungen jemanden störten. Martin half mir gerne bei meinen Filmen und er kannte sich mit Fotoapparaten aus und hatte zuhause eine Dunkelkammer. Manchmal saßen wir bei ihm herum, es wurden Fotos gemacht und während die Gäste auf dem Balkon kifften, entwickelte er den Film und macht Abzüge, die er dann zum trocken an die Wäscheleine hing. Damals war er gerade Zivildienstleistender, hatte relativ viel Zeit und ihm war es durchaus recht, wenn ich einen Anlass zum Trinken oder Betrinken lieferte. Außerdem war er einer der drei Schauspieler. Ich saß schon am Nachmittag bei ihm im Wohnzimmer, wir unterhielten uns darüber, was wir als nächstes Filmprojekt in Angriff nehmen könnten, schweiften aber ab, denn er gestand, dass er beim Videofestival gewesen war, vermutlich sogar in der gleichen Vorstellung wie Sabine und meine Mitbewohnerin. Es wunderte mich ein bisschen, denn in den Tagen, als das Videofestival stattfand, hatten wir uns mehrmals getroffen und ich glaubte mich zu erinnern, dass es unser Konsens war, keine Vorstellung zu besuchen. Als ich aber genauer darüber nachdachte, schien es mir plötzlich, als sei es immer nur ich gewesen, der beteuerte, das wir nicht hinwollten, als hätte Martin gar nicht zugestimmt. Er hatte einfach geschwiegen und gemacht, was er wollte. Das ist doch egal, sagte ich mir, aber das war es mir nicht. Martin erzählte von einem Spiegel-Effekt, den er in einem Video gesehen hätte und der ihn beeindruckte. Technische Spielerei, entgegnete ich in einem Tonfall, der ihm das Wort abschnitt, er wechselte das Thema. Eigentlich hätte ich gern noch mehr erfahren, aber neugierig wollte ich nicht erscheinen. Jetzt hatte ich mich schon wieder selbst ausgegrenzt und gerade da klingelte es, obwohl die Party erst in zwei Stunden beginnen sollte. Martin ging zur Haustür hinunter und kam tatsächlich mit Sabine zurück. Ihre Haare waren verändert, aber ich konnte nicht sagen, wie. Sie gefiel mir besser als beim letzten Treffen, sie gefiel mir richtig gut. Außerdem freute ich mich, dass sie schon da war. Das Warten auf den ersten Gast kann manchmal ganz schön quälend sein. Oder wenn der erste Gast ein Schwätzer ist. Aber Sabine kam mir gerade recht. Sie berührte mich bei der Begrüßung dezent an der Schulter und setzte sich neben mir auf den Boden. Ob ich aufgeregt sei, fragte sie, und da tat ich ganz cool, nein, ich bin nicht nervös, so ein Film läuft einfach, da kann ja nichts schiefgehen. Na, aber wenn es den Leuten nicht gefällt? Es gefällt ihnen aber, da bin ich mir sicher! Bei einer Premiere wird nicht der Film, sondern es werden die Zuschauer selektiert. Die gehören ja alle irgendwie dazu oder haben das Bedürfnis, dazuzugehören, zur Premierenkultur-Subkultur-Filmemacher-Klüngel-Clique – und wenn sie das nicht wollen würden, dann wären sie gar nicht da. Und damit sie zuhause nicht erzählen müssen, dass die Party langweilig und der Film schwachsinnig war, da finden sie es eben gut, zumindest teilweise gut. Ein paar Lästermäuler gibt es dann natürlich schon, die ihre Rolle darin finden, dass sie alles besser wissen und besser gemacht hätten, zu denen gehörte ich ja selbst. Wenn ich bei Premieren anderer Filmemacher zeigen wollte, dass ich einer von denen bin, die eine Ahnung haben, dann erging ich mich in tiefsinnigen Analysen und kritischen Kommentaren.
So geschwollen redete ich auf sie ein. Mir schien, als beeindruckte ich sie. Martin drehte unterdessen einen Joint, so dass wir, nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte, erst einmal gar nicht viel sagten, sondern uns der bedächtigen Einnahme von THC hingaben. Die Kifferei interessierte mich damals kaum, aber bei Martin und vielen meiner Freunde gehörte es zur Freizeitgestaltung dazu, und es passte auch so schön in seine Wohnung, wo ein paar Matratzen auf dem Boden lagen, wo immer mal jemand spontan vorbeikam, wo wir dumme Ideen hatten, und oft gleich umsetzten. Rauchen, Trinken, Kiffen gehörte zu der spartanischen Gemütlichkeit, die die groben, dunklen Holzbohlen des Fußbodens ausstrahlten. Die tiefstehende Sonne schien durch ein Band niedriger Fenster ins Wohnzimmer und warf die Schatten der Fensterkreuze auf uns. Jetzt saß Sabine plötzlich so im Gegenlicht, das sich ihr BH ganz deutlich unter der Bluse abzeichnete. Sie war doch ziemlich sexy. Aber sie begann sich mit Martin über die Wohnung zu unterhalten, was sie kosten würde, und über WG-Probleme, Zimmerprobleme, Mitbewohnerprobleme. Da hätte sie eigentlich viel besser mit mir drüber reden können, ich wohnte in einer Sechs-Personen-WG, sogar mit ihrer Freundin zusammen, aber vermutlich merkte sie, dass ich das Thema nicht leiden konnte. Ich war der Filmemacher, hatte meine schlaue Rede über Filmpremieren gehalten, Martin war der Vierzimmerwohnungs-Bewohner, er durfte über Wohnungen reden. Jedem sein Gesprächsthema zum Wohlfühlen, außerdem dauerte es nicht lang, da klingelte es, Martin ging wieder runter zur Haustür und Sabine stand auf, um nochmal Teewasser aufzusetzen. Als sie sich erhob, erschienen mir ihre Beine viel zu lang, oder lag es daran, dass ihre Jeans nicht richtig saß. Das Gegenlicht der untergehenden Sonne war jetzt weg und damit auch der reizvolle Einblick. Auch ich stand auf und sagte, dass ich nochmal den Filmprojektor überprüfen wolle. Da es inzwischen dämmrig im Zimmer geworden war, ließ sich das Bild besser justieren und beurteilen. Währenddessen kam Martin mit drei weiteren Gästen zurück, die ich nur vom Sehen kannte. Es ging also los und ich spürte mit einem Mal eine deutliche Nervosität. Am Projektor war alles in Ordnung, das hatten wir als allererstes sorgfältig eingerichtet. Ich ging also in die Küche und verteilte Salzstangen in Gläsern und Chips in Schalen. Mit den Gläsern und den Schalen ging ich auf umständlichen Wegen durch die Wohnung. Martins Wohnung war verwinkelt und unübersichtlich. Lauter kleine Kämmerchen, die das Wohnzimmer umgaben, das alles mit Zwischentüren, Dachschrägen und Erkern, sogar das Badezimmer hatte zwei Türen, einen Eingang und einen Ausgang. Dadurch konnte ich aus drei verschiedenen Türen ins Wohnzimmer treten, und während ich durch die Wohnung streifte und die Salzstangengläschen verteilte, hörte ich immer wieder Sabines Lachen. Sie lachte ganz schön laut. Wenn ich dann durch eine der drei Türen ins Wohnzimmer trat, konnte ich nicht feststellen, um was es ging, warum gelacht wurde, alle saßen auf dem Boden und sahen so aus, als ob sie gar nichts zu lachen hätten. Ich tat aber uninteressiert, zog mich unauffällig in die Küche zurück, nahm die nächsten zwei Salzstangengläser und verteilte sie über die Route, die durch das Badezimmer in die Kämmerchen führte und dann wieder über das Wohnzimmer zurück in die Küche. Sabine lachte immer wieder, aber nur, wenn ich nicht mitbekommen konnte, um was es ging. War sie etwa eine von denen, die beim Kiffen lustig wurde? Oder machten sie Witze, die ich nicht verstand? Verstehen sollte? Oder etwa Witze über mich? Es blieb bei Vermutungen, denn plötzlich war die Ruhe vorbei. Meine WG-Kumpels kamen, und hinter ihnen einige aufgeregten Frauen, die zu Achim und Rainer gehörten, die anderen beiden Hauptdarsteller. Achim studierte damals Theaterwissenschaften und hatte eine ganze große Klappe. Er wusste immer über alles Bescheid. Weil er nicht nur Theater-, sondern auch Filmexperte war und sein Expertentum darin gipfelte, dass er Super-8 grundsätzlich für super und meine filmischen Werke erst recht für super-super hielt, ergab sich zwangsläufig, dass er auch einmal in einem meiner Filme mitspielen musste. Rainer wiederum, der dritte Schauspieler spielte Schlagzeug in einer Nachwuchsband, die wegen ihren vielen Besetzungswechsel nie über lokale Berühmtheit hinauskam.
Martin ließ jetzt die Haustür offen stehen, so dass die weiteren Gäste einfach von der Straße reinkommen konnten und drehte die Musik lauter. Ich hatte keine Chance mehr zu hören, ob und was über mich gelästert wurde. Meine WG-Kumpels bestätigten nochmals, dass unsere Geografie-Mitbewohnerin nicht kommen könne, worauf ich entgegnete, dass mich das nicht störe, da ich mich von ihr meist missverstanden fühle. Wer wen missversteht, beschäftigte uns eine ganze Weile, während der Raum sich füllte, Flaschen entkorkt und Schallplatten gewechselt wurden. Speziell die ankommenden Frauen hatten wir gut im Blick, machten dumme Bemerkungen über sie, bis ich irgendwann bemerkte, dass Sabine gar nicht mehr dort saß, wo ich sie zuletzt gesehen hatte. Erschreckt schaute ich mich um, da kam aber gerade ein neuer Trupp frischer Gäste, der mich in Anspruch nahm, einer nach dem anderen quatschte mich voll und die Forderung, dass der Film gestartet werden solle, wurde immer häufiger gestellt. Wo war Martin, wo hatte ich die Weinflasche hingestellt, man kam fast nicht mehr durch die dicht stehenden Menschen hindurch, aber als ich laut rief, hörten sie alle auf mich, schließlich war ich der Filmemacher. Auch Martin bemerkte mich schließlich und schaltete die Musik aus. Leute, jetzt ist es gleich soweit, sagte ich laut, aber da kam auch schon ein Zwischenruf, Heike sei noch nicht da, sie käme sofort, ich solle noch warten. Heike? War das die große Schlanke? Oder die Blonde mit den auffälligen Lidschatten? Oder keine von beiden? Im Film hatte sie nicht mitgespielt, aber wenn es die Große war, würde ich vielleicht warten, aber da rief Martin, dass wir trotzdem jetzt sofort anfingen, weil wir den Film später nochmal zeigen können. Stimmt, das hatten wir ausgemacht, also drängte ich mich an den Projektor und fand dort einen Platz, Licht aus, rief ich und Martin drückte den Schalter einer Mehrfachsteckdose, an der alle Lampen angeschlossen waren, so dass es wirklich schlagartig dunkel wurde. Sofort begann das Knattern des Projektorlaufwerks. Ich legte die Hand an das Objektiv, um die Schärfe bei Bedarf sofort nachziehen zu können, aber sie stimmte und ich brauchte nicht zu korrigieren. Und da sahen sie alle auch schon die erste Szene, in der Martin unvermittelt direkt in die Kamera hinein sagt: „Ich weiß gar nicht, warum ihr hier seid, wenn ihr was Besseres geplant hattet!“ Dabei raucht er und dann schnipst er seine Zigarettenkippe supercool direkt an der Kamera vorbei und zieht die Mundwinkel hoch, mir gefiel das gut und auch die Zuschauer, zumindest diejenigen, die Martin kannten, fanden es prima. Es war nicht zum Lachen, nur zum Schmunzeln. Ich merkte, dass es beim Publikum funktionierte. Jetzt waren sie gut eingestimmt und würden die etwas langatmige Anfangsszene gut gelaunt überstehen. Mein Weinglas war wieder verschwunden, aber da stand eine Flasche unter dem Projektortisch, Martin hatte dort den Discount-Whiskey deponiert. Ich nahm einen Schluck direkt aus der Flasche und behielt sie in der Hand. Doch während sich die Dialoge zwischen den drei Darstellern langsam entwickelten, merkte ich, dass sich jemand von hinten näherte, der mir die Flasche aus der Hand nehmen wollte. Ich drehte mich um und schaute direkt in Sabines Gesicht, die mich anlachte und flüsterte, sie wolle auch was trinken. Sie nahm einen Schluck aus der Flasche und gab sie mir zurück. Sabine kam mir gerade recht. Ihre Schulter berührte meinen Rücken. Das lag nicht nur daran, dass der Platz hinter dem Projektor so eng war. Das machte sie ganz bewusst. Es fragte sich, wie ernst ich es nehmen sollte. Der andere Schauspieler, Achim, erzählte gerade, wie ihm eine Geliebte erst die Uhr, dann Schallplatten und schließlich seine Lieblings-Wollsocken geklaut habe. Und dass er deshalb nicht mehr an das Gute im Menschen, und erst recht nicht an das Gute in den Frauen glaube. Die Zuschauer lachten, von Sabine hörte ich nichts. Ich verzichtete darauf, mich umzudrehen, bestimmt fand sie das auch lustig. Jetzt berührte sie mich nicht mehr. Ich schaute mich immer noch nicht um, denn es näherte sich bereits die Schlussszene, bei der sich die Schauspieler um den Hals fallen. Ich befürchtete, es könnte zu pathetisch wirken, oder vielleicht schwul. Martin zieht sein Hemd aus, aber damals, als wir es filmten, klebte es wegen dem Schweiß und er bekam es nicht schnell genug von den Schultern. Beim Drehen störte mich das nicht, da hatten wir schon ein paar Stunden auf dem Spielplatz verbracht, einige Flaschen Wein getrunken und mir ging es nur noch darum, dass die Schlusspointe klappte. Aber als ich die Einstellungen zusammenschnitt, merkte ich, dass das Ausziehen des Hemdes zu lange dauerte, da gab es plötzlich eine Lücke im Dialog und als ich versuchte, zu kürzen, sah wiederum der Bewegungsablauf ungelenk aus. Darum kehrte ich zur ursprünglichen Version zurück, was aber bei Super-8 einen wahrnehmbaren Schnitt hinterließ. Da schnippelt man ja mit der Schere direkt am Original herum, von dem es keine Kopie gibt. Rückblickend muss man sagen, das war schon beachtlich, wenn da überhaupt was rauskam, aber leider sah die Endfassung wirklich schwul aus. Also die Umarmung von Rainer und Martin, ganz abgesehen davon, dass der Schnittrhythmus durch das zu langsame Ausziehen des Hemdes verhunzt war. Achim, der dritte Schauspieler, machte es wieder wett, der umarmte die beiden anderen mit lockerem Schwung und dann kam ja auch schon ein paar Sekunden später die Pointe, bei der Martin in das Loch fällt, der hat die Hände noch auf den Schultern der Freunde, alle drei gucken in den Himmel und er rutscht zwischen ihnen nach unten weg und versinkt in einer Grube, die zu dem Kinderspielplatz gehört. Achim und Rainer sagen jeweils noch einen coolen Spruch und verschwinden in gegenüberliegende Himmelsrichtungen. Martin sitzt doof im Loch und der Film ist zu Ende. Den Satz von Rainer konnte aber kaum einer im Publikum verstehen, weil alle noch über Martins betroffenen Blick aus dem Loch lachten. Als die Abspanntafel erschien, nahm ich einen Schluck aus der Whiskeyflasche. Die Leute applaudieren und ich drehte mich um, wollte Sabine die Flasche reichen und mich von ihr anlachen lassen, aber sie war wieder verschwunden. Wie hatte die sich so unbemerkt davonschleichen können? Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, Martin zwängte sich durch die Menge zu mir, er lachte und war bestens amüsiert über die Gags im Film. Gläser für den Whiskey hatte er in der Hand, Rainer und Achim kamen von der anderen Seite. Da lagen wir uns plötzlich in den Armen, fühlten uns toll und darauf wollten wir uns ordentlich betrinken, auch wenn das keiner richtig zugab. Beim Trinken aus der Flasche hatte ich nur genippt, um meine Nervosität zu besänftigen. Aus dem Glas traute ich mir mehr zu und spürte, wie es in der Kehle warm wurde und das Hirn schien sich auszuweiten. Martin lachte immer noch, Achim, der Klugscheißer und Besserwisser begann, alle Anschlussfehler aufzuzählen. Das machte er immer, er war einer von denen, die sowas sahen: wenn die Zigarette nach dem Schnitt länger ist als vorher, oder wenn die Füllhöhe der Flasche nicht stimmt. Mir war sowas egal, während unserer Dreharbeiten veränderte sich sogar das Etikett auf der Weinflasche. Außer Achim kümmerte das sowieso niemanden, aber jetzt hatte ich meine Freude an seinen Ausführungen. Weil er so begeistert vom Film war und es lustig fand, was alles nicht stimmte, fand ich wiederum ihn lustig. Wir waren ja stolz darauf, dass wir einen Film gemacht hatten, der unperfekt und schäbig war. Wir wollten mit den normalen Unterhaltungsfilmen nichts zu tun haben. Martin griff Achims Thema auf und schlug vor, dass beim nächsten Film überhaupt nichts stimmen sollte, mit Absicht. Wir lachten und phantasierten um die Wette, was alles falsch sein könnte. Der falscheste Film aller Zeiten, das wäre doch was. Das beschäftigte uns noch den ganzen Abend und letztendlich landete ich auch mit der falschen Frau im falschen Bett. Sabine blieb verschwunden, aber es kamen neue Gäste, der Film lief noch zwei Mal, die Whiskeyflasche war drei Mal leer, die Lücken, die in der Erinnerung klafften, wurden länger, es lohnt sich nicht zu erzählen, was zwischen den Lücken passierte, mit wem ich alles betrunkene Gespräche führte. Doch je später der Abend wurde, desto häufiger blickte ich in das altbekannte Gesicht von Tina und letztendlich schliefen wir auf einer der herumliegenden Matratzen in der hinteren Kammer von Martins Wohnung. Wenn wir Sex hatten, dann bestimmt nicht viel. Vermutlich gar keinen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie wir uns hinlegten. Als ich aufwachte, trug ich nur ein T-Shirt. Die Hose und die Unterhose lagen neben der Matratze am Boden. Ich musste dringend pissen. Auf dem Weg ins Klo sah ich, dass noch mehr Leute in der Wohnung schliefen. Der Boden war übersät mit leeren Flaschen und vollen Aschenbechern.
Im Lauf des Vormittags wachte einer nach dem anderen auf, es wurde viel Kaffee getrunken und blödes Zeug geredet, alle waren verkatert. Als Tina unter der Decke hervorkroch, fiel mir auf, dass sie ihre Strumpfhose noch anhatte. Sie küsste mich und ging ziemlich schnell nach Hause. Ich kümmerte mich schließlich ums Aufräumen und Putzen, abends kochten Martin, ich und ein Unbekannter mit Namen Florian gemeinsam Spaghetti. Dann ging ich zurück in meine WG und schlief lange.
3
Als ich erwachte, war Sonntag und meine WG leer. Erst abends kam Holger zurück, mein Mitbewohner, der Biologie und Chemie fürs Lehramt studierte. Mit ihm verstand ich mich am besten von allen meinen Mitbewohnern. Mein Problem, das ich ihm darlegen wollte, umschrieb ich mit der plakativen und grob vereinfachten Frage: Tina oder Sabine? Oder beide. Oder erst mal schauen. Oder keine von beiden, sondern lieber Vanessa. Holger kannte Tina ganz gut, Sabine überhaupt nicht und Vanessa kam ja gar nicht in Frage, denn Vanessa war die hübscheste Studentin der ganzen Stadt, niemand wusste, mit wem sie ihre Nächte verbrachte und ihr Name war bei uns ein geflügeltes Wort. Wer sagte, dann versuche ich es eben bei Vanessa, der meinte, dass ihm alles egal sei, weil es sowieso nicht klappt. Wenn es ums Klappen ging, war Tina die Favoritin, meinte Holger, denn Holger war schon immer der Meinung, dass Tina es auf mich abgesehen hatte. Ich will Tina aber gar nicht, antwortete ich. Willst du denn Sabine? Das weiß ich nicht. Nicht wissen heißt nicht wollen und wenn du nicht willst, dann bleibt nur Vanessa. Holger hatte wohl keine Lust, mein verzagtes Gerede anzuhören. Na ja, er hatte es leicht, er war schon seit fünf Jahren mit derselben Freundin zusammen und bestimmt würden sie irgendwann heiraten. Ich fand das damals so richtig spießig, aber wenn man keine Freundin, sondern immer nur kleine Abenteuer hat, stellt sich gar nicht die Frage. Mir erschien es damals, als ginge das auf keinen Fall, so eine feste Freundin, mit der man womöglich sogar zusammenwohnt, ebenso wie es mir absurd erschien, als Ingenieur zu arbeiten, obwohl ich das studierte. Das mit den Super-8-Filmen, war aber auch eine Scheinwelt und überhaupt nicht realitätstauglich. Dachte ich. Darum behauptete ich stets, dass ich einen bürgerlichen Beruf brauchen würde, während meine Existenz wie ein nervöser Brummkreisel unablässig und lärmend um künstlerische Projekte herumrotierte. Wenn man ihn nicht immer wieder durch die Spindel mit neuem Schwung auflädt, hört der Brummkreisel schnell auf zu brummen und fällt um. Aber ich rotierte weiter, wurde nicht müde, frischen Schwung in meine Projekte hineinzupumpen. Martin wollte beim nächsten Film Kamera machen, ich solle mich auf die Regie konzentrieren. Schön, aber erst einmal musste ein Drehbuch her. Die Idee, einen Film zu drehen, bei dem alles falsch sei, entpuppte sich als viel schwieriger, als zunächst gedacht. In meiner Ratlosigkeit vermutete ich sogar, es sei unmöglich. Achim erklärte großspurig, dass es vielleicht für alle anderen Filmemacher und speziell für die aus Hollywood unmöglich sei, aber nicht für MICH. Martin und andere, die bei ihm herumsaßen, sagten, mach doch einfach dies, oder das, wie wäre es hiermit, oder damit? Die waren immer sehr begeistert von ihren Ideen, mir aber gefiel keine. Erst als Sabine Vorschläge machte, hatte ich das Gefühl, es würde mir weiterhelfen. Erstaunt war ich auch darüber, dass sie eines Abends, vielleicht drei Wochen nach der Party, bei Martin saß. Ich hatte mich inzwischen zwar darum gekümmert, ihre Telefonnummer von meiner Mitbewohnerin zu erfragen, aber der Zettel mit der Nummer war nicht zu finden, als ich ein paar Tage später anrufen wollte. Noch später, als ich gerade in der falschen Stimmung war, tauchte erst der Zettel auf und dann sie, wieder auf der Matratze sitzend, im schönen Gegenlicht der kleinen Fenster von Martins Wohnung. Sie hätte damals zu einer unvermeidbaren Einladung gehen müssen, sagte sie in einem Tonfall, der den Vorwurf beinhaltete, dass ich das hätte wissen müssen. Als der Film zu Ende gewesen sei, hätte sie schon auf der Schwelle gestanden und sei sofort losgefahren, um die Pünktlichkeitstoleranz ihrer Gastgeber nicht übermäßig zu strapazieren. Der Film hätte ihr gefallen, allerdings sei sie unsicher gewesen, ob Rainer im Film schwul sein solle oder nicht und wie man das hätte interpretieren müssen, wobei er schwul aussah, aber dem Sinn des Filmes nach eigentlich nicht sein dürfte. Ja, ja, sie hatte genau die kritische Stelle erkannt, die mir auch nicht gefiel und lächelte dazu so wissend. Das beeindruckte mich, aber es verunsicherte mich auch und ich konnte es nicht lassen, sie in die Schwierigkeiten meines neuen Drehbuchentwurfes einzuweihen. Damit gab ich mir schon wieder eine Blöße und hoffte, sie würde das sympathisch finden.
Wir dürfen in dem Film nur Formalismen falsch machen, sagte ich, denn dramaturgische Fehler verzeiht der Zuschauer nicht. Also in dem Sinn, dass am Anfang nur Kleinigkeiten falsch sind, die im Lauf des Films immer auffälliger werden und am Schluss passiert was ganz Irrwitziges, also zum Beispiel kommt der Regisseur ins Bild oder die Kamera fällt um, oder, oder, oder, alles banale Ideen. Wie soll die Handlung sein? Hat die Handlung eine innere Logik oder ist sie willkürlich, damit sie sich von jeder konventionellen Struktur unterscheidet? Aber das gab es ja auch schon längst. Hatten Buñuel und Dalí mit dem „Andalusischen Hund“ in den zwanziger Jahren bereits gemacht. In der Fachliteratur werden Seiten vollgeschrieben mit der Vielschichtigkeit und Bildersprachlichkeit dieses Werkes und Buñuel sagt in seiner Autobiografie, sie hätten einfach gefilmt, was ihnen spontan einfiel. Wenn ich einfach das machte, was mir einfiel, war das mittelmäßiger Trash für die Subkultur, und wenn ich mir das Hirn zermarterte, damit es einen Hauch von Genialität abbekam, dann wurde es nur noch schlimmer. Das war dann wohl auch der Unterschied zwischen Buñuel auf der einen Seite und mir auf der anderen. Wenn die einfach mal drauflosfilmten, revolutionierten sie die Kinokultur, wenn ich das machte, war es nur banale Grütze. Wozu also anstrengen? Mit den Frauen war es ja so ähnlich: Manchmal bissen sie von alleine an, aber wenn ich mir erst in den Kopf gesetzt hatte, sie zu erobern, dann verscheuchte ich sie nur.
Nach dieser Behauptung machte ich eine Pause in meiner langen Rede und schaute Sabine an, ob sie was darauf antwortete. Sie sah heute wieder sehr gut aus. Und trank Rotwein, während ich noch am Kaffee nippte. Aber sie ging nicht auf meine Problematik mit den Frauen ein, sie kehrte zum Ausgangspunkt meiner Überlegung zurück: Es sei ein falscher Ansatz, alles falsch machen zu wollen, denn dann gebe es ja gar keinen Bezug mehr, an dem man falsch und richtig festmachen könne. Also wird nur das falsch gemacht, was beim Falschmachen Spaß macht. Was beim Falschmachen langweilt, wird richtig gemacht, denn Langeweile sei schlecht für Filme. Du bist ja eine Hedonistin, entgegnete ich, und sie sagte: Na klar! Ich bin für die falsche Moral, der Kommissar ist der Mörder und am Ende seiner Ermittlungen nimmt er sich selber fest, ist das falsch genug? Aber ich wollte keinen Krimi drehen, das sei das falsche Metier. Eben, sagte sie, das falsche, und falsch solle es ja sein und damit sei es richtig. Oder müsse es wieder so pseudointellektuell sein? Wie meinte sie das denn? War das Ironie? Außerdem sei der ganze Ansatz, alles falsch zu machen, ein intellektueller. Am intellektuellen Habitus führe hier sowieso kein Weg dran vorbei. Sie schaute mich versöhnlich an, aber ob sie mich wirklich ernst nahm, konnte ich nicht zweifelsfrei feststellen. Du hast selbst gesagt, dass du ein Pseudointellektueller bist, sagte sie lachend, ja, aber das habe ich ironisch gemeint, antwortete ich. Ich auch. Sie war wirklich undurchschaubar, hoffentlich würde ich mich nicht in ihren Launen verstricken. Da mischte sich plötzlich Martin ein und meinte, Sabine solle vorsichtig sein, mit dem, was sie sage, schließlich seien wir die Experten. Wie beabsichtigt, lachte sie ausgiebig über das Wort „Experten“ und legte mir schließlich den Arm über die Schulter. Schenkte mir dann auch ein Glas Rotwein ein und stieß mit mir an. Was soll aus euch eigentlich mal werden, fragte sie unvermittelt ernst. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, sondern schaute sie nur überrascht an. Bevor mir etwas einfiel, begann sie: Das ist ja ziemlich witzig, was ihr für Filme macht, aber gibt es einen Weg, der vom Hier und Jetzt dorthin führt, wo ihr hinwollt? Wo wollt ihr denn hin? Es kann natürlich auch sein, dass ihr einfach dableiben wollt, das würde ich euch zutrauen. Martin mischte sich ein: Willst du uns den Spaß verderben? Nein, ich will bloß herausfinden, ob ihr euren Aktivismus hinterfragt, und, wenn ja, wie. Mein Ex-Freund war ein Träumer, ich nicht. Das ging nicht lange gut. Weil ich nämlich gar keine Toleranz für realitätsfremde Menschen habe. Und außerdem bin ich gerade in einem Seminar über die Kaskadierung von Verkehrswegenetzen. Das ist ziemlich interessant. Da lernt man, dass bei falschen Rahmenbedingungen ganz schnell Sackgassen entstehen, oder dass eine Optimierung des gesamten Verkehrsflusses mit einzelnen, individuellen Umwegen von beträchtlichem Umfang verbunden sein kann. Mir ist aufgefallen, dass sich die Regeln für Verkehrswege auf Lebenswege übertragen lassen. Ich will nur vermeiden, dass ihr in eine Sackgasse hineinmanövriert oder euch Umwege aufhalst, die euch ins Hintertreffen bringen. An dieser Stelle des Gesprächs zeigte ich zu viel Interesse an der Kaskadierung von Verkehrswegenetzen. Darüber wollte ich wirklich etwas erfahren und das hatte dann zur Folge, dass wir eine Stunde oder länger über ihre geografische Verkehrsplanung diskutierten und nicht wieder auf die Lebensplanung von Provinzfilmemachern zurückkehrten. Angetrunken verließen wir Martin schließlich gemeinsam, aber gleich vor der Haustür musste sie in eine andere Richtung als ich. Sie schwang sich auf ein Holland-Fahrrad, dessen banales Speichenschloss sie ganz schnell geöffnet hatte und fuhr davon. Ich schaute ihr wehmütig hinterher.
Während ich nach Hause lief, wurde ich erst recht trübsinnig. Ja, ich war verliebt, aber mir schien, als sei diese Frau undurchschaubar und überheblich, wieso erklärte uns die Geografin die Welt, wir waren doch die Klugscheißer, die Künstler, die sich mit dem Wesen des Daseins und allen existentiellen Fragen beschäftigten. Während ich durch die leeren nächtlichen Straßen spazierte, erinnerte ich mich an die merkwürdigen Wendungen, die das Gespräch im Laufe des Abends genommen hatte, an die Vorschläge Sabines für mein Drehbuch und daran, dass ich es vermieden hatte, über den Nutzen unserer kreativen Aktivitäten zu reden und stattdessen überflüssiges Halbwissen über Verkehrsnetze erfahren und schon wieder weitgehend vergessen hatte. Jetzt interessierte es mich, was Sabine zu meinen Lebens-Lösungs-Ansätzen hätte sagen können, aber ich hatte vom Thema abgelenkt und deshalb war ich selbst schuld. Das waren die richtigen selbstkritischen Gedanken, um allein an der völlig unbelebten Straße längs der Bahnschienen herumzulaufen. Plötzlich stand ich vor der Werbefläche, die ich ein paar Wochen vorher unbedingt hatte bemalen wollen. Jetzt klebte dort eine Werbung für den Baumarkt: Eine gutaussehende Frau im Overall mit einem Farbeimer. Sie sah Sabine ähnlich, die gleiche Blondinen-Normalo-Frisur, aber zierlicher. Na klar, war ja auch ein Model, ein wirklich hübsches Gesicht, mit einem super Lächeln und super weißen Zähnen in ein Handwerker-Outfit hineingesteckt und gut in Szene gesetzt. „Mal dir deine Welt selbst!“, stand als Slogan neben dem Pinsel, den die hübsche Blondine nach vorne zur Kamera streckte. „Bist du dann auch mit drin, in meiner selbstgemalten Welt?“ fragte ich mich. „Und wenn nicht du, dann vielleicht Sabine?“ Aber da fielen mir Sabines merkwürdiges Verhalten und ihr kantiges Kinn ein und ich dachte mir, das Fotomodell von der Baumarktwerbung würde ich sofort mitnehmen, ohne Bedenken, ohne Rückfragen und Ideologiekontrolle, Sabine lieber nicht, denn wenn sie erst mal drin ist, in meiner selbstgemalten Welt, kriege ich sie vielleicht nicht wieder los und sie quält mich mit den kritischen Fragen, den halbwichtigen Fakten und den Proportionen ihres Körpers. Eigentlich gefiel sie mir nicht, aber ich war verliebt und deshalb empfand ich sie als attraktiv. Sagte ich mir, während ich die Baumarkt-Tussi mit ihrem perfekten Lächeln, ihrer perfekten Figur und ihrem perfekten Make-Up bestaunte und in einen kindischen Die-will-ich-haben-und-sonst-keine-Trotz verfiel. Die Farbe würde ich dann auch kaufen, wenn es sein muss. Ich langte in die Innentasche meiner Jacke und fühlte den dicken Faserstift. Den hatte ich Wochen zuvor in die Tasche hineingesteckt, jetzt zog ich ihn raus und schrieb ohne lange nachzudenken unter das „Mal dir deine Welt selbst!“ ein „Ok, mach ich!“ Dann steckte ich den Stift wieder ein und ging. Die paar Minuten, die ich brauchte, um nach Hause zu kommen, vergingen mit den Gedanken darüber, wie originell es sei, mitten in der Nacht den Entschluss zu fassen, das Zimmer neu zu streichen. Aber wann wäre es denn normal, solch einen Entschluss zu fassen?
4
Es ist total uncool, Pläne zu schmieden, und evolutionär, Bedingungen zu gestalten. Mit diesem tiefsinnigen Satz konfrontierte ich meinen Mitbewohner Holger zwei Tage später, als er mich mit dem Farbeimer in der Küche sitzen sah. Wie bitte? fragte er zurück und griff zum Wasserkocher. Er würde sich also einen Kaffee oder Tee machen, das gab mir genug Zeit, um meine Theorie zu erläutern. Sabines Vorwurf, dass wir keinen Plan hätten, steckte mir immer noch quer im Gemüt. Dass wir nicht wussten, wohin wir wollten und wie wir dahinkommen würden. Aber meine Theorie besagte, dass man keinen Plan braucht. Pläne führen zu Frustrationen, wenn sie sich nicht einhalten lassen, Pläne setzen eine Analyse der Verhältnisse voraus, die nichts nutzt, wenn sich die Verhältnisse ändern. Pläne haben den Nachteil, dass man an ihnen scheitern kann und das, vor allem das, will man doch nicht. Darum ist es cool, keinen Plan zu haben, dann kann man nicht scheitern, Nichtscheiternkönnen gibt Gelassenheit, Gelassenheit führt in Kombination mit einer kreativen Grundhaltung zu künstlerischem Output, der Output stärkt die Erfahrung und das Selbstbewusstsein und dann fügt sich bei geeigneten Randbedingungen Eins ins Andere. Die Bedingungen sind beispielsweise Fähigkeiten und Kontakte, Ersparnisse und Arbeitsräume, Ferien ohne Ferienjob, vielleicht sogar Sex ohne Beziehung. Anregung, Inspiration, Grenzwerterfahrung. Oder ein frisch gestrichenes Zimmer. Bisher hatte ich immer gedacht, ich brauchte nur das einfachste aller Zimmer, kein Schnickschnack, kein Zierrat, kein Nippes, aber dann glaubte ich zu bemerken, dass dieses schmutzige Gelbbraun der Wände mich geistig bremste. Das wirft mich immer wieder zurück auf mich selbst. Das willst du doch, warf mein Mitbewohner ein, der gerade die Milch in seinen Kaffee goss und langsam umrührte. Das cremige Braun erinnerte mich an meine schmutzige Raufasertapete. Nein, ich will das nicht … mehr! antwortete ich, darum habe ich die Farbe gekauft. Er schaute mich irritiert an. Wie aufgezogen schweifte ich zu einem meiner Lieblingsthemen ab, auch wenn es nicht so richtig als Argumentation passte. Weißt du, es gibt Typen, die tragen in ihrer Tasche jahrelang das Drehbuch ihres Bewerbungsfilms für die Filmhochschule mit sich herum und dabei reden die auch noch jahrelang darüber und letztendlich werden sie abgelehnt, oder sie bekommen den Film gar nicht fertig, ach, noch schlimmer, manche fangen gar nicht damit an, solche Typen sind doch total uncool! Holger stimmte mir nur eingeschränkt zu. Im Fall einer Ablehnung: Ja! Aber wenn sie genommen würden, dann wäre alles, was sie vorhergemacht haben rückwirkend richtig. Das ist doch alles so verkrampft, entgegnete ich auf seinen Einwand. Wenn es nur ums Coolsein ginge, würde niemand mehr Lehramt studieren, so wie ich. Mein Mitbewohner drehte sich eine Zigarette und ich schnorrte ihn um Tabak an, da ich keinen mehr hatte. Um die Bedingungen für die Entwicklung meiner künstlerischen Aktivitäten zu optimieren, hatte ich darauf verzichtet, mir Zigaretten oder Tabak zu kaufen. Aber jetzt, beim Kaffee in der WG-Küche erschien es mir, als verhindere der Mangel an Nikotin jede Art des Wohlfühlens. Außerdem waren die Wände noch nicht gestrichen. Nach dem Streichen könnte ich noch mal darüber nachdenken, mit dem Rauchen aufzuhören. Die besten technischen Errungenschaften, fuhr ich fort, verblassen gegen die Genialität der Natur und der biologischen Systeme. Aber die haben keinen Plan gehabt, sondern sind Schrittchen für Schrittchen verbessert worden, durch evolutionäre Selektion. Keine Pflanze und kein Tier hat durch Analyse herausgefunden, wie es sich besser an die Welt anpassen könnte und trotzdem entstanden dadurch bewundernswerte funktionierende Wesen. Vielleicht hätte ich nicht in den Bereich der Biologie abschweifen sollen, denn da kannte sich Holger aus. Er hatte ein paar Argumente gegen mich, die mir nicht in die Lebensplanung passten. Einerseits, sagte er, solle ich bedenken, dass die Evolution nicht nur aus den Überlebenden bestehe, sondern zum beträchtlichen Teil aus den Ausgestorbenen. An die denke man nicht so oft, weil man sie nicht sehe, aber das seien enorm viel. Woher nähme ich also meine Hoffnung, dass ich mich zu den Gewinnern der Selektionsprozesse zählen könne? Und andererseits habe die biologische Evolution wahnsinnig viel Zeit und die habe ich nicht. Also: Einerseits werde das planlose Ich-schau-mal-was-ich-hier-und-heute-machen-kann nicht zwangsläufig in der Genialität, sondern vielleicht genauso gut in der Mittelmäßig- oder gar Bedeutungslosigkeit enden, andererseits könne es auch sein, dass diese kleinen Schrittchen des evolutionären Prozesses zwar zwangsläufig zu den höchsten Höhen des künstlerischen Wirkens führten, aber leider so langsam, dass alle wie auch immer gearteten Teilziele erst nach 100 Jahren erreicht würden und da würde dann die biologische Begrenzung des Lebens den Prozess einfach abschneiden, was aber eventuell egal sei, da ja auch die soziale Begrenzung des Lebens dazu führen könne, dass ab einem bestimmten Alter der Weg gar nicht weiter beschritten werden könne, also genaugenommen vielleicht schon in einem Jahr und sieben Monaten, denn das war der Zeitpunkt, an dem mein Bafög auslaufen werde. Und dann? Mein Mitbewohner wollte gar keine Antwort mehr hören, er nahm seine halbvolle Kaffeetasse und erklärte mir, dass er jetzt für die Prüfung lernen müsse, damit er das Studium in der Regelstudienzeit abschließen könne, das sei nämlich sein PLAN. Dann verschwand er amüsiert und ließ mich etwas ratlos zurück. Vermutlich war die Eheschließung und die Zeugung von Kindern unmittelbar nach dem Examen vorgesehen und in seinem lückenlosen Plan enthalten. Die nächsten existentiellen Fragen würden sich für Holger erst stellen, wenn es um die Gestaltung des Rentendaseins ginge.
5
Ein paar Tage später kam Sabine in unserer WG vorbei, aber nicht wegen mir, sondern wegen meiner Mitbewohnerin. Es herrschte ein heilloses Durcheinander, da ich einen Teil meiner Möbel in den engen Flur gestellt hatte, um mein Zimmer zu streichen. Das Gepinsel machte überhaupt keinen Spaß. Erst recht nicht das Geputze und Gewische, wenn der Pinsel getropft hatte. Obwohl ich ja nur ein kleines Zimmer bewohnte, kam mir der Aufwand immens vor. Inzwischen zweifelte ich daran, dass mir die strahlend weißen Wände jene positive Energie vermitteln würden, die ich mir von ihnen erhofft hatte. Aber erst einmal musste ich viel Energie reinstecken, Zimmer ausräumen, Malen, Zurückräumen und so weiter. Die Farbe deckte nicht gut, nach dem zweiten Anstrich war das Weiß keineswegs makellos. Aber ich beschloss, dass ich keine makellosen Wände brauchte. Als Sabine ihren Kopf durch die Tür steckte und sich nach meinem Wohlbefinden erkundigte, fehlte mir nur noch die Wand mit dem Fenster und das wollte ich an dem Tag erledigen. Ich machte ein paar Witze über die Mühsal des Heimwerkens, die Sabine nicht zum Lachen brachten. Sie wirkte unbeeindruckt und dann standen wir uns ratlos gegenüber, weil sie nicht reinkommen wollte in meine schmutzige Baustelle und ich nicht raus. In zwei Stunden bin ich fertig, nur noch die letzte Wand, sagte ich und fügte die Frage an, ob sie dann noch da sei. Das wisse sie nicht, komme auf meine Mitbewohnerin an. Was habt ihr denn vor? Seminararbeit besprechen und dann Wein trinken, voraussichtlich irgendwo draußen. Also nicht in meiner frisch gestrichenen Welt. Ich muss jetzt dringend loslegen, sagte ich und tauchte die Rolle in die Farbe. Sagt mir doch einfach, wenn ihr rausgeht, und wohin, schlug ich vor. Dann rollte ich los, mit der Farbrolle. Sabine zog sich von der Türschwelle zurück und schloss die Tür. Sollten die beiden erstmal ihre Seminararbeit besprechen, in der Zwischenzeit kam ich mit dem Streichen gut voran und freute mich darauf, fertig zu werden. Während ich am Erker herumfummelte und mich bemühte, das Holz vom Fensterrahmen sauber zu halten, hörte ich die Klingel, später dann auch Stimmen im Flur. Beim weiterpinseln konnte ich bemerken, dass sich offensichtlich Menschen in der Küche unterhielten. Die Stimmen kamen mir bekannt vor, aber ich erkannte sie nicht. Ich würde es mir später ansehen, wer da in der Küche herumsaß, erst einmal musste gemalert werden. Neugierig war ich schon und dann hörte ich das Lachen, das mir so bekannt vorkam. War das Sabine? Ihr lautes Lachen, als ich die Salzstangen in Martins Wohnung verteilte, fiel mir ein. Nein, ich hatte mich wohl getäuscht, oder doch nicht? Ging es in der Küche um das Seminar, oder waren sie schon betrunken? Sollte ich mir auch ein Glas holen? Die letzten zwei Quadratmeter lagen vor mir, jetzt keine Ablenkung, rein mit der Rolle in den Farbeimer. Ich hätte früher anfangen sollen, doch nachdem ich aus der Vorlesung gekommen war, hatte ich erst mal ausgiebig Kaffee getrunken, war dann Einkaufen gegangen, hatte anschließend zu Abend gegessen. Beim Anziehen meine Arbeitsklamotten war es schon halb sieben, da brauchte ich mich nicht wundern, dass ich um neun noch pinselte, während in der Küche gelacht wurde und jetzt wieder Sabine, diesmal war ich mir sicher, dass sie es war, die lachte. Merkwürdig erschien mir, dass sie überhaupt nicht lachte, wenn sie sich mit mir unterhielt. Bei unseren Gesprächen hatte sie stets diesen besorgten Ton, etwas Mütterliches, als würde sie sich Sorgen um mich machen und das machte ich mir ja auch. Doch im Gespräch mit anderen, wenn ich mich entfernt hatte, entwickelte sie sich offenbar zur Stimmungskanone. Und jetzt schon wieder. Andererseits war es mir ganz recht, wenn mir eine besondere Behandlung zuteil wurde. Darauf begründete sich meine Hoffnung, dass sie sich in mich verlieben könnte oder schon hatte. Nein, sie hatte sich bestimmt noch nicht verliebt, aber sie sah bei mir das entsprechende Potential. Jetzt kam es darauf an, dranzubleiben, ohne ihr auf dabei die Nerven zu gehen. Sagte ich mir. Vielleicht sogar durch künstliche Verknappung. Mach dich rar! Aber das tat ich schon die ganze Zeit. Jetzt auch! Ich pinselte weiter. Auf jeden Fall erst die Wand fertig machen und die Abdeckplanen zusammenlegen. Weitermachen und den Geräuschen lauschen, die durch die geschlossene Tür zu mir hereindrangen. Ab und zu ein paar Wortfetzen oder Gelächter, aber kein einzelnes Gelächter von Sabine, immer nur kollektives Gelächter. Wer waren die anderen? Vermutlich meine Geografie-Mitbewohnerin. Die lachte in meiner Anwesenheit auch nie, schon gar nicht, wenn ich versuchte, einen Witz zu machen. Ich glaube, die hielt meine Ironie stets für puren Ernst. Und wenn ich etwas ernst meinte, hörte sie nicht zu. Oder behauptete, das sei unverständlich, oder ich hätte ein selbst ausgedachtes Wort gebraucht, oder es sei aus dem Philosophielexikon geklaut. Beim Pinseln und Lauschen steigerte ich mich in eine Aversion gegen meine Mitbewohnerin hinein, ich geriet geradezu in Rage angesichts ihres Verhaltens, das mir latent schon lange auf die Nerven ging. Ganz zu schweigen davon, dass ich Geografie für überflüssig hielt, meinen Atlas hatte ich schon. Nur die Theorie mit der Verkehrswege-Kaskadierung war beeindruckend gewesen. Vielleicht tauschten sich Sabine und meine Mitbewohnerin über genau diese Theorie aus? Wobei ich mir wie selbstverständlich einredete, dass nur Sabine dieses anspruchsvolle Seminar belegte, während meine Mitbewohnerin irgendwas banal Einfaches wählen würde. So und dann rollte ich die Malerrolle zum letzten Mal, die Wand war fertig gestrichen. Nicht sehr ordentlich, scheiß drauf, ich wollte jetzt endlich wissen, was die in der Küche redeten. Die Plastikplane zog ich schnell vom Bett und dann das große Tuch vom Schreibtisch. Heute Abend könnte ich sogar im eigenen Zimmer lernen, aber ich würde es bestimmt nicht tun. Keine Lust und keine Notwendigkeit. Ich streifte die bekleckste Arbeitsjacke ab und ging in die Küche, um endlich zu sehen, wer dort alles versammelt war.
In der Tat staunte ich, denn Martin saß am Tisch, gemeinsam mit meiner geografischen Mitbewohnerin, außerdem Holger und Sabine. Zu allem Überfluss lehnte auch noch der Tennispartner von Holger am Herd. Der Tennispartner war ein Schwätzer und Martin kam eigentlich nie zu mir, denn ich ging immer zu ihm, wenn wir uns treffen wollten. Jetzt saß er am Tisch und trank Rotwein. Man hat mir empfohlen, dich nicht bei der Malerei zu stören, sagte er. Ich wollte dir helfen, die Schränke wieder zurechtzurücken. Mit Malen bin ich fertig, antwortete ich, Möbelrücken will ich erst morgen. Martin und Möbelrücken, das machte mich stutzig. Auf dem Tisch standen zwei leere Weinflaschen, am Fußboden noch eine, Mist, alles leer, oder hatte jemand geheime Vorräte im Zimmer? Man bemerkte meinen suchenden Blick. Der Wein ist alle, erklärte Martin, und dann mischte sich der Tennispartner ein, ob wir nicht alle noch in die „Schänke“ gehen wollten. Die Schänke konnte ich nicht leiden, genauso wenig, wie ich den Tennispartner leiden konnte, außerdem war es weit, viel zu weit, um mitten in der Woche noch schnell mal vorbeizuschauen. Dummerweise mischten sich beide Geografinnen ein, sie wollten da auch hin. Martin sagte nichts, aber er scheute sowieso keine Mühe, wenn es darum ging, in eine Kneipe zu gehen und außerdem brauchte er bestimmt nicht früh aufstehen, während ich um neun im Praktikum zu erscheinen hatte. Der Tennispartner fing an, von verschiedenen Biersorten zu erzählen. Englische Biere und Irish Pubs waren seine bevorzugten Gesprächsthemen, mit denen er mich ganz schnell vertreiben konnte. Ob wir denn mit dem Fahrrad hinfahren würden, fragte ich, aber Martin und meine Mitbewohnerin wollten zu Fuß gehen. Holger meinte, wenn Martin gerade hier sei, um mir zu helfen, sollten wir wirklich ein paar Möbel aus dem Flur in mein Zimmer schieben, damit endlich wieder etwas Ordnung einkehre und er nicht nochmal gegen den Schrank laufen würde, wenn er nachts aufs Klo müsse. Wollt ihr wirklich in die „Schänke“? fragte ich entnervt. Sabine war unerwartet entschlossen: Ja, unbedingt! Dann bleibe ich hier, sagte ich und sie beteuerte, dass sie das bedauere, erhob sich aber gleichzeitig, begann, ihre Klamotten zusammenzusuchen. Während sie sich anzog, schoben Martin und Holger mit mir den Schrank ins Zimmer und dann meinte Martin, den Rest würde ich bestimmt alleine schaffen. Wieso hatte er es denn so eilig, wenn er gekommen war, um mir zu helfen? Schon verschwanden sie alle, Sabine winkte von der Tür aus, nur Holger blieb, der packte noch ein paar kleinere Möbel, um sie mir in mein Zimmer zu tragen. Zu guter Letzt nahm er den Clubsessel, stellte ihn neben mein Bett und ließ sich hineinfallen. Vergiss Sabine, meinte er, sie sei undurchsichtig und außerdem würde sie schon in zwei Wochen fortziehen. Woher er das wissen würde? Das hätte sie in der Küche ausführlich erzählt. Die geografischen Verhältnisse an unserer Provinz-Universität würden ihr nicht mehr ausreichen. Martin hätte ihr dauernd Recht gegeben, dabei habe der mit der Universität gar nichts zu tun, aber die Provinz-Beschimpfer und Metropolen-Hochjubler seien ja allgegenwärtig. Holger war durchaus bodenständig, mit ihm konnte ich über all die Leute lästern, denen keine Stadt zu groß war. Vermutlich würde Holger nach dem Studium nicht nur heiraten, sondern auch zurück aufs Land gehen, um dort Lehrer zu werden, wo er selbst in der Schule gewesen war. Dass Sabine mir gegenüber nie verraten hatte, dass ihre Zeit schon fast abgelaufen war, traf mich sehr, das war eine empfindliche Kränkung. Und Holger wusste mehr als ich. Hätte ich mich doch nicht um die vergilbten Wände kümmern sollen, sondern lieber um Sabine selbst. Zwei Wochen? Da war ja eigentlich schon alles gesagt, was gesagt werden musste, und wenn ich irgendwas für sie bedeuten würde, hätte sie es mir erst recht mitteilen müssen, dass sie verschwindet, das war ja alles Verarschung, sagte ich und Holger meinte, er habe soeben Sabine zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hätte, sie sei sehr sonderbar gewesen, er wisse aber auch nicht warum, außerdem habe sein Tennispartner dauernd dazwischen gequatscht. Meinte er das ernst oder wollte er mich trösten? Ich schnorrte Holger mal wieder um Tabak an und drehte mir eine Zigarette. Nicht zu Rauchen angesichts dieser herben Enttäuschung erschien mir unangemessen. Ganz zu schweigen davon, dass der Wein alle war. Egal, ob die Zimmerwände jetzt strahlend weiß waren oder nicht, ich würde mir erstmal wieder einen Tabak kaufen. Holger spendierte mir dann noch einen Drink von einem 18 Jahre alten Whiskey, den er in seinem Zimmer versteckt hielt, das Geschenk des Opas zum Vorexamen oder sowas Ähnliches. Der Whiskey beruhigte mich. Ich fragte mich und Holger, ob ich vielleicht in einer Scheinwelt lebe, ob ich ein Opfer von Realitätsverlust sein könnte. So sicher war ich mir gewesen, dass da was dran sei, an diesem heißen Draht, den ich zu Sabine verspürte, aber jetzt sah es so aus, als wäre das nur Einbildung gewesen. Zwei Wochen, dann würde sie ihre Wohnung schon räumen, erst Exkursion, dann Praktikum und danach sollte es in Berlin weitergehen. Da lohnte es sich doch gar nicht, ihr noch hinterherzutelefonieren. Ich lasse sie abhauen und hoffentlich fragt sie nicht, ob ich beim Umzug helfen könne. Bloß das nicht.
6
Die Wände meines Zimmers waren nun also schön weiß, ich kaufte mir wieder regelmäßig Tabak und kümmerte mich erstmal nicht um den Vorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören. Aus Trotz ging ich ausgiebig trinken, meist mit meiner alten Bekannten Tina und dann, seit langen endlich mal wieder einmal auf ein Punkkonzert. Von Sabine hörte ich nichts und ich selbst vermied jede Kontaktaufnahme. Aber ich setzte mich an den Schreibtisch und dachte über das Drehbuch nach, das Drehbuch für den Film, bei dem alles falsch sein sollte. Ich würde selbst die Hauptrolle übernehmen, das war bestimmt falsch und es sollte auch eine Frau mitspielen, aber keine junge, sondern eine möglichst alte. Für die Kamera wollte ich nun nicht mehr Martin nehmen, er mit seinen fotografischen Ambitionen war zu gut. Ich brauchte jemanden, der sowas noch nie gemacht hatte, zum Beispiel Tina. Für sie, als Punk-Ideologin seit frühester Jugend sollte ein kreativer Ausflug in die Kunst der Bildgestaltung kein Problem sein. Sie wollte immer ein Musikinstrument lernen, hatte aber keine Geduld zum Üben, da bietet sich Filmemachen als Kompensation geradezu an. Schwieriger war es mit der alten Frau, wen sollte ich nehmen? Ich kannte keine alten Frauen. Zu professionellen Schauspielern hatte ich kaum Kontakte, das wollte ich auch gar nicht. Mir kam es so vor, als sei die Arbeit mit Laienschauspielern kreativer und authentischer als mit den mittelmäßigen Profis aus dem Provinztheater. Vielleicht war das aber auch nur wieder meine Verweigerungshaltung. Alles ablehnen, was reibungslos funktionieren könnte. Wenn alles funktioniert, dann steckt man fest in der künstlerischen Gestaltungsverantwortung. Wenn man Verantwortung tragen will, kann man ja auch Ingenieur werden, oder eine Firma leiten, womöglich beides. Da schienen mir die Unwägbarkeiten der Subkultur verlockender, ganz zu schweigen von dem Sympathievorschuss, der einem als Künstler im Allgemeinen entgegengebracht wurde. Aber etwas Inspiration und Arbeit musste man aufbringen und daran kämpfte ich gerade bis zur beginnenden Verzweiflung, weil ich mich immer noch nicht entscheiden konnte, was überhaupt passieren sollte. Vielleicht gar nichts? Stimmungsvolles Nichts füllte schon erfolgreich unzählige Künstlerfilme. Außerdem gab es auch noch die Idee mit dem Kommissar, der nicht ermittelt, sondern nur darüber jammert, dass der Fall unlösbar sei, und am Schluss verhaftet er sich selbst oder es wird das Verfahren eingestellt. Die Frau im fortgeschrittenen Alter könnte behaupten, ihr Mann sei ermordet worden, und dann taucht er plötzlich auf. Aber inzwischen hat sie sich soweit in Widersprüche verwickelt, dass niemand an ihre Unschuld glaubt. Außerdem wollte Martin unbedingt seine vielen Gummienten im Filme haben. Die exzessive Inszenierung der Gummienten erschien mir durchaus passend, solange sie keinerlei Beziehung zu der kriminalistischen Handlung eingehen würden. Zumal geplant war, den Film in Schwarzweiß zu drehen. Wenn gelbe Gummienten einen visuellen Schwerpunkt des Filmes setzen sollten, war das beliebte ORWO-Material aus der DDR unbedingt die falsche Wahl und so steckten schon einige eklatante Fehler in den Eckpunkten dieses Projektes.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits ein paar Rollen ORWO-Super-8-Material abgedreht, jetzt wollte ich den ersten Kurzfilm damit realisieren. Damals gab es Super-8-Filme in der Standardausführung von Kodak oder Agfa in jedem Fotoladen oder im Kaufhaus. Ich kaufte mir damals immer Dreierpacks, das waren gut 10 Minuten Film, die kosteten 40 Mark und die Entwicklung war im Preis inbegriffen. Wer 25 Jahre später mit der digitalen Videokamera herumfilmte, der konnte sich meist gar nicht vorstellen, dass man nur für die Aufnahme so viel Geld ausgeben musste. Diese Leute hatten aber auch die DDR verpasst, von der ich noch einiges mitbekam, obwohl ich im Westen aufwuchs. Die meisten Menschen interessierte es gar nicht, wie es da drüben aussah, außerdem bekamen sie das von den Medien ausführlich und kapitalismuskonform unter die Nase gerieben: Wie unerträglich der real existierende Sozialismus sei, so dass ihnen schon vor der Abfahrt der Spaß verdorben wurde. Alles traurig, hoffnungslos und grau, hieß es. Grau war es wirklich, aber traurig fand ich es keineswegs. Vielleicht lag das an meinen Verwandten, die schienen ganz normal zu sein. Die freuten sich, als ich als Student tatsächlich alleine zu ihnen kam. Vorher war es immer Familienbesuch gewesen, mit meinen Eltern, und Mutter musste die ganze Zeit meckern, weil sie immer meckerte, einerseits über den Fahrstil meines Vaters, andererseits über die Sozialisten, die uns alles wegnehmen wollten, sogar unsere schöne D-Mark, denn die Sozialisten kassierten sie in Form des Zwangsumtausches. Pro Person mussten täglich 25 wertvolle Westmark zum Kurs von Eins zu Eins in die nutzlose Ostmark getauscht werden, die wir nicht brauchten, da wir ja bei unseren Verwandten schliefen und von ihnen mit Bockwürsten und Bier durchgefüttert wurden. Dass man aber den Zwangsumtausch auch dazu benutzen konnte, Schwarzweiß-Super-8-Filme zu kaufen, das merkte ich erst, als ich alleine im Land war. Während ein Schwarzweißfilm im Westen gut das Doppelte eines Farbfilmes kostete, war das ORWO-Material nach offiziellem Umtauschkurs genauso teuer wie das Farbmaterial. Wenn man das Geld schwarz tauschte, waren diese Filme spottbillig. Oder sogar geschenkt, denn meine Verwandtschaft spendierte mir gleich einen Zehnerpack. So nett waren die. Das konnte ja nicht nur an dem bisschen Kaffee liegen, den ich als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Aber der Kaffee war der greifbare kleinste Teil einer großen Vision, die wohl darin bestand, dass die Menschheit von quälenden materiellen Sorgen befreit werden könne und diese Vision wurde auf mich, den Überbringer, projiziert, während ich wiederum die Vision hatte, dass die Nettigkeit meiner Onkels und Tanten ebenfalls Teil einer größeren Idee sei, die die Menschheit von ihren Materialismus befreien möge, da der Materialismus sowieso nicht zur Zufriedenheit führt und viel zu viele schädliche Nebenwirkungen hat. Das schlussfolgerte ich, weil ich meistens unzufrieden war, obwohl ich doch in der sagenumwobenen Bundesrepublik der ausgehenden 80er-Jahre lebte. In dieser Zeit an diesem Ort hatte man keine existentiellen Sorgen, außer der kleinlichen Angst, es könne einen atomaren, alleszerstörenden Krieg geben oder einen Bundeskanzler, der Franz Josef Strauss hieße. Die Vor-Wende-Bundesrepublik empfand ich intuitiv als gute alte Zeit. Es ging mir so gut, dass ich nur Selbstverwirklichungsprobleme hatte und wenn man mich gefragt hätte, ob ich auch im Osten leben könnte, dann wäre es mir sehr schwergefallen, mit Ja zu antworten, denn erstens gab es dort all die Schallplatten, die schon bei uns in der Provinz nur mit Mühe zu kriegen waren, überhaupt nicht, zweitens hatten die im Osten schlechte Zähne. Später wurde zwar manchmal behauptet, das Gesundheitssystem im Sozialismus sei gut gewesen. An den Zähnen der Durchschnittsbevölkerung konnte man das nicht ablesen. Auf der Straße traf man kaum jemanden, der ein hübsches Lächeln mit ordentlichen Zähnen bieten konnte und das Gebiss meiner Tante sah wirklich zum Fürchten aus. Das gefiel mir überhaupt nicht. Drittens war es im Westen inzwischen selbstverständlich, dass man als junger Mensch alleine in einem Zimmer leben durfte. Kein eigenes Zimmer für mich zu haben, schien mir in der Tat als nicht hinnehmbarer materieller Mangel. Wo, oder vielmehr wann sollte man denn in Ruhe onanieren, wenn man die Studentenbude mit einem Kommilitonen teilen musste? Mehrbettzimmer waren in den sozialistischen Studentenwohnheimen die Regel, naja, das hätte ich umgehen können, indem ich erst nach dem Diplom übersiedelte, was aber nie zur Debatte stand. Stattdessen ergab es sich, dass ich gar nicht mehr rüber durfte, was aber auch nicht schlimm war, da sich das ideologisch umstrittene Gebilde DDR etwas später unterwartet von alleine auflöste.
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Ich wollte mir einen Vorrat an ORWO-Filmen holen, mit schwarz getauschten Devisen. Das Drehbuch für den falschesten Film aller Zeiten war mit Martins Hilfe fertiggeworden, als Schauplatz war seine malerische Wohnung vorgesehen, die Frau im fortgeschrittenen Alter sollte seine große Schwester sein, die zwar nur 12 Jahre älter als er war, aber ziemlich spießig aussehen konnte. Schauspielerische Erfahrung fehlte ihr völlig. Das ist gut, sagten wir, sie wird sich überhaupt nicht bewegen müssen, alle ihre Dialogbeiträge werden vor einer Fototapete aufgenommen werden, während sie auf einem Stuhl sitzt. Der Gegenschuss wird aber ganz wo anderes gedreht, nämlich zwischen den langweiligen Nachkriegsaltbauten der Provinzstadt. Ich hatte beim letzten Rasieren darauf verzichtet, die Stoppeln unter der Nase abzuschneiden und hoffte darauf, ein Schnurrbart könnte mich für die Rolle des antriebslosen Kommissars geeignet aussehen lassen. Schnurbärte waren damals genauso out wie später.
Martin befand sich schon seit einer Woche in Berlin, er wollte dort wegen den Aufnahmebedingungen einer neuen Medienakademie Erkundigungen einholen und verriet mir nicht, wieso das eine ganze Woche dauern sollte. Ich wiederum war zu Hause in Süddeutschland zur ganz normalen Sparkasse gegangen und hatte dort offiziell Westgeld gegen Ostgeld getauscht, eins zu sechs. Das dürfen sie aber nicht in die DDR einführen, sagte mir der Bankangestellte und ich antwortete, dass ich das wüsste. Trotzdem war klar, was ich vorhatte, denn was sollte man mit DDR-Geld sonst machen? Um internationale Geschäftsbeziehungen über den Eisernen Vorhang hinweg zu beginnen, waren 350 Ostmark ja wohl auch etwas zu wenig. Das waren ein paar Scheine und die passten in den Fotoapparat. Dort, wo die Filmpatrone hingehörte, stopfte ich die zusammengefalteten Scheine hinein. Die eifrigen Grenzbeamten würden doch hoffentlich nicht meinen Fotoapparat öffnen, das hieße ja, dass sie den Film, der normalerweise drin sein sollte, belichten würden. Wobei ein Fachkundiger schon erkennen konnte, dass das Zählwerk auf Null stand und deshalb entweder gar kein Film vorhanden war, oder er war noch nicht eingefädelt und man würde durch das Öffnen des Deckels auch nichts zerstören. Trotzdem hielt ich dieses Versteck für supersicher, zumal ich in Berlin-Friedrichstraße als Tagestourist rüber gehen wollte, da gab es keine obligatorischen Durchsuchungen wie bei der Einreise mit dem Auto.
Also packte ich den Rucksack und ließ mich zur Autobahnraststätte bringen, damit ich dort lostrampen konnte. Damals machten das noch viele und speziell auf der Route nach Berlin standen oft viele Gruppen und Einzelpersonen mit ihren Pappschildern. Aber wenn man dann endlich jemand hatte, der einen mitnahm, kam man gleich bis ans Ziel, da so gut wie niemand die Transitstrecke verließ. Von Bayern aus war es die längste Strecke, die schier endlos über die holprigen Betonpisten der DDR-Autobahnen führte. 100 km/h als strikte Geschwindigkeitsgrenze, da konnte man lange Gespräche führen. Über die DDR, übers Trampen, über Geschwindigkeitskontrollen, über andere Tramper und andere Autofahrer, über Wartezeiten und Raststätten. Eigentlich immer das gleiche Blabla. Obwohl ich früher oft auf diese Weise unterwegs war, kann ich mich nur an wenige Fahrer erinnern, meist an die schrägen Typen, aber auch das nur vage. Die meisten, und das waren die weitgehend normalen, sind völlig aus der Erinnerung verschwunden. Später, als ich ab und zu selbst mit dem Auto fuhr und mich bei der Menschheit revanchieren wollte, gab es keine Tramper mehr, obwohl ich oft an den Raststätten rausfuhr, ohne eigentlich halten zu wollen. Nur mal schauen, ob jemand mitwill. Eine simple, aber funktionierende Methode, damit Leute zusammenfinden, deren Interessen sich ergänzen. Vermutlich zu einfach. Trampen war plötzlich nicht mehr angesagt, niemand wollte mehr anhalten. Mitfahrzentralen übernahmen den Markt, bis es ihnen an den Kragen ging, denn eines Tages drehte die Bahn durch und schmiss für extrem wenig Geld die erste Version des Wochenendtickets auf den Markt. Sieben Personen durften zwei Tage lang im ganzen Bundesgebiet die Nahverkehrszüge nutzen, für lachhafte 25 Mark. Bloß weil es sensationell billig war, fuhren sie alle hin und her, kreuz und quer durchs Land oder sonst wohin. Trampen war nicht billig, es war ganz umsonst, trotzdem verschwand es als Verkehrssystem. Aber es verschwanden ja ganze Länder, so wie die DDR, deren Durchquerung auf der Transitstrecke zwar endlos erschien, aber schließlich näherte man sich dann doch der geheimnisumwitterten Mauerstadt Berlin. Nochmal eine Grenzkontrolle an einer riesigen Station und dann kamen wir zur Raststätte Dreilinden, der Westen hatte mich wieder. Mein Fahrer nahm mich mit bis zum Kaiserdamm und empfahl mir die U-Bahn.
Martin hatte eine Übernachtungsmöglichkeit bei einem Freund im Wedding. Dort sollte auch ich schlafen. Damals fand ich die schmuddeligen Treppen der Hinterhäuser und Seitenflügel mit ihren kaputten Briefkästen noch ziemlich aufregend. Oder verwahrloste Mülltonnenabstellplätze. Billige Negation, opportunistische Antihaltung. Aber Florian, der sowieso nur Untermieter und erst vor drei Monaten nach Berlin gekommen war, sah das ganz unideologisch und pragmatisch. Er hatte mit Martin und mir am Tag nach der Filmpremiere Nudeln gekocht. Berlin-Neulinge landeten oft zunächst im Wedding. Auch Martin könnte, sofern er einerseits mit seiner Aufnahmeprüfung erfolgreich wäre und andererseits Florian wie geplant im Herbst in eine Kreuzberger Loft-WG rein käme, die Tradition fortsetzen, indem er Florians Wohnung übernähme. Das tat er dann, als es soweit war, nicht und zwar aus einem anderen Grund, der mir gar nicht passte, aber als wir abends wieder bei Nudeln mit Tomatensoße zusammensaßen, erzählte Martin begeistert von der privaten Akademie für Digitale Künste, die ja ganz neu gegründet worden war, weil sich alle anderen Akademien und Kunsthochschulen viel zu wenig um die Digitalität kümmern würden. Digitalität sei eine Revolution und wird Türen öffnen, die man jetzt noch gar nicht kennt, sagte Martin mit einer Begeisterung, die ich bei dem alten Kiffer gar nicht erwartet hatte. Wie üblich musste ich widersprechen. Es sei doch die Digitalität grundsätzlich etwas sehr Banales, nur eine andere Art der Beschreibung, durch die zweifellos manche technische und speziell mediale Prozesse vereinfacht werden könnten, aber die analoge Welt bot doch Lösungen für so gut wie alle Probleme. Hervorragende Lösungen, wie Röhrenverstärker und 35mm-Film, 8-Spur-Tonbandmaschinen und meine geliebte Schreibmaschine. Die meisten dieser hervorragenden analogen Lösungen konnten wir uns allerdings nicht leisten. Deshalb war ich angereist, wegen den billigen analogen Super-8-Filmen aus dem Osten, die wirklich einen ziemlich minderwertigen Ersatz darstellten, für das unerschwingliche professionelle Filmmaterial. Nichtsdestotrotz hielt ich dieses Medium in seiner Beschränktheit allen digitalen Spielereien überlegen. Das glaubte ich damals tatsächlich, was man rückblickend als naiv ansehen könnte, aber es waren ja wirklich nur ganz wenige Menschen, die den zunächst schleichenden Entwicklungsprozess der digitalen Informationstechnik in seiner Bedeutung richtig einschätzten. Ich gehörte nicht zu ihnen, aber da Martin mein Freund war, kannte ich also immerhin jemanden, der es schon recht früh kapiert hatte, während ich mich an meine Schreibmaschine klammerte und jahrelang behauptete, dass sie mir bei der Ausformulierung meiner vermeintlich kreativen Gedanken die beste Gefährtin sei. Dass ich sie auch auf einer einsamen Insel benutzen könnte, oder im Wald. Inzwischen ist die Hälfte meines Lebens rum, aber es hatte sich nie die Gelegenheit ergeben, dass ich auf einer einsamen Insel oder im Wald eine Schreibmaschine gebraucht hätte. Dafür sitzen dort inzwischen die Typen mit ihren Smartphones und Tablets. Damals, als wir im Wedding bei Florian diskutierten, widersprach ich Martin bei vielen seiner Thesen, an die ich mich im Detail gar nicht erinnern kann. Er erging sich in Visionen einer erweiterten Kommunikation, während ich von sozialen Netzwerken redete und damit etwas ganz anderes meinte, als heute mit dem Begriff verbunden wird. Schließlich kreiste dann doch noch ein Joint und das Gespräch drehte sich dabei um diverse Bars und Kieze, was mich schläfrig werden ließ. Ich rollte den Schlafsack aus, damit ich am nächsten morgen früh nach Ostberlin käme und eventuell gleich am Nachmittag zurücktrampen könnte. Mitkommen wollte Martin nicht, er konnte die Sozialisten nicht leiden, außerdem musste er was Wichtiges erledigen. Dass alle, die sich in Berlin aufhalten, permanent was Wichtiges zu erledigen haben, begriff ich erst, als ich dort wohnte. Damals dachte ich noch, es sei wirklich wichtig und machte mich nach dem Frühstück auf den Weg zum Bahnhof Friedrichstraße.
Langsam stieg meine Nervosität, obwohl ich mein Vorhaben in keiner Weise als kriminell oder moralisch fragwürdig ansah. Aber die Humorlosigkeit der DDR-Grenzer flößte mir durchaus Respekt ein. Vielleicht zu viel, denn es muss wohl meine Körpersprache gewesen sein, die die Aufmerksamkeit auf mich lenkte, so dass man mich bei der Einreise aus der langen Schlange der Wartenden herauspickte und sorgfältig untersuchte. Nicht nur mein Portemonnaie, sondern auch noch die Jacke und der Rucksack wurden durchstöbert. Natürlich nahm der Grenzer auch meinen Fotoapparat in die Hand, schenkte ihm jedoch keine weitere Beachtung. Anders war es mit der zusammengefalteten Fotokopie, die er in der Innentasche meiner Jacke entdeckte. Er faltete sie auf, runzelte die Stirn. Was das sei, fragte er mich. Ach du Schreck, ich wusste es auch nicht! Erst, als er mir den Zettel zum Lesen hinhielt, sah ich, dass es eine Seite aus meinem Drehbuch war. Ich war mit ein paar kopierten Seiten zu Martins Schwester gefahren, um mit ihr den Dialog zu besprechen. Dass eine Seite in der Jacke geblieben war, hatte ich gar nicht bemerkt. Jetzt stand ich da, ertappt als einer, der womöglich Propagandamaterial ins gelobte sozialistische Land hineinschmuggeln wollte. Das Wort Drehbuch lag mir schon auf den Lippen, doch ich verkniff es mir gerade noch. Wer Drehbücher schreibt, macht sich verdächtig, dachte ich, bestimmt waren die Grenzbeamten darin geschult, wer welche unlauteren Absichten in ihrem Land hegte und mein Vorsatz, mir durch Devisenkriminalität das wertvolle Filmmaterial zu ergaunern, das eigentlich dafür vorgesehen war, den verdienten Urlaub der Werktätigen und ihrer Familien zu dokumentieren, wäre leicht zu erraten, wenn ich ein Drehbuch in der Tasche stecken hätte. Theater, stotterte ich, ja, das war die richtige Idee, wer Theater spielt, braucht kein Filmmaterial und muss als potentieller Brecht-Fan ab und zu dringend nach Ost-Berlin. Das ist der Entwurf eines Theaterstückes, das wir in unserer Laienspielgruppe aufführen möchten, in Süddeutschland, erklärte ich. Das habe ich selbst verfasst, ich versuche mich als Schriftsteller. Der Grenzer schaute mich streng an, dann warf er einen langen prüfenden Blick auf den Text. Welche Seite des Drehbuchs war das überhaupt? Er blickte nochmal in meinen Reisepass. Hier in dem Text steht was von einer U-Bahn, wo ist die? In der Stadt, in der sie wohnen, gibt es keine U-Bahn. Das stimmte, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. War der Grenzkontrolleur im vorigen Leben Literaturprofessor oder Geograf gewesen? Wieso wollte der das so genau wissen? In Nürnberg gibt es eine U-Bahn, die ist ganz klein, aber es gibt sie, und Nürnberg ist gar nicht weit weg, also … unsere Laienspielgruppe probt in Nürnberg, manchmal. Oh Gott, der musste doch merken, dass ich nur phantasierte. Warten sie hier, sagte er und verschwand nach hinten.
Das ging ja gut los. Vor mir lag mein leerer Rucksack, daneben der Fotoapparat. Den hätte ich gerne weggesteckt, aber das durfte ich bestimmt nicht. Hinter dem Tresen, in einigen Metern Abstand, stand noch so ein strenger Grenzbeamter und fixierte mich. Links und rechts von mir wurden ab und zu weitere Touristen aus der Reihe herausgewunken und mussten ihre Taschen ausleeren. Aber da gab es wohl nichts Verdächtiges. Während ich noch wartete, packten die anderen ihren Kram wieder zusammen und gingen weiter, unbehelligt. Schließlich kam mein Grenzer zurück, drückte mir den Zettel in die Hand und meinte, es sei wohl doch eher privater Natur, aber ich solle bedenken, dass die Einfuhr von Schriftstücken, Zeitungen und Büchern gesonderten Regelungen unterliege und ich solche literarischen Werke in Zukunft zuhause lassen solle. Danke für die Belehrung. Ich ärgerte mich über meine Nachlässigkeit, schließlich war ich in geheimer Mission unterwegs, wieso hatte ich diesen Zettel gar nicht bemerkt?
Jetzt erschien mir mein Rucksack verdächtig. Es war ein grüner Segeltuchrucksack mit Ledergurten, der ohne Inhalt unauffällig und klein an meinem Rücken hing. Als ich dann im großen Kaufhaus am Alexanderplatz 25 Filmkassetten hineinsteckte, blähte er sich zu einer großen Kugel auf. Viel zu groß für einen Tagestouristen mit lauteren Absichten. Aber trotzdem war ich entschlossen, die Sache durchzuziehen. Was sollte ich denn auch sonst mit meinem schwarz getauschten Geld anfangen? Es blieb sogar einiges übrig und ich vertrödelte die Zeit auf der Karl-Marx-Allee, ging essen, trank schlechten Kaffee und kaufte mir ein blaues Lederportemonnaie. Dann zurück zum Bahnhof Friedrichstraße, wo ich mich gegen Mittag in die Schlange einreihte. Jetzt war hier viel los, jede Menge Menschen wollten rüber in den Westen. Wieder wurden die meisten ohne Prüfung des Gepäcks zur Passkontrolle durchgewunken, wieder wählte man stichprobenartig einzelne Personen aus, die genauer kontrolliert wurden, wieder fiel die Wahl auf mich. Das konnte doch nicht wahr sein! Aber es war offensichtlich passiert, sie hatten mich herausgepickt. Machen sie mal ihren Rucksack auf, sagte der Grenzer und da musste ich ihm meine Schätze zeigen. Die vielen Filme waren sehr verdächtig und meine Quittung vom Geldumtausch, die ich vorlegen konnte, wies nur den Mindestbetrag von 25 Mark aus. Kommen sie mit! sagte er mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch zuließ und brachte mich in ein spartanisches Kämmerlein mit vergittertem Fenster.
Er deutete auf einen Holzstuhl in der Ecke neben dem Fenster, auf den ich mich setzen und warten solle. Dann schloss er die Tür und ließ mich allein zurück. Den Rucksack, meine Reisedokumente, Portemonnaie, Kalender und Notizheft hatte er an sich genommen. Da saß ich ganz verwirrt und wenn ich mich erhob, was ich mich kaum traute, konnte ich vor dem Fenster die Menschen sehen, die sich auf den Tränenpalast zubewegten. Die wirkten alle unbeschwert, ganz im Gegensatz zu mir. Jetzt hatte mich die böse Staatsmacht festgesetzt. Was konnten die mir, als Abgesandten aus dem freien Westen, antun? Eigentlich nicht viel, oder doch? Konnten die mich in ihre schaurigen Ost-Gefängnisse einsperren, und wenn ja, wie lange? Nein, das war doch eine reine Angstphantasie, aber die würden mir die Filme wegnehmen und dann stand ich da, was aber auch nicht so schlimm wäre, denn für den kleinen Provinzfilmemacher wäre das ja eine Sensation, wenn man von höchster politscher Stelle aus meine Dreharbeiten blockierte, das verliehe mir eine Bedeutung im deutsch-deutschen Kulturkampf, der weit über die ästhetische Belanglosigkeit meines filmischen Werkes hinausreichte. Aber von höchster politischer Stelle konnte keine Rede sein, ich hatte mich zwar an einen Brennpunkt zwischen den Systemen vorgewagt, aber trotzdem war ich nur ein unbedeutender Student, der von einem ebenso unbedeutenden Grenzbeamten erwischt worden war.
Als er wiederkam, sah ich ihn überhaupt erst einmal bewusst an. Nicht jung, nicht alt, nicht groß, nicht klein, ein bisschen dicklich, blaue Augen, die übliche hässliche Metalldrahtbrille und etwas schiefe Zähne. Später würde ich so ähnlich aussehen, aber das wusste ich damals nicht und außerdem würde ich keine Metalldrahtbrille, sondern eine schwarze Intellektuellenbrille und erst recht nicht diese unsympathische graugrüne Uniform tragen, auch keine andere Uniform. Jetzt setzte sich der Grenzbeamte auf den zweiten Stuhl, zwischen uns das kleine Tischchen und begann mit der ersten Befragung. Wo die Filme herkämen. Aus dem Kaufhaus, Quittung war vorhanden. Wo das Geld herkäme. Hat mir mein Cousin gegeben. Wie heißt der? Wo wohnt der? Ich nannte Namen und den Ort. Das ist ja weit weg von Berlin und wieso gibt er ihnen so viel Geld? Weil ich ihm Kaffee aus dem Westen mitgebracht hätte. Für ein Päckchen Kaffee so viele Filme und dann fährt er bis nach Berlin? Er unterstützt meine künstlerischen Aktivitäten, der ist wirklich nett. Das darf er nicht, Devisenvergehen. Mein Cousin ist ein braver Bürger und Sozialist, ich habe ihn angestiftet.
Mir wurde immer mulmiger, denn der Grenzer glaubte mir diese Ausreden überhaupt nicht, außerdem: womöglich bekam meine liebe Ostverwandtschaft echte Probleme, wenn ich sie da hineinzog, und die mussten ja hier bleiben, mich würden sie bestimmt irgendwann wieder nach Hause lassen. Der Grenzer war korrekt, aber unerbittlich, immer wieder kam er mit den Fragen, die mich in Bedrängnis brachten und schließlich hielt ich es nicht mehr aus, da bekam er mein Geständnis. Schwarz getauschtes Geld, illegal ins Land geschmuggelt und mit meiner lieben Verwandtschaft hatte das gar nichts zu tun. Da schaute er mich an, als hätte er es schon immer gewusst und so war es wohl auch, denn er breitete meinen Terminkalender vor mir aus und zeigte mir meine eigene Notiz: 58 DM für Ostgeld stand da. So ein Mist! Was war ich für ein Idiot! Wieso hatte ich mir das eigentlich aufgeschrieben, so dämlich kann man doch nicht sein, aber ich war es, zweifellos.
Doch er ließ mir gar keine Zeit, mich über meine Dummheit aufzuregen, er machte mit den Fragen weiter, die der Auswertung meines Terminkalenders dienten, während ich, enthemmt durch das befreiende Geständnis und getrieben durch den Wunsch nach Selbstbezichtigung, keinerlei Widerstand mehr leistete, sondern geradezu geschwätzig über alle Aspekte meines Lebens, die irgendwie einen Niederschlag im Terminkalender gefunden hatten, Auskunft gab. An die Details konnte ich mich später nicht mehr erinnern, aber es ging aus unerfindlichen Gründen auch um Kriegsdienstverweigerung und mein Ingenieurstudium. Naja, dass ich mich, obwohl nur wehruntauglich, als Verweigerer des militanten West-Imperialismus zu positionieren versuchte, ging ja in meiner misslichen Situation zweifellos als harmlose Schleimerei durch. Wieso sich der Grenzer das alles anhörte, war mir zu dem Zeitpunkt nicht klar, aber er verließ mich zwischendurch noch zweimal und ließ mich alleine in der Stube schmachten. Da wunderte ich mich durchaus, was die alles von mir wissen wollten, aber als er zum dritten Mal erschien, meinte er, dass die Chefs mit mir reden wollten und jetzt hätten sie Zeit für mich. Bei der Gelegenheit gab er mir meine Reisedokumente zurück, auch den Kalender und den Rucksack, allerdings ohne die Filme und das blaue Portemonnaie. Das stimmte mich optimistisch, irgendwie aus dem Schlamassel herauszukommen.
Erst recht, als man mich in ein holzvertäfeltes Zimmerchen mit einer für DDR-Verhältnisse geschmackvollen Sitzgruppe führte. Dort begrüßten mich zwei Herren. Einer im gleichen undefinierbaren mittleren Alter wie der Grenzer, der andere etwas jünger und eine recht sympathische Erscheinung, das Wort „schneidig“, das ja keiner mehr benutzt, passte bei ihm gut. Die beiden trugen keine Uniform, sondern Hemden mit Schlips und Sakko. Dann boten sie mir zu meinem Erstaunen Zigaretten an, Cabinet, was gut zu dem fensterlosen Raum passte. Ich solle mal erzählen, forderte man mich auf. Ich fand das merkwürdig, aber wenn sie sich das wünschten, konnte ich ihnen behilflich sein und bestimmt würden sie sich freuen, wenn ich meine unzusammenhängende Geschichte mit Kritik am Westen und Sympathie für den Osten würzte: dass ich einerseits studieren würde, um Ingenieur zu werden, andererseits wenig Gefallen am gut geschmierten Produktionsmechanismus des Kapitalismus hätte, dass ich mich als Filmemacher kritisch mit dem System auseinandersetzen würde, dass ich meine kleinen Devisenvergehen nicht als Affront gegen den Arbeiter- und Bauernstaat sähe, sondern als opportunes Hilfsmittel für meinen mit künstlerischen Mitteln ausgetragenen Klassenkampf, dass ich ab und zu demonstriere, allerdings gegen Atomkraftwerke, die der Sozialismus auch noch nicht abgeschafft hätte, dass meine Mutter im Westen lebe, aber manchmal „Ein Kessel Buntes“ im DDR-Fernsehen anschaue, weil sie das besser fände als das viele Gequatsche in unserem Fernsehen. Ich erzählte also jeden unbedeutenden Mist, sofern er ansatzweise der Wahrheit entsprach und meine Sympathie für die DDR zu belegen schien. Meine Gesprächspartner waren wirklich geduldig, was diese langatmigen Ausführungen anging, aber der schneidige Herr konfrontierte mich dann doch mit der berechtigten Erkenntnis, dass meine Aktivitäten recht beliebig seien. Um gegen das System vorzugehen, brauche man einen Gegenentwurf, ein Alternativsystem, denn einfach „dagegen sein“, das bringe nichts, das sei bloße Polemik. Ich schaute ihn groß an. Mir schien, als hätte er recht, als hätte er genau den wunden Punkt meines diffusen nonkonformistischen Mainstreamverweigerungsgezappels erkannt. Aber meine Hoffnung, ich würde noch mehr konkreten Erkenntnisgewinn aus der Unterhaltung ziehen, erfüllte sich nicht, denn er lenkte das Gespräch auf mein Studium und auf die Forschungsprojekte am Institut, was mich doch überhaupt nicht interessierte. Und er benutzte dabei zum zweiten Mal die Redewendung „Wir können ja in Kontakt bleiben.“ Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die wollten mich zu einen Stasi-Mitarbeiter machen und während das Gespräch sich um die langweiligen Uni-Gegebenheiten drehte, kristallisierte sich immer mehr heraus, worin das Missverständnis bestand. In meinem Terminkalender gab es unter anderem eine Notiz, die sich auf einen der wichtigsten bundesdeutschen Rüstungskonzerne bezog. Der Grenzbeamte hatte gedacht, dass ich dort ein Vorstellungsgespräch für ein Praktikum führen wollte, in Wirklichkeit war es nur eine Exkursion gewesen. Klar, das wäre ein Schnäppchen für die Stasi gewesen, wenn sie mich bei einem kleinen harmlosen Schmuggelversuch abgreifen und dann gelingt es mir, als Ingenieur bei der Waffenschmiede der Nation zu arbeiten. Aber daraus würde nichts werden, die nehmen mich doch gar nicht, weil ich nicht bei der Bundeswehr war, sagte ich. Ich weiß noch gar nicht, ob ich wirklich so richtig als Ingenieur arbeiten will. Das brachte den Stasi-Mann gar nicht aus der Ruhe, er betonte vielmehr, dass ich ja gerade dann, wenn ich ein alternatives Leben führen wollte, so einen kleinen Nebenverdienst zu schätzen wissen würde, der sich aus unserer Zusammenarbeit ergeben könnte, wenn wir „den Kontakt aufrechterhielten“ und meinen Freund, der nach Berlin ziehen würde, den könnte ich ja öfter mal besuchen und dabei würden sie mich unterstützen, na ja, nicht unbedingt mit Flugtickets, aber die Bahnfahrt wäre schon drin. Mannomann, die meinten das ja wirklich ernst! Aber die mussten doch sehen, dass ich völlig unfähig war. So stümperhaft, so dilettantisch, wie ich mich angestellt hatte, was sollte ich da für einen Nutzen für sie bringen? Oder verstanden sie sich doch als Kunstmäzene?
Wir müssen zum Ende kommen, dachte ich mir und rückblickend tat ich das einzig Sinnvolle: Ich sagte, dass ich etwas getan hätte, was falsch gewesen sei, doch dabei solle es bleiben, ich müsse mich jetzt dafür verantworten, aber ich wolle mich nicht noch in weitere Schwierigkeiten hineinmanövrieren. Zuletzt traute ich mich sogar, darum zu bitten, die Filme mitnehmen zu dürfen. Da doch das Filmprojekt schon geplant sei und ich das Material dringend brauche. Da holten sie tatsächlich eine Tragetasche, voll mit meinen Filmen und dem blauen Portemonnaie. Die gaben sie mir und wiesen darauf hin, dass ich bei meiner nächsten Einreise in die DDR erst einmal eine Geldstrafe begleichen müsste. Aber die Ausreise war gratis, die Filme waren bei mir, das Bewerbungsgespräch beendet. Ein Grenzer geleitete mich durch einen langen Flur, öffnete eine Tür und ich stand plötzlich inmitten der vielen Menschen, die sich von der Passkontrolle zum Bahnsteig bewegten, dann hinein in die S-Bahn und schon war ich im Westen.
Ich schaute auf die Uhr. Es ging gegen fünf. Hatte ich wirklich über drei Stunden im Tränenpalast verbracht? Offensichtlich schon. Es kam mir vor wie ein wirrer Traum, den ich aber nicht abschütteln konnte, er saß fest im Bewusstsein, während die Stadt an mir vorbeiglitt und ich schließlich durch die traurigen Straßen im Wedding ging, um Martin von meinem Erlebnis zu berichten. Der würde staunen, was ich alles auf mich nahm, um unseren Film zu drehen. Doch er staunte gar nicht, denn er war nicht da und Florian auch nicht. Niemand war da. Ich hockte in dem verranzten Weddinger Treppenhaus vor der verschlossenen Tür und wartete, dass jemand käme, der sich meine Geschichte anhören wollte. Waren sie alle bei ihren wichtigen Terminen? Ich fand es unerträglich, alleine dazusitzen und warten zu müssen.
Die Straßen rings um Florians Wohnung erwiesen sich als nichtssagend oder quälend hässlich, die Dönerbuden als unappetitlich und die Cafés waren voll mit Asozialen. Trotzdem entschied ich mich nach langer Ratlosigkeit für eine türkische Pizza, die nicht schmeckte, doch als ich danach zurück zu FloriansWohnung ging, öffnete er mir die Tür. Endlich jemand, der meinem extrem erhöhten Mitteilungsbedürfnis Linderung verschaffen konnte. Da es inzwischen schon spät war, bot mir Florian an, nochmal bei ihm zu schlafen. Martin habe sich ja eh abgemeldet, weil er bei seiner Freundin übernachten würde. Ach so? Dass Martin eine Freundin hatte, war mir gar nicht bekannt. Florian schob mir einen Zettel mit einer Telefonnummer hin, da könne ich Martin erreichen, und er hätte darum gebeten, ihm mitzuteilen, ob meine Mission geklappt hätte. Eigentlich war ich davon ausgegangen, Martin würde sich mit mir nach diesem Abenteuer ausgiebig betrinken, aber so wie Florian klang, ging es nur darum, Bescheid sagen und dann zügig nach Süddeutschland abzureisen.
Was ich dann auch machte, denn nachdem ich die Telefonnummer gewählt hatte, meldete sich völlig unerwartet Sabines Stimme. Ja, das sei ihre Nummer, die Telefonnummer, die zu ihrer Wohnung gehöre, wobei die Wohnung ziemlich klein sei, sie hoffe, noch etwas Besseres zu finden, aber immerhin sei es nicht im Wedding. Ob ich Martin sprechen wolle. Da hatte sie mich wirklich überrascht, es fiel mir nichts ein, außer Ja zu sagen und während ich dann Martin am Telefon hektisch und wirr erzählte, was vorgefallen war, versuchte ich gleichzeitig die Tatsache zu verarbeiten, dass Florian gesagt hatte, Martin sei bei seiner Freundin, gleichzeitig war er bei Sabine. Wenn A gleich B und B gleich C, dann ist A auch gleich C, oder etwa nicht? Logische Schlussfolgerung: Sabine war die Freundin. Oder hatte ich irgendwas verwechselt, gab es da noch andere Erklärungsmöglichkeiten? Alternativlösungen außerhalb der gängigen Logik? Während ich nach diesen Lösungen suchte, erzählte ich gleichzeitig von der Stasi und meinen Super-8-Filmen, das war ein extremer Gedankenstress. Als ich dann mit meiner Geschichte zum Ende kam und Martin mitteilte, dass sie mir die Filme zurückgegeben hätten, da sagte er nur „Wahnsinn“, dann schwiegen wir beide. Sollte ich fragen, ob Sabine seine Freundin sei? Ich tat es nicht, ich sagte, dass ich morgen früh nach Hause fahren würde, ob wir uns noch sehen würden? Vermutlich nicht, es sei zu erwarten, dass er nicht so früh aus dem Bett komme. Schon klar, dachte ich mir, er will mit Sabine also auch nach dem Aufwachen ficken, Mist. Vermutlich sei ich schon weg, wenn er kommen würde, fügte er hinzu, und ich fragte mich im Stillen, ob ich dies als Aufforderung verstehen sollte. Vermutlich ja, und deshalb sagte ich einfach OK, Gute Nacht, bis in einer Woche, Tschüss und legte auf.
Florian entkorkte gerade die Weinflasche. Auf meine Frage, ob Sabine Martins Freundin sei, antwortete er mit Ja, die würde ich doch kennen, die war damals auch auf der Premierenfeier bei Martin und danach sei es ziemlich schnell gegangen. Bei mir ging es auch ziemlich schnell: Mich zu betrinken. Florian hatte drei Flaschen Wein da, vermutlich trank ich zwei oder ein bisschen mehr davon, er den Rest und am nächsten Tag stand ich verkatert am Straßenrand und trampte nach Hause.
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Es folgte eine öde Zeit. Zwar gelang es mir, mit der Rückbesinnung und einigen älteren Filmen mehrere Filmvorführungen in Jugendzentren, Kulturkneipen und Off-Kinos durchzuführen, außerdem lief die Rückbesinnung auf einem coolen Super-8-Open-Air-Festivals, aber mir schien, als verpuffe die Energie, die ich aus diesen Vorführungen schöpfte, gleich wieder, weil mir der falsche Film viel Mühe machte. Von Anfang an liefen die Dreharbeiten nicht so gut, wie erhofft und dann gefiel der fertige Film niemandem so richtig. Mir auch nicht. Meine Freunde, die so besessen von der Idee gewesen waren, verschwanden einer nach dem anderen aus meiner Universitätsstadt. Nachdem Martin erfuhr, dass er die Aufnahmeprüfung für die Akademie der digitalen Künste bestanden hatte, zog er innerhalb weniger Wochen nach Berlin, wo Sabine sowieso schon war. Achim fiel durch eine halbwegs wichtige Prüfung und schimpfte hinfort auffällig oft über die schlechten Studienbedingungen. Ein Semester später machte auch er sich auf den Weg nach Berlin. Dort, so sagte er zum Abschied, würde er als Studienabbrecher weniger auffallen, wenn es schlecht liefe, oder für den Fall, dass er das nutzlose Studium der Theaterwissenschaft bis zum Abschluss durchhielt, viele Möglichkeiten finden, hochqualifiziert in unbezahlten Kulturklitschen abzutauchen. Holger hatte zwar noch sein Zimmer in meiner WG, aber da er ein Referendariat machte, sah ich ihn oft Wochen lang nicht. Ich selbst hatte nach den Dreharbeiten für den falschen Film bereits mit den Vorbereitungen für die Diplomarbeit begonnen. Dadurch verbrachte ich mehr Zeit an der Universität und mit meinen Studienkollegen, die mit ihrer Vorliebe für handfeste Witze wenig an meiner konzeptuell motivierten Filmidee interessiert waren. Ich gab dem Werk den sperrigen Titel „Der falsche Mann zur falschen Zeit im richtigen Film“. Das machte es aber leider auch nicht wett, und so musste ich mir eingestehen, dass ich das künstlerische Niveau der „Rückbesinnung“ nicht erreicht hatte. Bisher war es mir gelungen, immer an die Qualität der Vorgängerfilme anzuschließen oder sogar besser zu werden. Vom „Falschen Film“ konnte man das nicht sagen. War die Idee eine Schnapsidee gewesen? Hatte ich zu viel auf die Ratschläge der anderen gehört, oder zu wenig? Hätte ich lieber Martin Kamera machen lassen sollen? Oder war ich überfordert, weil ich viel zu oft daran dachte, dass ich den Film hinter mich bringen sollte, um dann endlich mit der Diplomarbeit anzufangen? Nach dem Diplom würde es vielleicht gar nicht mit den künstlerischen Kurzfilmen auf Super-8 weitergehen, das war eine Schreckensvision, die mich einschüchterte.
Als die Premiere stattfinden sollte, war Martins Wohnung schon geräumt, darum kam ich auf die Idee, ich könnte die Premiere in dem Szene-Kino durchführen. Aber das war eigentlich zu groß, es wurde nicht voll, 200 Sitzplätze sind eben doch eine ganze Menge und die Leinwand war doppelt so groß, wie die Projektion meines Super-8-Bildes. Im Kino tranken die Leute auch nicht viel, zumindest nicht vor dem Film. Das wirkte sich alles auf die Stimmung aus. Es war es eine recht uncoole Veranstaltung, die bei mir das Gefühl einer verpassten Chance zurückließ, aber keineswegs zur Stärkung des Selbstvertrauens diente.
Die hätte ich aber durchaus gebrauchen können, da die Diplomarbeit mit einigen technischen Schwierigkeiten begann, mit Motivationsproblemen weiterging und in totaler Verunsicherung ihr Ende fand. Zum Glück widerstand ich allen Anfechtungen. Nervlich zunehmend zerrüttet wurschtelte ich mich durch entsetzlich lange neun Monate. Der betreuende Professor quälte mich mit etlichen gutgemeinten Ratschlägen. In schlimmen Momenten spielte ich mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen und auf das gesamte Diplom zu verzichten. Das wäre so kurz vor dem Ende des Studiums der totale Irrsinn gewesen, aber ich dachte mir, wenn ich der Welt zeigen will, wie sehr ich unter der Wissenschaft leide, dann kann ich das ja tun. Ich tat es nicht, raffte mich immer wieder auf und schleppte mich ins Institut, wo ich dann recht motivationslos weiterforschte, was vermutlich nicht nur mich, sondern auch den Professor frustrierte. Schließlich trat er die Flucht an und flog zu einem Auslandsaufenthalt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich unermüdlich über den Abgabetermin hinaus weitergemacht und gewartet, bis er zurückkommt, um ihm die letzten Korrekturen auf einem silbernen Tablett zu servieren. Aber danach stand mir der Sinn überhaupt nicht. Wenn er verschwindet, warum sollte ich nicht auch abhauen? Inzwischen hatten nicht nur meine Filmfreunde, sondern auch die meisten der Mitstudenten meines Jahrganges die Stadt verlassen. Ich hatte mit der Diplomarbeit spät begonnen und sie zog sich länger hin, als bei den Kommilitonen. Während ich am Zusammenschreiben war, bekamen sie schon ihre Bewerbungen zurück und verteilten sich im ganzen Bundesgebiet. Das kleine Häuflein meiner Freunde und Bekannten in der Universitätsstadt schrumpfte immer weiter und das stimmte mich missmutig.
Kaum meldete Tina, dass sie eine viel zu große Wohnung für wenig Geld irgendwo auf dem Land bezogen habe und dringend einen Beistand brauche, der ihr nicht nur die Leere des Wohnraumes, sondern auch das Nichts, das auf einen Studienabbruch folgt, möglichst anregend und zukunftsorientiert anfüllt, da packte ich umgehend meine Sachen zusammen und verpisste mich.
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